Nirvana. Michael Azerrad
Kiffer“, sagte Kurt. „Ich mochte ihn, weil er ein richtig depressiver Mensch war.“ Endlich bekam Kurt dann einen Freund so weit, mit ihm in den Wald zu fahren, um seine Gitarre zu holen, doch sie fanden nur mehr Bruchstücke – den Hals und ein paar elektronische Innereien. Kurt bastelte sorgfältig an einem neuen Korpus, aber er fand einfach nicht die richtigen Proportionen, damit sich die Gitarre stimmen ließ.
„Als ich viel jünger war, so etwa mit sieben, war ich besessen davon, ein Rockstar zu werden“, erzählte Kurt. „Es gab überhaupt kein Problem, denn ich war hyperaktiv und die Welt lag mir zu Füßen – ich konnte alles tun. Ich wusste, ich könnte Präsident werden, wenn ich nur wollte, aber das wäre dumm gewesen – ich wollte Rockstar werden. Es gab keinen Zweifel. Ich stand auf die Beatles, aber ich begriff weder meine Umwelt, noch was vor mir lag und welche Entfremdungen ich als Teenager erleben würde.“ „Aberdeen war für mich eine amerikanische Stadt wie alle anderen“, setzte Kurt fort. „Ich dachte, dass sie alle gleich wären – jeder lebte so vor sich hin, und es gäbe bei weitem nicht so viel Gewalt wie man sagte und alles wäre in Wahrheit ganz einfach. Ich dachte, die Vereinigten Staaten wären ungefähr so groß wie unser Hinterhof, also wäre es kein Problem, überall herumzufahren, in einer Rockband zu spielen und auf die Titelseiten der Magazine zu kommen.“
„Aber mit neun, als ich manisch depressiv wurde, sah plötzlich alles ganz anders aus. Alles wurde unwirklich.“
Im zehnten Jahrgang hatte Kurt alle Vorstellungen von Ruhm aufgegeben. „Ich war damals sehr eigenbrötlerisch und unsicher“, sagte er. „Ich hatte so wenig Selbstvertrauen, dass ich mir nichts mehr vorstellen konnte, was mit dem Leben eines Rockstars zusammenhing. Ich konnte mir keine Femsehshows, Interviews oder so vorstellen. Das kam mir nicht einmal in den Sinn.“
Kurts Vater hatte ihn in das Babe-Ruth-Baseballteam gesteckt. Kurt wärmte hauptsächlich die Bank, und immer, wenn er drankam, schied er mit Absicht aus, damit er mit dem Spiel nur ja nichts zu tun bekam. Auf der Bank unterhielt er sich mit einem Kerl namens Matt Lukin, vornehmlich über Kiss und Cheap Trick. Die beiden waren einander schon in Elektronik-Stunden in der Montesano Highschool begegnet. Lukin erinnert sich an Kurt als „den kleinen aufmüpfigen Jungen mit fettigen Haaren.“
Lukin spielte Bass bei einer lokalen Band namens Melvins, die Kurt schon einmal im Sommer vor dem neunten Jahrgang proben gesehen hatte. Kurts Freund Brendan kannte damals jemanden, der wiederum den Schlagzeuger der Melvins kannte, und so besorgten sie sich eine Einladung zu einer Probe der Melvins, die damals auf einem Dachboden stattfand. Die Melvins waren zu diesem Zeitpunkt noch keine Punkband, sondern spielten Coverversionen von Jimi Hendrix und den Who.
Kurt sah zum ersten Mal eine wirkliche Rockband aus der Nähe und war unheimlich begeistert. „Ich trank den ganzen Abend lang Wein und war stockbesoffen und abstoßend, und ich erinnere mich noch, dass ich den Melvins ungefähr eine Million Mal gratuliert hatte“, sagte Kurt. „Ich war so begeistert, dass Leute meines Alters in einer Band spielten. Es war großartig. Ich dachte: ,Wow, diese Jungs haben so ein Glück.’“ Die Melvins fanden den schmierigen kleinen Scheißer abstoßend und warfen ihn raus. Weil er so betrunken war, fiel er auch noch von der Dachbodenleiter.
Im Kunstunterricht der Montesano Highschool traf Kurt den Leader der Melvins, Buzz Osborne, wieder, er war stämmig und sah ziemlich wild und alt aus. Zu dieser Zeit war Osborne ein großer Fan der Who, aber er kratzte bald die Kurve zum Punkrock. Er besaß ein bebildertes Buch über die Sex Pistols, das er Kurt sogar lieh – und Kurt war fasziniert davon. Zum ersten Mal sah er mehr vom Punk als nur die kleinen Blitzer in Creem. „Da waren die Sex Pistols in ihrer ganzen Wildheit“, sagte Kurt, „und ich konnte alles über sie lesen. Das war wirklich cool.“ Sehr schnell begann er, das Logo der Pistols auf alle Schreibtische und seine Tasche zu zeichnen. Dann begann er jedem, der es hören wollte, zu erzählen, dass er eine Punkband gründen wollte und dass sie sehr bekannt werden würde – dabei hatte er immer noch keine Vorstellung davon, wie Punkrock wirklich klang.
