Tatort Deutschland. Gisela Sachs
jeweiligen Kirchengemeinden abliefert, erklärt er lächelnd.
»In den frühen Morgenstunden schon, vor der Frühmesse.«
Wohlwollend nickt Witte seiner Frau zu. »Danke fürs Herbringen, Hiltrud.«
Und mit einem lässigen Winken mit der rechten Hand, so wie man eine lästige Fliege verscheucht, ist die Ehefrau verabschiedet. Friedrich Witte wird pünktlich um 12.00 Uhr zum Mittagessen zuhause sein. Wie jeden Sonntag. Und er wird wie immer eine Kohlrabisuppe, Rumpsteak Medium gegrillt, eine bunte Gemüsepfanne und Kartoffelecken serviert bekommen. Drei Kugeln Eis als Nachtisch: Vanille, Erdbeere, Schokolade. Mit zwei Esslöffeln Sirup über dem Eis, vier Esslöffeln Schlagsahne obenauf. Friedrich Witte liebt Schlagsahne, will aber nur die Schlagsahne von Südmilch auf seinem Eis dulden, und er will exakt zwei Päckchen Vanillezucker in der Sahnewolke haben, und es muss der Vanillezucker von Dr. Oetker sein. »Nur keine Außergewöhnlichkeiten, Hildchen!«
Friedrich Witte wird nach dem Mittagessen wie immer ein Nickerchen machen, Hiltrud Witte die Essensreste in Plastikschüsseln verstauen und zu Frau Schulze eilen, der gehbehinderten Frau, die Friedrich Witte über das Sorgentelefon kennengelernt hatte. Sie wird der alten Dame das Bett frisch überziehen, die Waschmaschine füllen, bügeln, die Wohnung saugen, Staub wischen und die Einkaufsliste für die kommende Woche schreiben. Dann wird sie zusammen mit der einsamen Frau Kaffee trinken, ein bisschen erzählen. Die alte Dame hat weder Freunde noch Verwandte in der Stadt.
Hiltrud Witte ist nach den Besuchen bei Luise Schulze immer sehr erschöpft, ihrer letzten Energie beraubt. Tagein, tagaus ist die verbitterte Frau damit beschäftigt, sich alle negativen Erlebnisse der letzten 70 Jahre in Erinnerung zu rufen. Sie hadert mit ihrer Kindheit, fühlt sich vom Leben betrogen.
»Da bist du ja, Hiltrud. Du kochst doch gleich mal einen Kaffee?«, ruft Heinrich Witte, sobald Hiltrud Witte die Haustür aufgeschlossen hat. »Hilde, du bist es doch?«
Hiltrud Witte zieht seufzend ihre Straßenschuhe aus, stellt sie in den Schuhschrank, schlüpft in ihre rosaroten Plüschhausschuhe, geht in die Küche, bindet ihre geblümte Schürze um ihr Sonntagskleid und schaltet die Kaffeemaschine ein. Danach spült sie die Essensreste von den Schüsseln und Tellern, räumt sie in die Spülmaschine ein. Das Silberbesteck, die Gläser und die Eisschalen mit dem Goldrand spült sie von Hand. Sie holt die Kaffeetasse mit dem Motiv des Schweriner Schlosses aus der Vitrine, den Unterteller, die Zuckerdose, stellt alles auf das Servierbrett in Apfelform. Friedrich Witte besteht darauf, seinen Sonntagnachmittagskaffee aus der Tasse mit dem Motiv des Schweriner Schlosses zu trinken.
»Hiiiilde, wo bleibt der Kaffeeeee?«
»Stell ihn da hin«, sagt Friedrich Witte, deutet mit seinem Zeigefinger neben den überquellenden Aschenbecher und starrt weiter in die Flimmerkiste. Auf dem Tisch türmen sich VideoKassetten: Sexualität im reifen Alter. Heiße Sexy Frauen. Lust und Liebe ohne Altersgrenze. Sex, Lust und Leben Teil 1. Sex, Lust und Leben Teil 3. Die Hülle von Teil 2 »Mehr Spaß am Sex’ liegt auf dem Boden vor dem Video Gerät. Hiltrud Witte schiebt die Videos zur Seite, stellt das Tablett auf den Tisch, bietet Apfelkuchen an. »Der Zuckerlöffel fehlt, Hiltrud«, tadelt Friedrich Witte. »Wo hast du heute bloß wieder deinen Kopf?«
Hiltrud Witte eilt zurück in die Küche, holt einen Kaffeelöffel aus der Besteckschublade und legt ihn neben die Tasse mit dem Schweriner Schloss Motiv … »die Qualitäten der Orgasmen verbessern ...«
Hiltrud Witte weiß, dass sie, sobald Er sich das Video und den Apfelkuchen reingezogen hat, mit ihm ins Schlafzimmer muss. Und ihr graut davor. Sehr!
