ICH. Ricky Martin

ICH - Ricky  Martin


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immer gehofft, dass ich Arzt werden würde. Doch leider konnte ich ihr diesen Wunsch nicht erfüllen. Von dem Augenblick an, in dem ich mich entschieden hatte, was ich aus meinem Leben machen wollte, arbeitete ich unermüdlich daran, mir diesen Traum zu erfüllen. Doch ich frage mich immer wieder, was aus mir geworden wäre, wenn ich den Rat meiner Großmutter befolgt oder irgendeine andere Laufbahn eingeschlagen hätte. Als ich achtzehn war, sprach ich bei der Tisch School der New York University vor, einer der renommiertesten Schauspielschulen des Landes. Doch nur wenige Monate vor Semesterbeginn ging ich, statt mich einzuschreiben, nach Mexiko, um ein paar Freunde zu treffen. Und dort landete ich im wahrsten Sinne des Wortes – denn es war der reinste Zufall – beim Theater.

      Welche Richtung hätte mein Leben genommen, wenn ich tatsächlich auf die New York University gegangen und statt mit der Musik mit der Schauspielerei erfolgreich gewesen wäre? Mein Leben hätte zweifellos einen anderen Verlauf genommen. Aber ich weiß, dass ich, egal ob als Schauspieler, Musiker oder Tänzer, in jedem Fall einen Weg gewählt hätte, der mich beglückt und erfüllt. Was du tust, ist gar nicht so wichtig. Wichtig ist, dass du deine Sache liebst und sie so gut machst, wie du kannst.

      Leidenschaft ist ein wesentlicher Aspekt meines Lebens. Ich betrachte mich als realistischen Träumer, und mein Leben ist voller starker Emotionen. Ich lebe und fühle sehr intensiv. Manche Menschen finden es vielleicht nicht richtig, das Leben mit solcher Leidenschaft zu leben. Doch von meiner frühesten Kindheit an trieb mich eben diese Leidenschaft dazu, den außergewöhnlichen Weg einzuschlagen, der mein Leben ist. Ich sehe also keinen Grund, die Leidenschaft aus meinem Leben zu verbannen. Wäre ich in jungen Jahren nicht meinem Instinkt gefolgt, wäre ich wahrscheinlich nie dorthin gekommen, wo ich heute bin. Für mich ist das Schöne an der Kindheit unter anderem, dass es eine Zeit der Extreme ist: Wenn wir glücklich sind, ist das Glück absolut, und wenn wir traurig sind, bringt uns der Schmerz fast um. Kinder leben sehr intensiv, aber zugleich auch völlig rein und authentisch. Später lernen wir, allzu heftige Emotionen unter Kontrolle zu halten. Und obschon auch ich wohl oder übel bis zu einem gewissen Grad erwachsen werden musste, habe ich mich doch stets bemüht, in Kontakt mit meinem inneren Kind zu bleiben – jenem leidenschaftlichen, lebhaften und glücklichen Kind, das sich vor nichts fürchtet.

      Großmutter

      Meine Eltern ließen sich scheiden, als ich zwei Jahre alt war. Logischerweise kann ich mich an nichts von alldem, was sich zu dieser Zeit in meinem Leben ereignete, erinnern. Aber ich weiß, dass ich von da an viel Zeit mit meinen Großeltern – sowohl mütterlicherseits als auch väterlicherseits – verbrachte. Meine Großeltern spielten eine wichtige Rolle in meinem Leben. Ich weiß nicht, ob es kulturell bedingt oder einfach nur eine spirituelle Sache ist, doch meine Beziehung zu ihnen bedeutete und bedeutet mir immer noch sehr viel. Niemals werde ich vergessen, was sie mir beigebracht haben. Und ich möchte all das auch an meine Söhne weitergeben.

      Meine Großmutter väterlicherseits war eine intelligente, unabhängige und selbstbewusste Frau. Sie war ihrer Zeit weit voraus und befasste sich mit Metaphysik, lange bevor dies in Mode kam. Außerdem war sie Künstlerin: Sie malte und bildhauerte. Ich erinnere mich, dass sie immer beschäftigt war und sich für tausend Dinge interessierte. Die Vorstellung, einfach einmal nichts zu tun, war ihr völlig fremd. Immer hatte sie irgendein Projekt. Ihre Mutter – also meine Urgroßmutter – war Lehrerin, und so ist meine Großmutter praktisch im Klassenzimmer aufgewachsen, wo sie den Vorträgen ihrer Mutter lauschte. Mit vierzehn Jahren machte sie ihren High-School-Abschluss. Sie hat sogar zwei Bücher geschrieben und wurde Seniorprofessorin an der Universität von Puerto Rico. Man bedenke: Wir sprechen hier über eine Zeit, in der die Gesellschaft den meisten Frauen nichts anderes zugestand, als Hausfrau und Mutter zu werden. Meine Großmutter war eine bewundernswerte und mutige Frau. Eine Frau mit Visionen. Deshalb beschloss sie eines Tages, ihre Koffer zu packen und nach Boston zu ziehen, um Erziehungswissenschaft zu studieren. In dieser Zeit etwas sehr Ungewöhnliches! Doch sie zog nach Boston und blieb dort, bis sie ihren Abschluss in der Tasche hatte.

