Nirvana. Michael Azerrad
mit Kieselsteinen und warf damit nach Polizeiautos – er traf aber nie wirklich eines.
Etwa um diese Zeit lernte Kurt auch irgendwie, wie man den Mittelfinger auf die vielgerühmte Art ausstreckt. Während seine Mutter in der Stadt herumfuhr, um Besorgungen zu machen, saß er auf der Rückbank und zeigte jedem, den sie überholten, den „Finger“.
In der zweiten Schulklasse fiel allen auf, wie gut Kurt zeichnen konnte. „Nach einer Weile hing es ihm zum Hals heraus“, sagte Wendy. „Er bekam immer nur Pinsel oder Staffeleien geschenkt. Wir ruinierten die Sache für ihn beinahe.“
Jedermann meinte, dass Kurts Zeichnungen und Gemälde großartig wären – außer ihm selbst. „Er war nie glücklich mit seinen Werken“, sagte Wendy. „Er war nie zufrieden damit, typisch für einen Künstler.“ Einmal – es war rund um Halloween – kam Kurt mit der Schulzeitung heim. Auf der Vorderseite war eine von seinen Zeichnungen abgedruckt, eine Ehre, die normalerweise erst Kindern ab der fünften Klasse zuteilwurde. Kurt aber war richtig erbost darüber, weil er sein Bild nicht für so gut hielt. „Seine Verhältnis zu den Erwachsenen änderte sich dadurch grundlegend“, sagte Wendy. „Alle beteuerten, wie sehr sie seine Werke liebten, aber er selbst war nie zufrieden.“
Bis zur dritten Klasse wollte Kurt Rockstar werden – er spielte Platten der Beatles und ahmte die Bewegungen dazu auf seiner kleinen Plastikgitarre nach. Dann wollte er ziemlich lange Stuntman werden. „Ich spielte gerne draußen, fing Schlangen, sprang mit meinem Fahrrad vom Dach“, erinnerte er sich. „Evel Knievel war mein großes Idol.“ Einmal holte er die gesamte Bettwäsche samt Polster und Matratzen aus dem Haus, legte sie auf und sprang vom Dach aus hinein; ein anderes Mal nahm er ein Stück Metall, befestigte es an seiner Brust, legte einige Knallkörper darauf und zündete sie an.
Manchmal besuchte Kurt Wendys Bruder Chuck, der in einer Band spielte. Chuck hatte Lautsprecher für sein Kellerstudio gebaut, die so groß waren, dass er sie nicht einmal aus dem Raum herausschaffen konnte. Er gab Kurt ein Mikrophon und ließ ein Band mitlaufen. Wendy besitzt noch eine Aufnahme, als Kurt etwa vier Jahre alt war. Zuerst singt er, und dann, als er glaubte, dass niemand zuhört, beginnt er schmutzige Worte zu sagen. „Poo-doo“, sagt er. „Poo-doo!“
Don und Wendy schenkten Kurt ein kleines Mickymaus-Schlagzeug. „Ich trieb ihn irgendwie zum Schlagzeug, weil ich selbst eigentlich Schlagzeugerin hatte werden wollen“, gestand Wendy ein. „Aber meine Mutter hielt es für außerordentlich unweiblich, also ließ sie mich nie spielen.“ Kurt musste man nicht treiben – sobald er aufrecht sitzen und Dinge halten konnte, schlug er auf Töpfe und Pfannen ein. Er drosch jeden Tag nach der Schule auf sein Mickymaus-Schlagzeug, bis es irgendwann kaputtging.
Obwohl es nicht gerade im besten Teil Aberdeens lag – in Wahrheit ist die Gegend ziemlich heruntergekommen –, war das Haus der Cobains immer das schönste des gesamten Blocks. Don hielt es in Top-Zustand, verlegte Spannteppiche, installierte einen Kamin mit Feuerimitation und montierte eine Decke mit Paneelen aus Holzimitation. Kurt über seine Erziehung: „Es war weiße Armut, die auf Mittelklasse machte.“
Wendy kam aus einer Familie, die man schwer als wohlhabend bezeichnen konnte, aber ihre Mutter hatte immer alles unternommen, um ihre Kinder so herzurichten, als besäßen sie mehr, als sie in Wahrheit hatten. Wendy war genauso. Jeden Tag kämmte sie Kurts Haar so sorgfältig, dass er aussah wie Shaun Cassidy, kümmerte sich darum, dass seine Zähne geputzt waren, und zog ihm die schönsten Sachen an, die sie sich nur leisten konnten. Dann machte sich Kurt mit seinen grobstolligen Wanderschuhen auf den Weg zur Schule. Sie zwang Kurt sogar dazu, einen Pullover anzuziehen, auf den er allergisch war – nur weil er ihm so gut stand. „Meine beiden Kinder waren wahrscheinlich die bestangezogenen in ganz Aberdeen“, sagte Wendy. „Dafür habe ich gesorgt.“
Wendy versuchte, ihre Kinder von dem fernzuhalten, was sie „gewisse Freunde mit gewissen Arten von Hintergrund, die in gewissen Situationen lebten“ nannte. Kurt meinte, dass sie ihm damit hauptsächlich vermitteln wollte, sich von armen Kindern fernzuhalten. „Meine Mutter war der Meinung, dass ich besser war als diese Kinder, also legte ich mich immer wieder mit ihnen an – diesen schäbigen, schmutzigen Kindern“, sagt Kurt. „Ich erinnere mich zum Beispiel, dass es einige gab, die andauernd nach Pisse stanken, und die tyrannisierte ich und schlug mich mit ihnen. Als ich in der vierten Klasse war, bemerkte ich, dass diese Kinder wohl cooler waren als die aus einer höheren Schicht, irgendwie ursprünglicher, mit beiden Füßen auf der Erde, näher beim Schmutz.“ Später wurden Kurts ungewaschene Haare, die ewigen Bartstoppeln und seine abgerissene Kleidung zu weltberühmten Markenzeichen.