„Mich beeindruckte, dass er so ein Freak war“, meinte Kurt über Osborne. „Ich wollte ihn unbedingt näher kennenlernen.“ Kurt bewunderte Osborne, weil er eine Punkband hatte, die manchmal sogar in Seattle und Olympia auftrat. „Und ich wollte zu diesem Zeitpunkt eigentlich nur genau das erreichen“, sagte Kurt. „Ich verband keine großen Erwartungen mit meiner Musik. Ich wollte einfach in Seattle vor einigen Leuten spielen. Der Gedanke an eine Band, die so erfolgreich war, dass sie auf Tour ging, war noch ziemlich weit weg.“
Bei den Melvins spielte noch ihr ursprünglicher Schlagzeuger Mike Dillard, der später durch Dale Crover ersetzt wurde. In ihrer ersten Punk-Phase spielten sie Hardcore mit Überlichtgeschwindigkeit. Später, als das jeder machte, spielten sie, so langsam es nur ging. Und um sich endgültig unmöglich zu machen, gaben sie noch einen Schuss Heavy Metal in die Mischung. Mit ihrem richtungweisenden Album Gluey Porch Treatments von 1987 legten die Melvins den Grundstein für das, was dann unter dem Namen „Grunge“ bekannt werden sollte – eine neue Mutation von Punkrock, in der sowohl Heavy Metal als auch der Proletarier-Hardrock der Siebziger von Bands wie Kiss und Aerosmith steckte. Dieser Sound revolutionierte die Musikszene von Seattle, die bis dahin von Art-Rock-Bands dominiert worden war.
Die Melvins hatten ihr erstes Konzert in Seattle schon hinter sich, als Kurt sie das erste Mal sah, und sie waren zusammen mit den U-Men, Soundgarden, Green River, Malfunkshun und Skin Yard auf der wild gemischten Deep Six Collection vertreten. Mit Ausnahme der Art-Rock-Band U-Men vermengten sie alle unterschiedliche Anteile von Punk, Siebziger-Hardrock und Heavy Metal zu einem ziemlich rohen, aber sehr wirkungsvollen Sound.
Manchmal half Kurt den Melvins, ihre Anlage zu einem Gig nach Seattle zu befördern. Aberdeen selbst hatte keine große musikalische Geschichte, obwohl die halbe Besetzung von Metal Church, der platingekrönten Speed-Metal-Band, aus der Stadt stammte. Eine Band, die in Seattle auftrat, war schon eine Menge wert.
Kurt war sehr unglücklich, weil er im Verwandtenkreis herumgeschubst wurde. Im Mai 1984 heiratete Wendy den Hafenarbeiter Pat O’Connor. Pat trank Unmengen, und Wendy hatte damit alle Hände voll zu tun – sie fühlte sich nicht in der Lage, es auch noch mit Kurt aufzunehmen, aber am Ende brachte er sie doch dazu, ihn zu sich zurückzunehmen. „Ich rief sie monatelang jeden Abend an und versuchte sie zu überreden, mich bei ihr wohnen zu lassen.“
Eines Abends ging Pat allein aus und kam erst um sieben Uhr morgens zurück, besoffen und, wie Wendy sagte: „Er stank nach einem Mädchen.“ Sie war vor Zorn außer sich, ging aber trotzdem zur Arbeit ins Kaufhaus. Dort machten sich einige Leute aus der Stadt lustig: „Hey, wo war Pat letzte Nacht?“, kicherten sie. Wendy wurde daraufhin so zornig, dass sie sich mit einer Freundin betrank, heimging und Pat eine Riesenszene machte. Beide Kinder sahen zu, als sie eine der Pistolen aus dem Schrank nahm und damit drohte, ihn zu erschießen – aber sie wusste nicht, wie man die Pistole lud. Dann nahm sie alle vorhandenen Schußwaffen und schleppte sie zusammen mit Kurts Schwester Kirn, die eine Tasche voller Munition zerrte, zum Wishkah River, wo sie alles versenkte.
Kurt beobachtete die Szene von seinem Schlafzimmerfenster aus. Noch am selben Tag heuerte ein paar Kinder an, damit sie so viel Waffen wie möglich aus dem Fluß holten, und verkaufte sie dann. Von dem Geld kaufte Kurt seinen ersten Verstärker. Dann fuhr er den Kerl, der ihm den Verstärker verkauft hatte, zu einem Pot-Dealer, wo dieser wiederum das ganze Geld für Pot ausgab.
Kurt drehte die Gitarre voll auf. Die Nachbarn beschwerten sich, und Wendy hinterließ auf der Decke einige Spuren mit dem Besenstiel. Das Schönste für Kurt war, wenn die Familie zum Einkäufen ging, denn das hieß, dass er loslegen konnte. „Wenn wir heimkamen, hofften wir immer, dass noch ein paar Fenster ganz waren“, sagte Wendy. Kurt versuchte seine Freunde dazu zu bringen, mit ihm zu spielen, aber keiner hatte auch nur im entferntesten musikalische Begabung. Er kehrte den Chef heraus und war sehr direkt in seiner Kritik. Er wusste genau, was er wollte.
Niemand bekam mit, dass er oben in seinem Zimmer auch sang. „Eines Tages“, sagt Wendy,„hörten wir ihn. Er sang sehr leise. Er wollte nicht, dass wir ihn hörten. Pat und ich hielten unsere Ohren an die Tür, schauten uns an, rümpften die Nase und sagten: „Es ist besser, wenn er bei der Gitarre bleibt.“