Großer Bruder sein. Gisela Sachs

Großer Bruder sein - Gisela Sachs


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       Die Erde ist deine Mutter, sie hält dich.

       Der Himmel ist dein Vater, er beschützt dich.

       Der Wind ist dein Bruder, er singt für dich.

      - Verfasser unbekannt

      Wir wählen Geschwister nicht aus,

      wir bekommen sie geschenkt.

      Für Michael,

      den besten ‚Großen Bruder’ der Welt.

      Großer Bruder zu sein,

      ist eine schützende helfende Hand zu geben.

       1. Teil

      Wie alles begann

       1. Kapitel

      Die Schulglocke läutet. Christian Schneider springt vom Stuhl auf, reißt seine Arme hoch in die Luft, brüllt

      »Schuuuulferieen« und führt einen Indianerfreudentanz auf. Danach fegt er seine Sachen vom Tisch direkt in seinen Schulrucksack: das Zahlenreisebuch, das Matheheft, die Buntstiftbox, das große Holzlineal. Die Klassenkameraden grölen. Der Mathelehrer lacht.

      Christians Sitznachbar und bester Freund Davide grinst nur, er kennt den Indianerfreudentanz schon. Christian führt immer Indianerfreudentänze auf, wenn er sich besonders arg freut. Und das ist ziemlich oft. Christian Schneider ist ein fröhliches, temperamentvolles Kind.

      Christian und Davide sind nicht nur Sitznachbarn in der Schule, sie sind auch Wohnungsnachbarn. Fast jedenfalls. Sie sind keine Nachbarn, die Tür an Tür oder Haus an Haus wohnen, nein, sie wohnen sozusagen Straße an Straße. Christian Schneider wohnt mit seinem Papa und seiner Mama in der Vogelsangstraße Nummer eins, Davide Romano mit seinen Eltern, den Großeltern, drei älteren Brüdern und zwei jüngeren Schwestern in der Lerchenstraße Nummer sechs.

      Die Vogelsangstraße und die Lerchenstraße sind Parallelstraßen. Das hört sich etwas kompliziert an, ist es aber nicht.

      »Ein Butterbrotbiss weit entfernt«, meint Christians Mutter. Christian weiß es aber besser. Er hat die Schritte von der Vogelsangstraße Nummer eins bis in die Lerchenstraße Nummer sechs gezählt. Tagelang. Jeden Morgen vor der Schule. Und jeden Mittag nach der Schule. Mit Schuhen. Und ohne Schuhe. Es sind genau 66 Schritte.

      Die Brüder von Davide heißen Valentin, Vito und Vincente, die zwei Jahre alten Zwillingsmädchen, Violetta und Valentina. Bei der Familie Romano fangen alle Kindernamen mit V an. Das hatte der Vater Victor so gewollt. Nur bei Davide haben die Eltern eine Ausnahme gemacht. Aber warum das so ist, das weiß niemand.

      »Das ist ein Familiengeheimnis«, grinst Vater Victor, wenn er darauf angesprochen wird. Von den Eltern, Geschwistern, Großeltern, Freunden und Verwandten wird Davide liebevoll Davie genannt.

      Davides Großeltern wohnen im Erdgeschoss des dreistöckigen Backsteinhauses in der Lerchenstraße Nummer sechs, die junge Familie Romano bewohnt das zweite und dritte Stockwerk. Die Erdgeschossbewohner- großeltern sind die Eltern von Davides deutscher Mama Laura.

      Die Eltern von Vater Victor sowie dessen unverheiratete Schwester Maria wohnen im Haus nebenan, direkt über dem Restaurant ‚La Toscana’, welches die Großfamilie Romano schon seit vielen Jahren betreibt, in der Lerchenstraße Nummer sieben.

      Christians Mutter Marie und Davides Mutter Laura kennen sich schon seit Kindertagen. Sie waren im gleichen Kindergarten, besuchten dieselbe Grundschule, das gleiche Gymnasium. Und viele Jahre später heirateten sie am selben Tag in derselben Kirche. Aber das mit dem Heiraten und der Kirche war ein Zufall. Laura und Marie hatten sich für ein paar Jahre aus den Augen verloren. Aber das ist eine andere Geschichte.

       2. Kapitel

      Christian und Davide spielen fast täglich zusammen Fußball, Handball oder Tischtennis. Bei schlechtem Wetter spielen sie gerne Domino, Mensch Ärgere Dich nicht oder Kartenspiele, im Baumhaus, im Garten hinter dem Haus bei den Romanos. Christian möchte auch ein Baumhaus haben. Ein größeres aber als sein Freund Davide. So groß, dass mehrere Kinder darin Platz finden, nicht nur zwei.

