Bunsenstraße Nr. 3. Dietmar Schmeiser
das geboten hatte, was eine Stadt im Kriege zu bieten hat, eben so einen Tag der Wehrmacht, ein Vergnügen, das nichts kostete.
Wehrmacht? Hatte diese Wehrmacht ihr nicht schon zu viel geboten? Ihr den Mann aus dem jungen Haus genommen und in ein unwirtliches Land geschickt? Dort sollte er uns vor einem gewissen Iwan schützen, wer der auch immer sein mag. Nein, der Vater kam ebenso seiner Pflicht nach, wie sie es jetzt tat. Wir hatten uns daran gewöhnt, in einem Land zu leben ohne Väter. Die hatte der Krieg in Viehwaggons an die Front gefahren. Wo die auch immer sein mag. Auf jeden Fall, die Väter waren weg. Ein paar Alte waren noch da und ein paar Braune, die waren unabkömmlich. Und eben noch diese beiden Clowns, welche unentwegt schrien und Dinge machten, deren Sinn ich nicht verstand. Ein Clown verlor bei der unentwegten Raserei das Vorderrad seines Gefährtes. Alle schrien auf. Den Clown schien das wenig zu stören. Er fuhr mit einem Rad weiter. Alle lachten. Mich dauerte er. Mein Bruder reagierte auch nicht. Zu lachen hatten anscheinend nur die Großen – außer unserer Mutter.
An den Fahrrädern der Clowns ging noch vieles kaputt. Ich bedauerte die zwei immer mehr. Die Großen lachten weiter. Warum eigentlich? Weil die Clowns Pech hatten? Weil denen alles kaputtging? Wo doch sowieso so viel kaputtging. Wie viele Häuser waren schon in Schutt und Asche gegangen! Dabei haben die Großen nicht gelacht. Geheult und geschrien haben sie. Ich habe nicht geweint. Ich habe zugesehen, als die Hausbewohner in der Eisenlohrstraße vor einem rauchenden Trümmerhaufen standen, am helllichten Tag, und heulten. Ich habe nur geguckt und mich gewundert, wie das Dach des Hauses fast unbeschädigt auf einem Schuttberg lag, dem Rest von drei Stockwerken, und es hatte nach verbrannten Lumpen und Leuchtgas gerochen.
Irgendwann gab es dann über die Clowns nichts mehr zu lachen. Die Leute klatschten und verliefen sich.
Da gab es noch eine Gulaschkanone, aus der Erbsensuppe geschöpft wurde. So schmeckt der Krieg.
Dann knallte es noch. Zum Militär gehört das Schießen. Da war ein Stand aufgebaut, von einer Absperrung aus Holzbalken umgeben. Schießen ist gefährlich! An einem Kopfende des Schießstandes standen zwei Soldaten mit einem Gewehr und allerhand Volk um sie herum. Jeder, der wollte, durfte schießen. Die Soldaten öffneten das Schloss am Gewehr, gaben eine Kugel hinein und der Schütze lehnte sich auf einen Balken, zielte, und schon krachte es. Das Ziel war vorgegeben. Am anderen Ende des Schießstandes war ein fetter Blechmann aufgebaut, auf den galt es zu schießen. Rums, da fiel schon wieder ein Schuss. Edwin und ich schreckten nur ein wenig zusammen. Von den vielen Luftangriffen, die wir überlebt hatten, waren wir gestählt. Der fette Mann, auf den es zu schießen galt, sah gemein aus. Er rauchte eine dicke Zigarre, sein Bauch quoll aus Hose und Weste. Wer mochte wohl dieser Blechmensch sein, der schon einige Einschusslöcher hatte?
Das ist der Churchill, wurde uns erklärt. Das sei der böse Mann, der Deutschland den Krieg erklärt habe und jetzt die vielen Bomben auf unsere Stadt abwerfen ließe. Wer wollte hier zurückstehen und ihm nicht eine aufs Fell brennen?
Da waren etliche, die es versuchten. Es krachte ganz schön. Neue Löcher hat der Kerl aber keine bekommen. Das bemerkte ich schon. Mutter erklärte, dass hier nur mit Platzpatronen auf Churchill geschossen werde. Alles andere sei zu gefährlich. Mit richtigen Patronen schieße man an der Front. Offensichtlich war der Churchill dort nicht, schloss ich in meinem kindlichen Gemüt. Sonst hätte man ihn längst erschossen, und er könnte keine Bomben mehr auf uns werfen, und die Leute in der Eisenlohrstraße und der Nuber hätten ihren Frieden gehabt.
Ich habe eine natürliche Begabung, mich vorzudrängen, was mir beim Schlangestehen vor den Geschäften zugute kam. So stand ich bald neben dem Soldaten, der die Schießinstruktionen erteilte und einem die Flinte in die Hand drückte. Es galt, den Kolben gegen die Schulter zu drücken, den Kopf etwas über den Kolben zu beugen und sich mit den Ellbogen abzustützen. Für mich war der Schießprügel zu groß, zu schwer. Außerdem, beim Abfeuern gab es einen ganz schönen Schlag gegen die Schulter. Das hatte ich beobachtet. Ich hätte es doch besser nicht versuchen sollen. Mich jetzt aber zu drücken, wäre ein schlechtes Beispiel für meinen kleinen Bruder gewesen. Schließlich war kein Vater mehr da, weshalb ich der Tapfere sein musste. Auch Mutter wünschte und brauchte einen braven Jungen. Feig durfte ich nicht sein! Und schon gar nicht heute, wo es galt, dem Churchill zu zeigen, wer wir waren.