      Vor Kurzem hatte ich Gelegenheit, mit Sonia Sotomayor, der ersten lateinamerikanischen Richterin am Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten, zu speisen. Als ich ihr von der Karriere meiner Großmutter erzählte, staunte sie nicht schlecht. »Eine Latina, die in den Vierzigerjahren in Boston studierte!«, rief sie aus. »Ihre Großmutter muss eine starke Frau gewesen sein.« Natürlich war ich unheimlich stolz. Schließlich hatte sie Recht: Meine Großmutter war zweifellos eine außergewöhnliche Frau.

      Sie ist in Puerto Rico geboren, doch ihre Familie stammt ursprünglich aus Korsika. Wir Korsen sind berühmt für unsere Sturheit, und meine Großmutter bildete in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Sie war eine willensstarke und unerschrockene Frau. So merkte sie beispielsweise nach über fünfzig Ehejahren, dass in ihrem Leben etwas fehlte. Deshalb stand sie eines Tages auf und sagte zu meinem Großvater: »Weißt du was? Ich möchte, dass wir uns scheiden lassen.« Damals heiratete man normalerweise fürs Leben, »bis der Tod uns scheidet« – anders als heute, wo sich die Leute aus allen möglichen Gründen scheiden lassen. Meine Großmutter scherte sich jedoch nicht darum, was andere Leute sagten oder dachten. Sie war nicht glücklich und beschloss, etwas dagegen zu tun. Und so ließen sich meine Großeltern scheiden. Von da an besuchte mein Großvater sie jeden Tag. Die neuen häuslichen Vereinbarungen blieben davon jedoch unberührt: Sie lebte in ihrem Haus und er in seinem.

      Meine Großmutter ist vor über zehn Jahren gestorben, nach einem langen, bis ins hohe Alter erfüllten Leben. Ich bin sehr dankbar dafür, dass sie lange genug gelebt hat, um meinen Erfolg mitzubekommen und an ihm teilzuhaben. Einmal ist sie sogar extra nach New York geflogen, um mich am Broadway bei Les Misérables spielen zu sehen. Und dabei flog sie alles andere als gern! Sie erzählte mir einmal, dass sie furchtbare Angst vorm Fliegen habe, und zwar seit dem Tag, als sie nach Abschluss ihres Studiums in Boston nach Puerto Rico zurückflog. Während des Fluges gab es offenbar einen Gewittersturm, und das Flugzeug wurde heftig durchgeschüttelt. Sie hat geschworen, von diesem Tag an nie wieder in ein Flugzeug zu steigen! Und dabei blieb sie auch. Sie reiste nur noch per Schiff, und jener Flug nach New York war die einzige Ausnahme.

      Es macht mich traurig, dass ich sie in ihren letzten Lebensjahren nicht öfters sehen konnte. Ich war immer beschäftigt, immer unterwegs und in Eile, und hatte nie Zeit für die wirklich wichtigen Dinge. Zwar habe ich zwischendurch immer mal wieder eine Stippvisite bei ihr gemacht, doch ich konnte nie für mehrere Tage oder Wochen bei ihr bleiben, so wie in meiner Kindheit. Ich erinnere mich, wie ich sie einmal in Begleitung einer Polizeieskorte besuchte. Als ich mit der Sicherheitseinheit an ihrem Haus ankam, rief ich: »Oma, ich komme dich besuchen!«

      »O mein Junge!«, sagte sie. »Wie schön!«

      Aber ich musste mich sogleich korrigieren: »Ich komme dich besuchen, Oma, aber ich kann nicht lange bleiben. Ich muss bald wieder gehen.« Wie stets gab sie mir in keiner Weise das Gefühl, wegen meines frühzeitigen Aufbruchs ein schlechtes Gewissen haben zu müssen. Sie bedankte sich für meinen Besuch und umarmte mich herzlich.

      »Okay«, sagte sie, »es war wirklich schön, dich zu sehen. Musst mehr essen, Junge, du bist zu dünn.«

      So war sie, meine Großmutter.

      Ein anderes Mal, als ich geschäftlich in Puerto Rico unterwegs war, ließ ich einen Hubschrauber auf dem Baseballfeld ihres Wohnviertels landen, um sie zu sehen. Es war die einzige Möglichkeit für mich, denn ich hatte partout keine Zeit. Während wir quer über die Insel flogen, sagte ich plötzlich zum Piloten: »Ich muss meine Großmutter sehen. Landen Sie auf dem Baseballfeld da unten!«

      Und so konnte ich wieder einmal ein paar Minuten mit ihr verbringen.

      Großmütter sind etwas ganz Besonderes. Noch heute ist mir all das, was sie mir beigebracht hat, von großem Nutzen. Eine der schönsten Erinnerungen an meine Großmutter ist die, wie wir beide dasitzen und ich meine Hausaufgaben mache, während sie malt oder an einem ihrer Projekte arbeitet. Oft denke ich an ihre klugen Worte und Ratschläge, und es kommt mir vor, als würde ich meine Großmutter in gewisser Weise in mir tragen. Es ist solch ein Segen, sie so nahe zu spüren.

      Es bereitet mir Kummer, dass meine Kinder ihre Urgroßmutter nicht mehr kennengelernt haben. Es gibt so vieles, was meine Kinder über sie wissen sollten. Doch so viel


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