Ernst Kuzorra. Thomas Bertram
Aus südlicher Richtung von der Florastraße kommend, biegt man etwa zweihundert Meter hinter der Kreuzung Kurt-Schumacher-Straße/Grenzstraße rechts ab. Unmittelbar nach der Einmündung lässt man den tosenden Lärm der vierspurigen Hauptverkehrsader hinter sich, die Gelsenkirchen mit Buer verbindet und den Stadtteil Schalke in Nord-Süd-Richtung durchschneidet. Vorbei an der Tanzschule Becker, vormals Ampütte, wo Generationen von Gel- senkirchenern mehr oder weniger erfolgreich mit den Feinheiten von Foxtrott, Rumba und Walzer vertraut gemacht wurden, erhebt sich kurz vor der Einmündung der Breslauer Straße auf der linken Seite die evangelisch-freikirchliche Erlöserkirche. An gleicher Stelle stand bis zu ihrer Zerstörung im Zweiten Weltkrieg die Zionskirche der Baptistengemeinde Gelsenkirchen. Zwischen Breslauer- und Liebfrauenstraße erstreckt sich linker Hand eine kleine Grünanlage. Ein paar Hundert Meter weiter, an der Ecke Blumendelle/Münchener Straße, steht rechts das Haus Nr. 34. Ein grauer, etwas heruntergekommener vierstöckiger Bau aus den 1920er-Jahren, dessen teils mit Laken und Handtüchern verhängte, teils nackte Fenster einen ebenso trostlosen Anblick bieten wie die von Gestrüpp überwucherten Brachflächen, die das Haus von zwei Seiten einrahmen. Vor lauter Wildwuchs übersieht man beinahe die schmale Gedenktafel auf dem Bürgersteig neben dem Haus:
„Auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand das Geburtshaus des wohl größten Schalker Fußballers: Ernst Kuzorra wurde hier 1905 als Kind einer ostpreußischen Einwandererfamilie geboren. [...].“
Ernst Kuzorras Geburtshaus auf der anderen Straßenseite trug einst die Hausnummer 34. Dort kam er im Sternzeichen Waage am 16. Oktober 1905, einem trüben, wolkenverhangenen Montag, zur Welt. In der Nacht zuvor hatte es so viel geregnet wie im ganzen Monat Oktober nicht. Ernst war das vierte von sieben Kindern des Bergmanns Karl Kuzorra und seiner Ehefrau Bertha. Beide Eltern stammten aus dem masurischen Kreis Osterode im südlichen Ostpreußen und waren um 1890 nach Gelsenkirchen ausgewandert. Das Adress-Buch der Stadt Gelsenkirchen verzeichnet in seiner Ausgabe für das Jahr 1907 einen „Kuzorra, Karl, Hauer, Blumenstr. 34“. Die Kuzorras wohnten in einer Vierzimmerwohnung im dritten Stock. „Damals konnte man von unserem Fenster noch bis zur Stadt blicken, so frei war alles“, erinnerte sich Ernst Kuzorras knapp fünf Jahre älterer Bruder Willi später. Im Stall hinter dem Haus hielt man zwei Schweine, eines zum Schlachten für den eigenen Verzehr. Außerdem wurden auf einem Stück Land Kartoffeln und Gemüse angebaut. Willi Kuzorra: „Für das alles war Mutter zuständig.“
Das Haus, in dem die Geschwister aufwuchsen, wurde Anfang der 1920er- Jahre abgerissen. Im Einwohnerbuch der Stadt Gelsenkirchen für die Jahre 1924/25 wird ein „Kutzorra, Karl, Bergmann“ in der Blumenstraße 33 geführt. Die falsche Schreibweise ist nicht ungewöhnlich für jene Tage. In der Ausgabe für 1927 wird sein Sohn als „Kutzorra, Ernst, Bergmann“ ebenfalls in der Blumenstraße 33 geführt. Im Adressbuch der Stadt Gelsenkirchen für das Jahr 1955 ist „Kuzorra, Ernst, Kfm.“ (nun mit korrektem Namen) als wohnhaft in der König-WilhelmStraße 51 ausgewiesen, wie die nördliche Verlängerung der Kaiserstraße ab dem Schalker Markt hieß. Seit 1963 trägt der gesamte Straßenzug von der Einmündung in die Florastraße (dem früheren Kaiserplatz) bis zum Ortsteil Buer den Namen des sozialdemokratischen Politikers Kurt Schumacher.
Die Umbenennung provozierte bis in die 1980er-Jahre den zähen Widerstand des Arztes Dr. Hermann Dettmer, der auf jeden neuen Fassadenanstrich seines Hauses in der Nähe der Kreuzung Kurt-Schumacher-/Grenzstraße unverdrossen ein „Trotzdem: Kaiserstraße“ pinseln ließ. Ob aus Unwillen über die parteipolitische Instrumentalisierung einer Straße, ob aus monarchistischem Eifer oder einfach nur aus Trotz, sei dahingestellt. Ernst Kuzorras letzte Adresse im Adressbuch der Stadt Gelsenkirchen für 1990 lautet „Kurt-Schuma- cher-Str. 121“. Es ist das heute noch existierende Haus an der Ecke Hubertusstraße, in dessen Erdgeschoss er ab 1953 einen Tabakladen mit Lottoannahmestelle betrieb, den er 1975 an eine andere Schalker Legende, Reinhard „Stan“ Libuda, verpachtete. Der privat und geschäftlich glücklose Libuda übergab den Laden acht Jahre später zwei weiteren ehemaligen Schalke-Spielern: Hans Nowak und Heinz van Haaren. Noch bis in die 1990er-Jahre prangte in weißen Lettern „E. KUZORRA“ über den Namenszügen der jeweiligen Pächter. Heute führt der FC Schalke 04 das Ladenlokal als „Außenstelle“ für Schalke-Fans.