Der Soldat ahnte meine Ängste. Dennoch hatte er schnell für mich die Knarre geladen und mir diese in die Hand gedrückt. Geladen schien sie mir noch schwerer. Hätte ich nicht den Lauf auf den Balken gelegt, ich wäre samt der Flinte umgefallen. „So triffst Du den Churchill nicht“, meinte der Soldat und half mir, das Gewehr auszurichten. So wurde ich ein richtiger, kleiner Soldat. Jetzt galt es, den Hahn abzuziehen. Der Soldat lehnte sich über mich und unterwies mich auch hierzu. Gleich würde es fürchterlich krachen und ich bekäme einen heftigen Schlag gegen meine rechte Schulter. Ich zauderte. In solchen Momenten beginnen die Gedanken zu rasen. Immerhin sollte ich auf einen Menschen schießen, auch wenn der nur aus Blech war und der böse Churchill ohnehin.
Ich habe nicht geschossen. Ich war ein Feigling, und wir haben den Krieg verloren.
Still schweigt Kummer und Harm
Nach vielen Monaten der Hoffnung und des Leides war unser dreiunddreißigjähriger Vater im Heimatlazarett an den Folgen einer russischen Maschinengewehrgarbe gestorben. Unsere allsonntäglichen Fahrten mit der Eisenbahn in die Klinik nach Wiesloch bei Heidelberg waren zu Ende. Der Sommer und der Herbst vergingen schweigsam. Der große Weltatlas war weggeräumt worden, der bislang aufgeschlagen auf Vaters Schreibtisch lag. Es war die Karte von Russland zu sehen gewesen. Mit buntköpfigen Nadeln waren die Aufenthaltsorte unseres Vaters nach jedem Feldpostbrief von Mutter gekennzeichnet worden.
Es war kalt und klamm in unserer Wohnung geworden. Drei Zimmer waren beschlagnahmt, Ausgebombte waren eingewiesen, das Möbel zusammengestellt oder in die Mansarde gebracht worden. Die Einrichtung unseres Esszimmers hatte Mutter schweren Herzens verkauft. Die Hoffnung auf bessere Zeiten waren begraben.
Der Spätherbst ging zu Ende.
Jeden Abend brannte jetzt über dem Wohnzimmertisch eine einsame Glühbirne unter einem großen Schirm schwach vor sich hin. Die Kohlen reichten nur noch, einen einzigen Ofen zu beheizen. Man muss es erlebt haben, diese Mischung von Frieren und glühenden Ohren in der Nähe des Ofens, um nachvollziehen zu können, was ich beschreiben möchte. Noch war es nicht so kalt geworden, dass im Schlafzimmer an den Fenstern die Eisblumen wuchsen. Wenn aber in der Küche der Kohlenherd entzündet worden war, lief das Wasser in dicken Tropfen an den mit Ölfarbe gestrichenen Außenwänden herab. So kam der letzte Advent im großen Krieg.
Mutter in Schwarz. Viele junge Frauen in unserer Straße trugen jetzt Schwarz. Mutter hatte oft eine schreckliche Ahnung vom Tod ihres Mannes gehabt. Als ihm das Eiserne Kreuz verliehen worden war, meinte sie, zu ihrer Schwiegermutter gewandt, wenn daraus nur kein hölzernes wird. Jetzt war ein hölzernes daraus geworden. Was nutzten uns noch alle seine Orden und Ehrenzeichen.
Advent? Die Hoffnung auf das Göttliche und dessen Verwirklichung und Vollendung durch den Menschen, wo doch fast täglich der Feuerregen auf die verbliebenen Kinder und Mütter herabfiel. Mutter hielt durch mit ihren letzten Kräften. Ein Stück Hoffnung sollte für die Kinder bleiben!
Trotz all des Augenscheinlichen muss es noch mehr Menschen gegeben haben, die in ihrer Tiefe einen Funken dieser Hoffnung hatten bewahren können. Auf dem Markt am Gutenbergplatz gab es noch Adventskränze zu kaufen. Kleine Kränze, die zu Hause geziert wurden mit einem roten Band, aufgebügelt, vom letzten Jahr, vier roten Kerzen und einigen kleinen Fliegenpilzen aus Pappmaschée.
Und es wurde das erste Licht am Adventskranz angezündet, der nun in der Mitte des Esstisches lag. Edwin und ich reichten mit den Armen gerade auf den Tisch. Mutter saß auf der anderen Seite. Früher hatte Mutter Zither gespielt. Wir haben sie nie mehr gehört. Stattdessen wurde gesungen. Mutter zunächst mit fester Stimme. Edwin und ich etwas hinterher. Wir kannten den Text nur bruchstückhaft. Adventslieder singt man nicht das ganze Jahr. Die schwermütige Melodie hingegen habe ich nie vergessen. Sie löst heute noch bei mir die Gefühle von damals aus. Der Gesang der Mutter vom leise rieselnden Schnee und vom weihnachtlich glänzenden Wald wurde schnell schwächer, bis er endgültig in ihren Tränen unterging. Ob das Christkind so bald kommen wollte?