Bunsenstraße Nr. 3. Dietmar Schmeiser

Bunsenstraße Nr. 3 - Dietmar Schmeiser


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Brandbomben auszuklinken. Trotz vieler hundert Toter hatte Karlsruhe wieder Glück. Den Engländern war es nicht gelungen, einen Feuersturm auszulösen, wie in der Nachbarstadt Pforzheim, wo in weniger als einer halben Stunde 20.000 Menschen verbrannten worden waren.

      Ich kann mich nicht an Einzelheiten erinnern. Eine Haltung hatte sich in mir gebildet: Dir kann nichts passieren. Ich habe noch jeden Angriff überlebt. Keine einzige Wunde war mir geschlagen worden. Und immer, wenn wir – zuweilen erst am frühen Morgen – vom Keller in die Wohnung gingen, stürzten wir von einem ins andere Zimmer, um nach Schäden durch Luftdruck zu suchen. Nur ein einziges Mal war eine Fensterscheibe geborsten.

      Fensterglas gab es keines. Zum Ersatz wurde eine Art Fliegendraht, in Kunststoff getaucht, angeboten. Mutter nagelte diesen in den Rahmen. Besonders eindrucksvoll fand ich, dass eine gläserne Lampenschale auf das Bett gefallen und ganz geblieben war. Sonst war unsere Wohnung aber unversehrt geblieben.

      Vielleicht verdanken wir das auch zu einem wesentlichen Teil Herrn Metz aus dem obersten Geschoss. Er besaß nicht die Fähigkeit wie unser Herr Professor, die Damen im Keller kurzweilig zu unterhalten, aber er hatte wohl sehr bald herausgefunden, dass die Alliierten die Wohngebiete nach einem bestimmten System bombardierten. Sie warfen zuerst die Brandbomben. Und wenn die Menschen aus ihren brennenden Häusern stürzten, kam ein zweiter Angriff mit Sprengbomben. Die Piloten brauchten sich nur noch nach den brennenden Häusern zu richten, um ihr Mordwerk zu vollenden. So stürmte Herr Metz nach der ersten Angriffswelle auf den Speicher und warf eigenhändig die brennenden Stabbomben aus dem Fenster auf die Straße. Ich habe verschiedentlich am darauffolgenden Tag die Brandstellen im Speicherboden bestaunt, die mit Sand abgedeckt waren. Noch ehe die zweite Angriffswelle mit Sprengbomben anrollte, saß Herr Metz wieder im Keller, und unser Haus war gerettet. Ich bekam ungeheure Lust, mit Herrn Metz auch einmal auf den Speicher zu rennen, ohne die geringste Chance hierfür zu bekommen. Kaum war Herr Metz durch die Luftschutztür verschwunden, wurde diese von innen wieder fest verschlossen. Nicht einmal sein Sohn Richard, der viel älter war als ich und so schöne Stukas malen konnte, durfte mit. Er konnte mir aber in vielen Farben die Beobachtungen seines Vaters schildern, wie die feindlichen Flugzeuge erst einmal Fallschirme abwürfen, an denen Leuchtkerzen hingen, die die ganze Stadt taghell ausleuchteten. Dann würden verschiedenfarbige Markierungen abgeworfen, die den Bombern zeigten, welches Gebiet heute bombardiert werden sollte. Auch er sprach von den merkwürdigen Christbäumen, die doch wahrhaftig keine sein konnten. Altklug erklärte mir Richard: Wer diese Zeichen lesen könne, wisse, welcher Stadtteil heute Nacht verbrannt würde. Mein fixer Herr Milch, der Generalluftzeugmeister, stand jetzt blöd da mit all seinen Verdunklungsaktionen.

      In einer einzigen Nacht sind eine halbe Million Brandbomben auf Karlsruhe geworfen worden! Die Innenstadt war bald völlig zerstört. Die Trümmer habe ich gesehen. Gaffend stand ich bei einem riesigen Blindgänger. Sein Stahlmantel war geborsten und gelbes Pulver rann aus ihm heraus. An der Kreuzung Yorkstraße/Kaiserallee hatte eine Bombe ein solches Loch gerissen, dass man den großherzoglichen Abwasserkanal sehen konnte, der einem richtigen Eisenbahntunnel Konkurrenz hätte machen können.

      Aus Angst vor Tagesangriffen durch die Amerikaner verließen wir aber kaum noch die Bunsenstraße. Am Morgen besuchte ich für zwei Stunden die Gutenbergschule, solange diese noch nicht zerstört war. Sonst wagten wir uns nur noch in die Kriegsstraße zum Klingele, um Milch zu holen. Brot gab es neben dem Gemüseladen Friedrich und dann noch an der Ecke zur Kriegsstraße bei Feinkost Siegrist, wobei wir den Zusatz Feinkost getrost vergessen können. Der stammte aus einer ganz anderen Zeit. Auch den Metzger Höpfinger gegenüber von Siegrist können wir getrost vergessen. Einkäufe dort waren Seltenheit.

