Die Mauer der Götter 1: Drachenzeichen. Alfred Bekker
es ist an der Zeit.... Du wirst erwachsen, Hiro, das lässt sich nicht bestreiten. Deswegen geht die Zeit allerdings ihren gewohnten Weg. Blick einmal zum Fenster hinaus."
"Es ist fast noch dunkel", stellte Hiro richtig fest.
"Was sollte ich dort sehen können?"
Seine Mutter sah jetzt nachdenklich aus.
"Das ist es, Hiro. Du kannst noch nicht viel sehen, weil die Dämmerung gerade erst angebrochen ist. Was willst du jetzt draußen? Die Drachen sehen genau so wenig, also ist es sinnlos, zu so früher Stunde die Mauer besteigen zu wollen."
"Vater hat versprochen ..."
Seine Ungeduld war ihr nicht entgangen.
"Er hält sein Versprechen. Er nimmt dich mit, aber alles zu seiner Zeit. So, und jetzt komm entweder herein und schließe die Tür hinter dir, damit die Wärme hierbleibt, oder du kehrst wieder in dein Bett zurück."
Hiro entschied sich für die erste Alternative. Er setzte sich an den Küchentisch und sah seiner Mutter zu, die gemächlich alles für das Frühstück vorbereitete.
Das auflodernde Feuer im Herd beleuchtete Beta Himmelsbergs Gesicht. Ihre Haut war dunkel.
Sie glänzte ein wenig wie dunkler Tabak. Ihre Augen besaßen einen rötlichen Schimmer. Sie blickten funkelnd aus dem dunklen Gesicht. Ihr Haar hing ihr in zahlreichen Flechten, in die bunte Perlen geflochten waren, bis zu den Schultern. Ihr Gesicht wirkte offen und freundlich. Es wirkte wie ein junges Gesicht, obwohl sie ihren vierzigsten Geburtstag bald erreichen musste.
Hiro Himmelsberg hatte von seiner Mutter das freundliche Äußere geerbt und die dunklen Haare, nur waren sie bei ihm glatt und nicht gekraust. Die helle Gesichtsfarbe hatte er von seinem Vater mitbekommen. Sämtliche übrigen Merkmale mochten von Vorvätern von wer weiß vor wie vielen Generationen stammen.
Hiro Himmelsberg erwartete in diesem Frühjahr seinen zehnten Geburtstag. Für ihn wurde es langsam Zeit, sich um seine Zukunft zu sorgen. Das hieß, dass er sich vorerst erst einmal Gedanken darüber machen musste, welchen Beruf er sich erwählen wollte, welcher theologisch – religiösen Schule er folgen wollte und und und ... Wenn er sich einmal entschieden hatte, hieß das noch lange nicht, dass er seiner Wahl sein gesamtes Leben lang folgen musste, aber diese Wahl diente ihm auf jeden Fall zur Orientierung.
Bei einer Entscheidung fiel ihm allerdings seine Wahl nicht schwer. Sein Entschluss stand in dieser einen Sache bereits fest. Wie sein Vater wollte er der Theologie der Baumeister folgen. Darüber brauchte man gar nicht mehr zu diskutieren.
Schwerer fiel es ihm, sich einen Beruf vorzustellen, der ihm sein ganzes Leben lang Freude bereiten konnte. Er wusste lediglich, dass der Dienst mit der Waffe ihm nicht erstrebenswert erschien, aber die zahlreichen Alternativen, die ihm sonst blieben, verwirrten ihn noch mehr als sie ihn lenkten.
"Vaters Dienst beginnt erst in drei Stunden", sagte Beta und setzte sich zu ihm an den Küchentisch.
"Warst du bereits einmal oben?"
"Auf der Mauer?"
"Ja."
Bedächtig schüttelte Beta den Kopf. "Dein Vater hat mich nie mitgenommen. Vielleicht hat er meinen Wunsch gespürt, dass ich bei dem zeremoniellen Töten einfach nicht zuschauen wollte."
"Man kann doch auch zu jeder anderen Zeit die Mauer aufsuchen", sagte Hiro.
"Wozu?", gab Beta zurück. "Was bringt es, wenn ich auf der Mauer stehe und doch nichts anderes sehe. Das Land ändert sich deswegen nicht, weil ich vielleicht einen besseren Überblick habe, das Meer sieht von oben gleich aus. Ich sehe vielleicht ein bisschen weiter und natürlich mehr Meer oder etwas mehr von dem toten Großen Land, das die Drachen mit ihrem giftigen Feueratem beherrschen. Also, weshalb sollte ich die Mauer ersteigen?"
