Ernst Kuzorra. Thomas Bertram
laut Zensus vom 3. Dezember 1852 gerade einmal 844 Menschen lebten.
Die Kirche im Bruchland
Das Kirchdorf Gelsenkirchen wird als „Geilistirinkirkin“ bzw. „Gelsten- kerken“ erstmals um 1150 bzw. 1265 in den Urbaren, den Verzeichnissen der Besitzrechte, des Klosters Werden erwähnt. Die Deutungen des Namens reichen von „Kirche bei den Siedlern im Bruchland“ (Robert Jahn 1960) bis zu der kühnen jüngeren Auslegung von Paul Derks (1984), der auf die ältere Schreibweise „Geilistirinkirkin“ zurückgriff und den Namen als „Kirche am Platz, wo sich geile Stiere tummelten“, übersetzte. Er berief sich dabei auf Franz Darpes Übersetzung aus dem Jahr 1908: „Kirche (am Bach) der üppigen Stiere“.14
Nur gut halb so viele Menschen (443) lebten im Jahr 1861 in dem Dorf Schalke, das in einer „fast urwüchsige[n], wenig fruchtbare[n] und fast unbesiedelte[n] Landschaft“ (Ermeling) lag, geografisch exakt ausgedrückt auf 51° 31’ nördlicher Breite und 4° 45’ östlicher Länge. Im alten Landkreis Gelsenkirchen war es der am tiefsten gelegene Ort, inmitten einer sumpfigen Bruchlandschaft, in deren Niederungen noch Wildpferde weideten und die noch nach der Wende zum 20. Jahrhundert häufig überflutet wurde, wenn die Emscher Hochwasser führte. Die Siedlung, deren Name auf „Scadelek“ („Siedlung in schädelförmiger Gegend“) oder „Scedelike“ („Siedlung der Adelsfamilie Schedelecke“) zurückgeht, war umgeben von den kleinen Flüssen Ah, Schwarzbach und Bullenbeke (Sellmannsbach). Die größten Gehöfte lagen an der Chaussee nach Essen, der heutigen Feldmarkstraße. Am Schwarzbach lag das Rittergut Haus Schwarze- mühle der Herren to de swarte Mölen, an das heute nur noch die Schwarzmühlenstraße erinnert. Es war eine Gegend im Dornröschenschlaf, aus dem ihre Bewohner Mitte des 19. Jahrhunderts durch die Industrialisierung gerissen wurden.
Im Jahr 1850 stießen in der benachbarten Gemarkung Heßler mehrere Gewerke bei Probebohrungen unabhängig voneinander auf ergiebige Steinkohlevorkommen. Fünf Jahre später schlossen sie sich zur Gewerkschaft Wilhelmine Victoria zusammen, 1856 wurde mit den Abteufarbeiten für Schacht I der Zeche Wilhelmine Victoria begonnen. Im Jahr 1861 gründeten in Schalke auf Initiative des Essener Unternehmers Friedrich Grillo mehrere Gewerke die „Gewerkschaft des Steinkohlenbergwerks Consolidation“, die zwei Jahre später am Schalker Markt anfing, den ersten Schacht, „Gertrud“, abzuteufen, der 1865 die Förderung aufnahm.
Der Steinkohlenbergbau wurde zum Konjunkturmotor, der die Ansiedlung von Zulieferfirmen und weiterer Gewerbe nach sich zog. Im Jahr 1866 wurde das Blechwalzwerk Grillo, Funke & Co. gegründet, 1868 folgte die Zeche Graf Bismarck, die allerdings nur teilweise auf Schalker Gebiet lag, 1869 die Draht- und Hanfseilerei W H. Grillo, 1870 das Drahtwalzwerk Boecker & Cie., 1872 der Schalker Gruben- und Hüttenverein, 1872 die Schalker Eisenhütte und die Aktiengesellschaft für Chemische Industrie, 1873 der Schalker Verein für Kesselfabrikation Orange und 1873 die Glas- und Spiegelmanufactur Schalke. Initiator all dieser Gründungen war Friedrich Grillo, ohne dessen Pioniergeist und unternehmerisches Gespür Schalke möglicherweise ein unbedeutender Bauernflecken geblieben wäre. Das Denkmal des Schalker „Gründervaters“ zierte zu Zeiten Kuzorras, umrahmt von Platanen, den Schalker Markt.
Die neuen Industrien brauchten Arbeitskräfte, die anfangs, in den Jahren 1860 bis 1880, noch aus der näheren Umgebung kamen. Immerhin zählte das „Dorf“ Schalke im Jahr der Gründung des Deutschen Kaiserreichs (1871) bereits 3.758 Seelen, binnen zehn Jahren hatte sich die Einwohnerschaft also verzehnfacht. Doch das einheimische Arbeitskräftereservoir reichte bald nicht mehr aus, und die Unternehmen gingen dazu über, zunächst in der näheren Umgebung, dann in anderen Regionen Deutschlands, aber auch in Nachbarländern „Gastarbeiter“ anzuwerben. Dabei gerieten Gebiete in den Fokus der industriellen Werber, deren wirtschaftliche Basis nicht ausreichte, eine rapide wachsende Bevölkerung zu ernähren, sodass deren Bewohner aufgrund ihrer sich verschlechternden sozialen und wirtschaftlichen Lage keinen anderen Ausweg sahen, als auszuwandern. Die ersten Zuwanderer ins Ruhrgebiet kamen aus Hessen, Nassau und den Niederlanden. Im Raum Gelsenkirchen stammten zwischen 1865 und 1871 79 Prozent der Migranten aus dem Rheinland und aus Westfalen, 7,7 Prozent aus Hessen und 3,7 Prozent aus den Niederlanden.
