Bunsenstraße Nr. 3. Dietmar Schmeiser
fahler, aß nichts mehr und verlor immer mehr seine Schönheit. Vater Valentin wurde von Tag zu Tag unruhiger. Ich male mir aus, wie er in seiner Schlafkammer sich nachts im Bett wälzte und aufhorchte, wenn es in Töchterleins Zimmer schluchzte. Helena, meine Ururgroßmutter, hat vielleicht auf ihn eingeredet und auf Abhilfe gesonnen. Aber was sollte man hier für Vorschläge machen? Partout wollte Pauline keinen anderen, wo es doch so fesche Burschen in Sickingen gab, die aus passendem Haus stammten und Pauline ein schönes Heim hätten bieten können.
Die Wochen verstrichen, der Winter kam ins Land, und Pauline war immer noch untröstlich.
Das hält auf die Dauer kein Vater durch, auch wenn er noch so sehr glaubt, für sein Töchterlein gäbe es Besseres. Sicher wird in einer der langen Winternächte in meinen Ururgroßeltern der Entschluss gereift sein: Wenn Pauline wieder glücklich werden sollte, müssen wir sie nach Amerika gehen lassen. Ein Gedanke, den sie vor wenigen Monaten hatten kaum zu denken gewagt. Ein Kind, das nach Amerika gegangen war, sah man in jenen Zeiten nicht mehr.
Meine Geschichte ist aber noch nicht zu Ende. Gewiss hat es wieder viele Tränen gegeben. Jetzt waren die Eltern am Weinen. Das Kind musste mit dem Nötigsten für die Reise versorgt werden. Eine Geldbörse durfte nicht fehlen. Ein letztes Brot aus der Heimat wurde mitgegeben, und das Mädchen folgte, kaum war es Frühjahr geworden, den Spuren ihres Geliebten.
Ich stelle mir Karl Adolph in New York vor, wie er sehnsüchtig auf das Meer hinausschaute, Abend für Abend und Morgen für Morgen, wann endlich der Segler aus Rotterdam am Horizont erscheine. Es kamen viele Segelschiffe zu jener Zeit nach New York, und es kam auch das Schiff mit seiner Verlobten. Wieder lange Tage der Sehnsucht, Quarantäne auf Ellis Island, Bürokratie, und endlich machte das voll Ungeduld erwartete Boot an der Kaimauer fest: PAULINE.
Was die zwei wohl als Erstes machten? Sie gingen zur Kirche und heirateten. Ich gehe davon aus, dass Karl Adolph schon alles vorbereitet hatte, während seine Braut noch auf der beschwerlichen Reise über den Ozean war. Leider wissen wir überhaupt nichts von ihrer Hochzeit. Fest steht, dass sie am 19. Juli 1884 in New York stattfand.
Karl Adolph war kein rechter Auswanderer. Dergleichen will in der Neuen Welt ein anderes Leben führen als zu Hause. Mein Urgroßvater war nur aus Verzweiflung von Sickingen weggelaufen. Ohne seine Pauline hätte er dort nicht mehr leben wollen. Und bei Pauline war es wohl ebenso. Ohne ihren Karl Adolph war Sickingen nicht mehr ihre Heimat; dann lieber in der Fremde leben als ohne den Geliebten.
Jetzt nach der Vermählung war alles anders geworden. Die Neue Welt brauchten sie nicht mehr für ihr Glück. Ihr Ziel
hatten sie erreicht. Niemand konnte sie mehr trennen. Auch
in Sickingen nicht!
In solch einer Konstellation kommt leicht Heimweh auf. In Sickingen muss doch alles schöner gewesen sein als in dieser fremden Welt. Und wenn das Heimweh erst mal den einen befallen hat, steckt es den anderen an. Heimweh nagt. Heimweh ist eine tückische Krankheit. Sie breitet sich schleichend aus, besonders an den Tagen, an denen man keinen Erfolg hat, wenn man krank ist oder vielleicht nur die Winterabende allzu lang werden, es kalt wird – und in New York kann es sehr kalt werden und viel Schnee fallen. Dann muss man nur noch daran denken, wie in Sickingen Weihnacht gefeiert wird, wie man in der Christmette singt und wie die Gutsel schmecken. Zudem, aus Deutschland hörte man, wie es dort wirtschaftlich aufwärts ging. Da könnte man doch auch sein Glück machen.
Ein Jahr blieben die beiden in Amerika. Im Sommer 1885 waren sie wieder auf einem Segler, warfen einen letzten Blick auf New York, und sie hofften wohl, die Reise gut zu überstehen. Das galt besonders für Pauline. Sie war schwanger. Zwillinge wurden auf dem Segler tot geboren und erhielten ein nasses Grab.
Wir ahnen es. In der Heimat konnten sie dann doch glückliche Eltern werden. Sonst hätte ich diese Erzählungen nicht schreiben können.
Mein ist die Rache, spricht der Herr
Noch war ich keine fünf Jahre alt geworden, da sollten mein Bruder Edwin und ich zum Kinderarzt. Kinderarzt, das hörte sich freundlich an und, wenn man noch nie dort gewesen war, durfte man auch das Beste annehmen.