      »Im nächsten Jahr vielleicht«, meint der Vater zu Christians Bauplänen. Christian möchte nämlich auch noch Stelzen und ein Klettergerüst haben.

      »In diesem Jahr werde ich keine Zeit mehr finden, um den Baumeister zu spielen«, stöhnt Christians Vater. Aber Christian weiß, dass das nur gespielt ist. Sein Vater zimmert und schreinert für sein Leben gerne, am liebsten zusammen mit seinem Sohn.

      Christian und Davide sind Mitglieder: im Fußballverein der E-Junioren, in der Pfadfindergruppe der Wölflinge, im Taucherklub sowie im Tischtennisverein. Und jeden Sonntagvormittag besuchen die Freunde die Kindermesse in der Jakobskirche am Ende der Vogelsangstraße, gleich neben dem Spielplatz.

      Nach der Messe stöbern Christian und Davide meist noch in der Leihbibliothek der Kirchengemeinde. Die Auswahl der Bücher dort ist klein, aber Christian findet immer irgendein Buch, das ihn interessiert.

      Manchmal darf Christian nach dem Gottesdienst mit der Familie Romano im Restaurant zu Mittag essen. Das gefällt Christian sehr. Bei den Romanos ist immer was los. Da sitzen immer ganz viele Menschen am Familientisch. Große und kleine, alte und junge. Verwandte, Bekannte und Freunde, bunt durcheinander gewürfelt, aus vielen verschiedenen Ländern. Sie wissen immer viel zu erzählen. Und Christian hört immer gebannt zu.

      Am liebsten mag er die Geschichten von Davides Großmutter Felizitas. Sie weiß alles über Italien. Und sie erzählt sehr spannend, auch wenn sie kein ordentliches Deutsch spricht.

      Christian mag Davides Großmutter sehr. Und zudem kocht Oma Felizitas die besten Spagetti der Welt. Ihre Tomatensoße riecht nach Urlaub, nach Sonne, nach Meer, und Christian überfuttert sich immer, wenn er bei den Romanos zu Mittag isst.

       3. Kapitel

      Christian, von der Familie und Freunden Chrissie genannt, hat es eilig. Noch eiliger als an gewöhnlichen letzten Schultagen. Normalerweise läuft er mit Davide zusammen nach Hause. Aber heute nicht. In ein paar Stunden schon wird er mit seinen Eltern in Urlaub fahren. Da kann er nicht lange herumtrödeln und quatschen, wie die Freunde das sonst nach der Schule so tun.

      Christian macht sich nicht die Mühe den Reißverschluss seines Schulrucksacks zuzuziehen. Und er nimmt sich auch nicht die Zeit sich von seinen Schulfreunden zu verabschieden, auch nicht vom Mathelehrer, obwohl er ihn sehr mag. Er ruft nur: »Ich geh’ dann mal, Leute«, und stürmt aus dem Klassenzimmer.

      Die Sommerschulferienreise wird in diesem Jahr nach Kroatien gehen: zum Schwimmen, Paddeln und Tauchen. Christian und seine Eltern sind ausgesprochene Wasserratten. Die kleine Familie verbringt ihre komplette Freizeit in Wassernähe: an Flüssen und Seen, in Strandbädern und Freibädern.

      In den letzten Sommerferien waren sie an der Nordsee, vorletztes Jahr an der Ostsee, die Jahre davor am Bodensee und am Chiemsee. Dieses Jahr soll es zum ersten Mal an einen Badestrand im Ausland gehen. Nach Kroatien. Auf die Insel Krk. Und Christian ist ganz schön aufgeregt. So weit weg von Zuhause war er noch nie. Und er war auch noch nie in einem Land, wo man eine andere Sprache spricht.

      Christian hat schon ein paar Worte kroatisch gelernt, von Dario, seinem kroatischen Freund aus der Parallel- klasse. Molim heißt bitte. Und Hvala heißt danke. Da, heißt ja und nein heißt ne. Christian findet es ziemlich einleuchtend, dass nein ne heißt und da ja. Das kann er sich gut merken, das sagt er in der deutschen Sprache auch so. Warum Bok aber hallo und tschüß gleichzeitig heißt, das versteht er nicht.

      Dobar dan heißt guten Tag. Und dobar dan geht Christian leicht von den Lippen. Er begrüßt die Menschen in seiner Umgebung schon seit Tagen mit »dobar dan, Frau Wolf. Dobar dan, Frau Wagner. Dobar dan, Frau Mutter.


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