Während der dritten Klasse begann Kurt, Schlagzeugstunden zu nehmen. „Solange ich denken kann, sogar schon als kleines Kind“, sagte Kurt, „wollte ich Ringo Starr sein. Aber eigentlich wollte ich John Lennon am Schlagzeug sein.“ Kurt spielte in der Schul-Band, obwohl er nie Notenlesen gelernt hatte – er wartete einfach, bis das Kind, das vor ihm saß, das Lied gelernt hatte, und machte ihm dann alles nach.
Um die Weihnachtszeit des Jahres 1974 – Kurt war sieben – schien es ihm, als würde ihn seine Mutter für ein Problemkind halten. „Das Einzige, was ich mir in diesem Jahr wirklich wünschte, war eine Starsky-and-Hutch-Pistole um fünf Dollar“, erzählte Kurt. „Statt dessen bekam ich nur einen Haufen Kohle.“
Kurt sagte, dass er von Natur aus beidhändig gewesen war, aber sein Vater hätte versucht, ihn zum Rechtshänder zu erziehen, aus Angst, dass Kurt in seinem späteren Leben als Linkshänder Probleme bekommen könnte. Wie auch immer, er wurde zum Linkshänder.
Während seines ganzen Lebens wurde Kurt andauernd von den verschiedensten gesundheitlichen Problemen verfolgt. Außer an seiner Hyperaktivität litt er an chronischer Bronchitis. In der achten Klasse wurde bei ihm eine leichte Skoliose – eine Verkrümmung der Wirbelsäule – diagnostiziert. Mit fortschreitender Zeit verschlimmerte sich diese Sache durch das Gewicht der Gitarre. Wäre er Rechtshänder gewesen, hätte sich das Problem von selbst behoben.
1975, als Kurt acht Jahre alt war, ließen sich seine Eltern scheiden. Wendy gibt als Grund von ihrer Seite an, dass Don einfach nicht genug da gewesen wäre – er war immer irgendwo, um Baseball oder Basketball zu spielen, Teams zu betreuen oder zu schiedsrichtern. Im Rückblick ist sie sich nicht sicher, ob sie ihn jemals wirklich geliebt hatte. Don kämpfte lange gegen die Scheidung. Sowohl Wendy als auch Don geben zu, dass die Kinder später in den Krieg zwischen ihren Eltern hineingezogen wurden. Für Kurt waren die Scheidung und ihre Nachwehen sehr schlimm. „Sein Leben wurde zerstört“, sagte Wendy. „Er änderte sich total. Ich glaube, er schämte sich. Und er wurde sehr introvertiert – er behielt alles für sich. Er wurde richtig scheu.“
„Ich glaube, er leidet noch immer“ fügte sie hinzu. Das früher sonnige, offenherzige Kind wurde „richtiggehend mürrisch, irgendwie verrückt, andauernd finster und sehr spöttisch.“ An die Wand seines Schlafzimmers schrieb Kurt: „Ich hasse Mom, ich hasse Dad, Dad hasst Mom, Mom hasst Dad – das muss einen einfach traurig machen.“ Ein Stück oberhalb zeichnete er Karikaturen von Wendy und Don und schrieb dazu die Worte „Dad sucks“ und „Mom sucks“. Damnter malte er ein Gehirn mit einem großen Fragezeichen. Die Zeichnungen sind noch immer auf der Wand, genauso wie einige raffinierte Led-Zeppelin- und Iron-Maiden-Logos, die auch von Kurt stammen (er bestritt, sie gemacht zu haben, aber Schwestern lügen nicht).
Kurt erging es wie vielen Kindern seiner Generation – Tatsache ist, dass jeder, der irgendwann einmal bei Nirvana spielte (mit einer Ausnahme) aus einer zerrütteten Familie kam. Die Scheidungsrate schoss Mitte der Siebziger Jahre in die Höhe, sie war mehr als doppelt so hoch wie zehn Jahre zuvor. Die Kinder aus diesen zerbrochenen Ehen hatten weder einen Weltkrieg noch eine Depression, in denen sie sich behaupten hätten müssen. Sie hatten keine Familie. Folgerichtig waren ihre Kriege privater Natur.
Kurt beschrieb die Situation, als wäre in ihm ein Licht ausgegangen, ein Licht, das er noch immer wiederzufinden versuchte. „Ganz plötzlich war ich nicht mehr derselbe Mensch, als wäre mir meine Ehre genommen worden“, sagte er. „Ich glaube, ich hatte das Gefühl, die Gesellschaft der anderen Kinder nicht mehr zu verdienen, denn sie hatten Eltern, und ich hatte keine mehr.“
„Ich