Es war ein schöner Spätsommertag, als der Arztbesuch stattfinden sollte. Ungewöhnlich war die Vorbereitung. Wir wurden zuvor gewaschen, obwohl wir doch schon am Morgen diese Tortur hatten über uns ergehen lassen. Egal, ob wir Tante Anna in der Sophien- oder Onkel Hermann in der Rüppurrer Straße besuchten, so gründlich gewaschen wurden wir untertags nie, sieht man vom Bad am Samstagnachmittag ab.
Weit war der Weg auch nicht. Die Weinbrennerstraße mit ihren alten Vorgärten trippelten wir entlang, und am Kopfende des Rosengärtchens, wie bei uns der kleine Park am Weinbrennerplatz hieß, wohnte auch schon der Onkel Doktor. Offensichtlich ein weiterer Onkel, den wir noch nicht kannten.
Im Erdgeschoss eines stattlichen, vierstöckigen Hauses klingelte meine Mutter, und schon kam eine ganz in Weiß gekleidete Frau an die Tür, die, ohne groß zu fragen, uns in ein Zimmer brachte, in dem wir warten sollten. Es tat sich einige Zeit gar nichts. Manches erschien mir hier merkwürdig. Sicher, Mutter war schon öfters mit uns zu Leuten gegangen, die mir fremd waren. Ein Besuch bei neuen Tanten und Onkels war immer spannend. Hier allerdings kam Unruhe auf. Hatte das etwas mit Mutter zu tun?
Eine Tür öffnete sich. Mutter wurde von einem Herrn begrüßt, der offensichtlich auch die weiße Farbe so auffällig schätzte. Auch uns grüßte der neue Onkel und erkundigte sich ausgesprochen freundlich nach unseren Namen. Es gab keinen Grund, ihm diese nicht zu nennen. Mutter wurde Unverständliches gefragt, worauf sie geflissentlich antwortete. Die Atmosphäre, daran erinnere ich mich noch genau, wurde immer seltsamer. Völlig befremdlich wurde mir allerdings dann die Angelegenheit, als der Herr anfing, mich zu befingern und mir die Hose herunterzuziehen. Da stand ich nun mit nacktem Po. Freundlich lächelnd ergriff er einen Gegenstand aus Silber und Glas, der auf einem kleinen, gläsernen Tisch gelegen hatte. Er hielt diesen merkwürdigen Gegenstand gegen das Licht, und ich gewahrte zu meinem großen Schrecken am Ende desselben eine spitze Nadel. Ich durchschaute die freundliche Hinterlist, als mich der neue Onkel über sein Knie legte und offensichtlich mit Lust und in böser Absicht mir mit dieser Nadel in meinen Hintern stach. Ich schrie auf und mein Bruder mit mir. Ob ich mir noch etwas vom deutschen Jungen anhören musste, der nicht wehleidig sei, weiß ich nicht mehr.
Das Schlimmste kam aber sogleich. Noch heute bin ich mir sicher, dass ich das nun Folgende als erheblich bösartiger empfand als diesen vorhergegangenen hinterlistigen Stich.
Meine Mutter zog mir wieder meine Hose an, und jetzt wurde mein kleiner Bruder ergriffen. Mit ohnmächtiger Wut musste ich zusehen, wie meinem doch so kleinen Bruder ebenfalls die Hose heruntergezogen wurde. Dieser ahnte, was ihm blühte, und er schrie aus Leibeskräften. Ich konnte ihm nicht helfen. Zu groß war die Übermacht, zumal jetzt auch noch die weiße Frau hinzukam. Es ist besonders gemein, wenn sich so viele Große über den Kleinsten hermachen. Ich wurde zurückgehalten, und ich schwor mir, wenn ich groß bin, werde ich jedes Unrecht rächen.
An die Rolle meiner Mutter in der Szene erinnere ich mich nicht mehr. Ich weiß nur noch, dass es hieß, wir müssten noch zweimal kommen. Ich habe gebrüllt: „Wir kommen nie wieder!“
Schnell waren wir im Treppenhaus und durch den Vorgarten gegangen. Mir blieb nur noch das heimliche Gebet zum Himmel um Rache.
Was nun kommt, mag ein schlechtes Licht auf meinen vierjährigen Charakter werfen. Wenige Tage nach unserem Besuch hatte die Royal Air Force das Haus dieses bösen Onkels bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Lustvoll schaute ich auf die noch rauchende Ruine.
Die Brezel
In den Kindergarten bin ich nicht gerne gegangen. Vielleicht war ich noch zu jung. Als Kleinster fühlte ich mich unterlegen und eingeschränkt. Es waren schrecklich viele Kinder dort. Über allen dominierte eine Nonne. Eine Vincentinerin mit einer riesenhaften Haube, wie man sie heute nicht mehr zu sehen bekommt. Ihr zur Seite standen zwei oder drei Tanten. Das ist nicht ironisch gemeint. Wir hatten diese Fräuleins so zu nennen. Der Nonne untergeordnet waren diese haubenlosen Wesen, denen wiederum ich unterstand. Genauer betrachtet, gab es noch eine Zwischenschicht zwischen den Tanten und mir. Das waren die großen Mädchen.