Der ehemalige Bienenzüchter gründet einen Verein für vernachlässigte Kinder, ruft zu Spenden auf, engagiert sich in der Diakonie, organisiert die Hilfsaktion
»Weihnachten im Schuhkarton’. »Kinder, die sonst kein Weihnachtspaket in den Händen halten würden, erhalten so Aufmerksamkeit und Liebe. Die menschliche Nähe ist es, die Hoffnung …«
Ein äußerst nachdenklich blickender Friedrich Witte ist am 1. Advent auf dem Bild in der Schweriner Volkszeitung zu sehen. Und Hiltrud Witte muss für die Schuhkartons Weihnachtskarten basteln, Handschuhe, Mützen, Schals stricken, Schuhkartons mit Geschenkpapier bekleben. Zu dem Ehrenamtlichen-
Dankeschön Treff zum Frühstück im Kaffeehaus Prag nimmt Friedrich Witte seine Ehefrau nicht mit. »Du hast noch viel zu tun, Hildchen!«
Nach wie vor backt die lungenkranke Frau die Kuchen für die kirchlichen Treffs, mittlerweile auch noch für die monatlichen Events in den Räumen der Diakonie. Und jetzt soll Hiltrud Witte auch noch Weihnachtskekse backen.
»Meine Frau macht das sehr gerne«, sagt Friedrich Witte gegenüber der örtlichen Presse. Liebevoll drückt er Hiltrud einen Kuss auf die Wange. Die Anwesenden klatschen. Das Kussbild erscheint am nächsten Morgen in der Schweriner Volkszeitung unter der Überschrift
»Helden unserer Zeit’. Darunter ein Interview mit Friedrich Witte.
»Ich freue mich sehr darüber, dass es uns gelungen ist, ein Miteinander zu gestalten, das von religiösem Leben geprägt ist. Wir zeigen die Kirche und die Diakonie in ihrer bunten ökonomischen Vielfalt. Wir singen miteinander. Wir reden miteinander. Wir beten miteinander. Wir …«
»Selbstverständlich werden wir uns auch dieses Jahr wieder ein Abonnement fürs Mecklenburgische Staatstheater nehmen«, sagt Friedrich Witte und führt bedächtig seine Kaffeetasse an den Mund. »Wir werden natürlich den Frühkäuferrabatt nutzen, Hildchen.«
Gönnerhaft tätschelt er ihren Handrücken. »Und du bekommst ein neues Kleidchen, Hildchen. Dir passt ja nichts mehr, hast ja so sehr abgenommen. Neue Schuhe, ein neues Handtäschchen.« Hiltrud Witte weiß, dass ihr Mann sich nichts aus Theateraufführungen macht, sie nur wieder einmal vorführen muss.
Er verschläft fast die komplette Ballettaufführung von Romeo und Julia, wacht erst durch den Endapplaus der begeisterten Zuschauer auf. »Romeo und Julia«, flüstert Hiltrud Witte ihrem Gatten zu, als urplötzlich ein Redakteur der Schweriner Volkszeitung mit einem Mikrofon in der Hand vor ihnen steht. Friedrich Witte blinzelt in das Neonlicht, reibt sich mit beiden Fäusten die Augen. »Ich, äh, ich weiß wirklich nicht, was ich dazu sagen soll.«
Er zieht sein weißes Stofftaschentuch aus der Jacketttasche und schnäuzt sich. Die Stimme versagt ihm fast, als er ins Mikrofon stottert. »Eine großartige Inszenierung! Emotional sehr berührend, innig!«
Er dreht sich zur Seite, legt den rechten Arm um seine Ehefrau, zieht sie eng an sich, sieht direkt in die Linse des Fotografen, hält das Mikrofon dicht vor seinen Mund, räuspert sich. »Wir haben das unsägliche Glück, unsere Liebe ausleben zu können.«
Hiltrud Witte, obwohl 18 Jahre jünger, verblasst immer mehr neben dem Mann, der sich so gut zu verkaufen weiß, in der Öffentlichkeit immer einen dunklen Anzug und eine bedeckte Krawatte trägt, meist grau gestreift, dazu schwarze Lederschuhe. Die zierliche
Frau mit den halblangen mahagonifarbenen Haaren, den toten braunen Augen und der fahlen Gesichtshaut macht nur noch selten den Mund auf. Seit Friedrich Witte verentet ist, ist er es, der die Telefonanrufe im Hause Witte entgegen nimmt, den PC für sich beschlagnahmt, ihre Mails beantwortet. So hat Friedrich Witte erfolgreich auch die letzten Freundinnen seiner Ehefrau vergrault. Die Kinder, längst ausgezogen, schauen immer seltener bei der Mutter herein. Zu belastend ist die Stimmung der nach außen glücklichen Familie. Friedrich Witte ist es aber recht so, die drei Töchter seiner verwitweten Ehefrau hatte er noch nie gemocht.
Das Ehepaar Witte lebt mehr oder weniger von Hiltrud Wittes Beamten-Pension. Hiltrud war Lehrerin am Gymnasium Fridericianum, unterrichtete dort Englisch und Latein. Allein könnte es ihr gut gehen. Hiltrud Witte weiß das, scheut sich aber vor Veränderungen. Die Rente von Friedrich Witte ist mager. Viele Jahre lang hatte er es versäumt, sich selbst zu versichern, verbraucht den Großteil seiner Rente für seine nach Maß geschneiderten Anzüge, für Hemden, Krawatten, Schuhe. »Ich bin ein öffentlicher Mensch, Hildchen. Ich kann nicht immer in denselben Klamotten herumlaufen. Bei dir ist das natürlich etwas anderes. Du stehst ja ohnehin fast nur in der Küche.«
Hiltrud