"Ich habe Angst", sagte Hiro bedrückt und schwieg dann sofort – man konnte ihm fast dabei zusehen, was sich vor seinem inneren Auge abspielte.
Beta tätschelte beruhigend den Arm ihres Jungen. "Für dich ist es etwas anderes", sagte sie. "Du bist bald ein junger Mann. Du brauchst die Erkenntnis und die Erfahrung, welche die Mauer der Götter dir gibt. Du bestimmst immerhin für deine zukünftige Familie die religiöse Ausrichtung."
"Ich werde wie Vater Baumeister", sagte Hiro im Brustton der Überzeugung.
Hinter ihnen war plötzlich das Geräusch einiger Schritte.
"Du sollst es nicht werden, weil ich es bin, sondern weil du es willst!", sagte Coling, der in diesem Augenblick das Zimmer betrat.
*
Majestätisch ragte die Mauer empor.
Bislang hatte sich Hiro der Mauer noch nie so weit genähert. Sein Vater hatte immer darauf geachtet, dass er ihr nicht zu nahekam, das hieß, dass er sich ihr höchstens bis auf fünfzig Schritt näherte.
Natürlich hatte Coling stets die Drachen vorgeschoben als Begründung, weshalb es nicht ratsam war, der Mauer näher zu kommen. Jederzeit konnte es einem Drachen gelingen, bis an die Mauer zu kommen und darüber hinaus – und was dann geschah, wusste eigentlich niemand so recht, weil es glücklicherweise seit zahlreichen Jahren zu keiner direkten Konfrontation mehr gekommen war, aber es konnte schlimm werden. Man musste auf alles gefasst sein.
Trotz seiner erst fast zehn Jahre flog ihm ein fast blasphemischer Gedanke zu, als er die Mauer der Götter jetzt genauer in Augenschein nahm. Aus der Nähe konnte man nämlich eine gewisse Baufälligkeit der Mauer nicht übersehen.
Von der Ferne wirkte die Mauer fugenlos glatt und so, als könnte keine Kraft der Welt sie jemals zerstören, von der Nähe konnte er Risse erkennen, die durch das Mauerwerk liefen. An manchen Stellen klafften Löcher. Hier waren vermutlich Steine herausgefallen, den Göttern sei Dank nur die äußerste Schicht.
Turmhoch ragte die Mauer empor.
Hinauf in den Himmel.
Ein Bauwerk, wie es nur Götter erschaffen konnten.
Ehrfurchtgebietend.
Gewaltig.
"Gehen wir hinauf?", fragte Hiro.
"Ja."
"Gut."
"Du hast Angst?"
"Nein."
"Natürlich hast du Angst."
Er musste sich vergewissern, dass sein Vater nicht im letzten Augenblick einen Rückzieher machte. In seinem Blick, mit dem er seinen Vater ansah, lag nicht nur eine Frage, sondern auch eine Bitte: Enttäusche mich nicht!
"Ja, wir steigen die Treppe auf den Mauergang hoch."
Hiro blickte zu dem Turm, zu dem die Treppe gehörte. Der Turm stand nur 500 Schritt vom Meeresufer entfernt und lehnte sich haltsuchend an die Mauer. Er wirkte wie verwachsen mit der Mauer, obwohl er erst in späteren Jahren gebaut worden war.
Der eigentliche Zugang auf die Mauer, der ursprüngliche Aufgang, befand sich in Embadan, der ewigen Stadt, der Stadt der Götter. Nachdem die Menschen auf der Halbinsel immer zahlreicher geworden waren, erwies es sich bald notwendig, weitere Zugänge zur Mauer zu errichten. So waren zwei weitere Türme hinzugefügt worden, einer am Nordufer der Engstelle, jener Stelle, der sich Hiro und Coling nun näherten, und ein weiterer ungefähr in der Mitte. Selbstredend benutzte Coling den Turm der Baumeister.
Die mittlere Treppe beanspruchten die Wartenden. Am Südende der Mauer, in Embadan, war es kein Turm, der den Zugang auf die Mauer ermöglichte, sondern eine breite Prachttreppe. Die Rampe, auf der die Treppe ruhte, begann fast hundert Schritt vor der Mauer sich sanft in die Höhe zu erheben. Hier konnte der König die prunkvolle Prozession auf die Mauer hinauf anführen.
Die Mauer war an der schmalsten