Aufgrund der großflächigen Zerstörungen, die Gelsenkirchen im Zweiten Weltkrieg erlitt, entsprechen wie in vielen Stadtbezirken im Stadtteil Schalke die heutigen Straßenverläufe, Bebauungen und Hausnummern nicht mehr dem Erscheinungsbild der Jahrzehnte vor 1939. Das im Jahr 1861 gerade mal 400 Einwohner zählende Dorf Schalke hatte bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Zuge der rasanten Industrialisierung im Westen des Deutschen Reiches eine erste „radikale Veränderung der Lebensverhältnisse“ (Weichelt) erlebt, bei der buchstäblich kein Stein auf dem anderen geblieben war. Allein ein Blick auf die demografische Entwicklung genügt, um die Tragweite zu ermessen. So wuchs die Bevölkerung der Bauerschaft Schalke im Kirchspiel Gelsenkirchen bis 1913 auf 34.497 Einwohner. In Gelsenkirchen lebten bereits 176.111 Menschen; im Vergleich zu 2.379 Einwohnern im Jahr 1861.
Eine rücksichtslose Sanierung, der ab den 1960er-Jahren, keine zwei Jahrzehnte nach den Zerstörungen durch alliierte Bomben, weitere Straßenzüge und Wohnviertel zum Opfer fielen, vollendete dann diesen „Modernisierungsprozess“, der einhundert Jahre zuvor im Zeichen von Kohle und Stahl begonnen hatte. Damals entwickelten die neuen Industrien einen unstillbaren Hunger nach Arbeitskräften, den die Ruhrregion nicht stillen konnte. In das agrarisch geprägte Gebiet ergossen sich gewaltige Zuwandererströme, die untergebracht werden mussten und eine adäquate technische und soziale Infrastruktur - Elektrizität, Wasser und Kanalisation, Straßen, öffentliche Verkehrsmittel etc. - benötigten. Dass viele Straßen heute andere Verläufe und eine neuere Bebauung aufweisen sowie, teils aus politischen Gründen, andere Namen tragen, erschwert die Verortung noch existierender wie auch verschwundener historischer Stätten und Schauplätze zusätzlich.
Läuft man durch das Straßengeviert zwischen Kurt-Schumacher-, Grillo-, Münchener- und Grenzstraße, durch dessen Mitte die Blumendelle verläuft, dann fällt es schwer, sich vorzustellen, dass dieses Viertel einmal mit Schalke zu den blühendsten Industriestandorten Deutschlands gehörte. Die ganze Gegend wirkt schäbig und heruntergekommen. Die tristen Häuserzeilen sind beredte Zeugen des raschen Wiederauftaus nach dem Krieg, als der Städtebau in der jungen Bundesrepublik sich weniger an ästhetischen denn an demografischen Erfordernissen orientierte. Die in den letzten Jahren verstärkten Bemühungen um eine „Auftübschung“ durch „grüne“ Akzente und „Quartiersmanagement“ muten wie hilflose Versuche an, einen durch soziale Verwerfungen infolge der De-Industrialisierung seit den 1970er-Jahren und den anhaltenden Zuzug von Angehörigen sozialer, in prekären ökonomischen Verhältnissen lebender Randgruppen ausgelösten Verfallsprozess aufzuhalten. Arbeit und Armut sind in Schalke Geschwister, wusste schon Ernst Kuzorra.
Biegt man am heutigen Haus Blumendelle 34 links ab und folgt der Münchener Straße (früher Südstraße), passiert man linker Hand die Antoniusschule. In deren Vorgängerbau waren bis zu seiner Zerstörung im Zweiten Weltkrieg die katholische Antoniusschule sowie die evangelische Goetheschule untergebracht. Letztere besuchte Ernst Kuzorra von 1912 bis 1919 ohne Abschluss. Wendet man sich an der Einmündung in die Magdeburger Straße (früher Oststraße) noch einmal nach links, steht man nach wenigen Hundert Metern unter den grünen T-Trägern der Berliner Brücke.
Jenseits davon liegt der Schalker Markt, an dessen Nordseite vor dem Vereinslokal „Kaiserhalle“ (das 1944 durch eine Fliegerbombe zerstört wurde) bis in die 1940er-Jahre hinein regelmäßig Zigtausende die königsblauen Triumphe feierten. Heute erinnert nur noch eine Gedenktafel an der Westseite des Platzes an Glanz und Gloria früherer Zeiten. Das einstige Herz Schalkes verströmt jene Tristesse, die man beim Rundgang durch Gelsenkirchen, dem „Armenhaus des Reviers“ (WAZ), an vielen Stellen spürt. Von den repräsentativen Wohn- und Geschäftshäusern, die den Markt einst einrahmten, hat nur ein einziges den Krieg und den nachfolgenden städtebaulichen Kahlschlag relativ unbeschadet überstanden: das Eckhaus an der damaligen Kreuzung König-Wilhelm-/Ost- straße, vor dem sich heute die Berliner Brücke emporschwingt. Auf der gegenüberliegenden Seite der Brücke, an der Ecke König-Wilhelm-/Oststraße (heute Kurt-Schumacher-/Magdeburger Straße), laut Adressbuch von 1914/15 am „Schalker Markt 5“, beherbergte