      Am schrecklichsten waren für uns Kinder diese Tagesangriffe. Während wir in der Nacht nach der Bombardierung ins Bett gesteckt wurden und nicht mitbekamen, was sich auf den Straßen abspielte, konnte Mutter am Tag mich nicht immer einsperren. Noch heute bricht beim Geruch von Leuchtgas oder brennenden Lumpen in mir diese Erinnerung durch. Das ist so eine Mischung von Davongekommen, Neugierde, Mitgefühl und Wut. Nach einem solchen Angriff erwachten die Menschen aus ihrer depressiven Apathie. Sie stürzten schreiend und heulend in die brennenden oder geborstenen Häuser und versuchten, ihre Habe zu retten. Ich habe nur Bruchstücke von solchen Bildern noch in Erinnerung. Die Brandstätten waren meist schon gelöscht und schwelten vor sich hin, bis ich auf die Straße durfte. In mir entstand eine Mischung aus bösen Gefühlen zwischen Sensation und Schmerz, wenn ich etwa die Verzweifelten beobachtete, die unter den Alleebäumen in der Kriegsstraße zwischen ihren ausbrennenden Häusern, Trümmerbergen und gerettetem Möbel standen.

      Es verbleibt noch ein Erinnerungsfetzen aus der Gutenbergschule: Während das Schulhaus der Mädchen schon völlig ausgebrannt war, hatte das Knabenhaus erst wenige Treffer zu verzeichnen. Mitten im Unterricht hatten die Sirenen geheult, und unser Lehrer Huck war mit uns in den Schulkeller geflüchtet. Zu mehreren Hundert saßen wir über Stunden ohne Essen und Trinken. Verzweifelt versuchte Herr Huck uns zu unterhalten. Bald befand ich mich vor den Mitschülern stehend, einen Taktstock in der Hand, „Der Mai ist gekommen“ dirigierend. Es war kein Mai, und ausgeschlagen hat auch nichts, bestenfalls eingeschlagen.

      Unsere Karlsruher Tageszeitung „Der Führer“ füllte sich mit immer mehr Todesanzeigen. Die waren klein gedruckt. Manche hatten ein Eisernes Kreuz. Die erinnerten an gefallene Soldaten. Andere hatten keines. Die berichteten dann meist von Frauen und Kindern, die beim Luftangriff umgekommen waren.

      Die Angriffe wurden immer schlimmer. Familie Metz besaß einen Schrebergarten, der zu einer bedeutenden Aufbesserung des Speisezettels verhalf. Der jämmerliche Versuch meiner Mutter, in unserem Ziergarten Tomaten zu züchten, war mit wenig Erfolg gekrönt worden, obwohl wir mit Schaufel und Eimer bewaffnet hinter jedem Pferdeapfel her waren, der sich in die Bunsenstraße verirrt hatte. Um so erfreulicher war es, mit in den Schrebergarten – eine Viertelstunde von der Bunsenstraße entfernt – gehen zu dürfen um zu ernten. Einmal hatten wir uns wieder dorthin auf den Weg gemacht und den Garten noch nicht erreicht, als ein Jagdflugzeug aus heiterem Himmel he-rabstürzte und seine Salven auf die beiden Frauen und uns drei Kinder abschoss. Wir konnten uns in ein nahes Maisfeld stürzen und dort verbergen. Dort verborgen, musste ich an Mutter denken, wie sie unseren gelähmten Vater aus einem Berliner Lazarett abgeholt hatte. Seine Bahre hatten die Träger in ein Schnellzugabteil gestellt, und Mutter saß neben ihm. Es war Nacht geworden, und Mannheim war schon fast erreicht gewesen, als Tiefflieger den Zug angriffen, ohne sich um das rote Kreuz zu kümmern, das über die Dächer des Lazarettzuges gemalt war. Wer flüchten konnte, der rannte aus dem Zug. Mein Vater lag gelähmt auf seiner Pritsche, meine Mutter blieb bei ihm. Sie dachte, ihr Ende sei gekommen. Es muss genau wie hier im Maisfeld gewesen sein.

      Die Kinder erzählten sich Geschichten von vergifteten Gutseln, die der Feind abwerfe, und von Puppen, die explodierten, hebe man sie vom Boden auf. Aber auch in der Erwachsenenwelt gab es erstaunliche Gerüchte. Nicht nur von der hinlänglich bekannten Geheim- und Wunderwaffe, die der eine oder andere schon am Westbahnhof unter Planen versteckt auf Güterwagen entdeckt haben wollte, oder von Messerschmittflugzeugen, die in die feindlichen Bomberverbände hineinflögen und deren Flügel abschnitten, nein, es gab auch spezielle Karlsruher Gerüchte, die ich mit spitzen Ohren verfolgte. So sollten Lampen im nördlichen Hardtwald fächerförmig aufgestellt worden sein, um den Bombern eine nördlichere Lage der Stadt vorzutäuschen. Ich fragte mich, ob denn der Herr Generalluftzeugmeister Milch nicht einmal mit Herrn Metz auf den Speicher gehen sollte, um beim Brandbombenwerfen zuzuschauen. War da nicht zuvor die Stadt taghell mit brennendem Magnesium erleuchtet worden, um den Todesvögeln den Weg zu weisen? Hätte der fixe Herr Milch sich nicht auch mal die übernächste Straße, die Körnerstraße, anschauen können? Schnurgerade waren auf beiden Seiten alle Wohnhäuser verbrannt und gesprengt. Diese Bomber waren nicht in den Hardtwald zu locken, selbst wenn dieser Trick zu Beginn des Krieges erfolgreich gewesen sein soll.

      Wir haben über tausend Alarme und etwa einhundert Luftangriffe überlebt, die aus der Bunsenstraße 3. Herr Milch hat auch überlebt. Die Alliierten haben ihn gefangen und zu lebenslanger Haft verurteilt. Auch hier war Herr Milch wieder fix. In sieben Jahren war sein „Lebenslänglich“ schon vorbei!

      Unseres Herzens Wonne liegt

       in praesepio.

      Nein,


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