Irgendwann war auch dieses Reservoir erschöpft, während der Hunger der Industrie nach Arbeitskräften unau&altsam weiter wuchs. Seit den 1880er- Jahren wurden für die Schwerindustrie an der Ruhr die deutschen Ostprovinzen (Posen, Schlesien, West- und Ostpreußen) zu bevorzugten Rekrutierungsgebieten. Dort malten Plakate wie das eingangs zitierte, die sich jeweils an bestimmte Volksgruppen wandten, die angepriesene Region in den blühendsten Farben. Dabei wurde weniger auf die konkreten Arbeitsbedingungen vor Ort als auf „weiche“ Standortfaktoren, wie etwa Wohnverhältnisse, Infrastruktur, soziokulturelles Umfeld etc., gesetzt.
Die gesamte preußische Bevölkerung hatte sich zwischen 1819 und 1867 auf knapp 20 Millionen fast verdoppelt. Bis zur Jahrhundertwende stieg sie auf mehr als 34 Millionen an. Mit Ausnahme Oberschlesiens verfügten die preußischen Ostprovinzen jedoch über keine nennenswerte Industrie, die dieser rasant wachsenden Zahl an Menschen eine ausreichende Existenzgrundlage hätte bieten können. Zudem hatte sich die soziale und wirtschaftliche Lage der klein- und unterbäuerlichen Schichten im deutschen Osten seit der Bauernbefreiung 1811 vielfach verschlechtert. Während auf der einen Seite die Zahl der großen ostelbischen Güter zunahm, wuchs auf der anderen Seite die Zahl der überschul- deten und kaum existenzfähigen Kleinbauernstellen. Eine starke Teuerung in den 1880er-Jahren verschlechterte die Lebensverhältnisse der unteren Schichten weiter.
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Die entlegene ostpreußische Grenzregion Masuren zählte im wilhelminischen Deutschland, das im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts mit Riesenschritten in die ökonomische Moderne marschierte, während seine politischen Eliten zugleich ständisch-autoritäre Herrschaftsstrukturen und strikte soziale Hierarchien zu bewahren suchten, zu den rückständigsten Gebieten des Deutschen Reiches. Den überwiegend polnischsprachigen Masuren, die mangels Industrie mit kleinbäuerlicher Landwirtschaft, mit Fischerei, Forst- und Waldwirtschaft oder als kleine Beamte und Angestellte mit niedrigem Einkommen (Chausseewärter, Eisenbahner) eine bescheidene Existenz fristeten, dürfte die aufstrebende Industrieregion im fernen Westen wie das gelobte Land erschienen sein.
„Für masurische Verhältnisse herrschten im Ruhrgebiet bessere Konditionen - höhere Bezahlung, bessere Wohnung und ein Kohledeputat -, die vor allem junge Männer vor der Verheiratung, später auch junge Familien, abwandern ließen. Sie erwarteten bessere Wohnverhältnisse, eine weniger anstrengende Arbeit als auf den Kleinbauernstellen in der Heimat sowie die Chance eines sozialen Aufstiegs“ (Kossert).
Bis zum Ersten Weltkrieg verlor Masuren etwa ein Drittel seiner Bevölkerung durch Abwanderung. Das Ruhrgebiet entwickelte sich in dieser Zeit zum Hauptziel der Migranten aus dieser Region.
Bis zum Jahr 1900 waren mehr als 160.000 Ostpreußen - fast ausschließlich Kleinbauern und Landarbeiter, die meisten von ihnen Masuren - ins Ruhrgebiet eingewandert. Sieben Jahre später waren es bereits mehr als 240.000, darunter knapp 200.000 Masuren, von denen einer zeitgenössischen Studie zufolge im Jahr 1908 etwa 120.000 bis 130.000 polnischsprachig waren.
Ob die Zuwanderer tatsächlich polnisch sprachen oder vielleicht nur „masurisch“ (das Masurische hat polnische Wurzeln und weist je nach Region starke polnisch-litauische oder auch deutsche Einschläge auf), ist nicht zweifelsfrei zu klären, weil in offiziellen Sprachenstatistiken nicht eindeutig zwischen „Masuren“ und „Polen“ differenziert wurde. Manche Forscher halten das Masurische für eine eigenständige slawische Sprache, andere lediglich für einen „Sonderzweig des Polnischen“ (Gehrmann).
Der Durchschnittsdeutsche im Ruhrgebiet machte jedenfalls keinen Unterschied zwischen einem polnischsprachigen und einem masurischsprachigen Masuren und einem Polen. Die Neuankömmlinge aus dem Osten galten pauschal als „Ruhrpolen“, „wobei als Indikatoren Verhalten, Sprache, Name oder Geburtsort dienten“ (Kossert), oder wurden abwertend schlicht als „Polacken“ tituliert. Wenn es nach der offiziellen Statistik im Jahr 1910 im Ruhrgebiet nur noch 21.673 Masuren mit „masurischer“ Muttersprache gab, während zwei Jahre zuvor nach Angaben des Gelsenkirchener evangelischen Pfarrers Oskar Mückeley, der ab 1911 für die Masuren im Ruhrgebiet die deutschsprachige Monatszeitschrift