Großer Bruder sein. Gisela Sachs

Großer Bruder sein - Gisela Sachs


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Rucksack kommen noch: sein geliebtes Kakerlaken-Poker-Spiel, zwei Tischtennisschläger, ein 6er Set gelber Tischtennisbälle, seine sonnengelbe Taschenlampe und zwei seiner unzähligen Piratenbücher. Und ganz unten im Rucksack schlummert Judy, sein zerkuscheltes braunes Plüschäffchen, das nur noch ein Auge hat. Seine Mama hatte ihm Judy zum ersten Geburtstag geschenkt. Und Christian verreist nie ohne Judy. Aber das weiß außer der Familie niemand.

       6. Kapitel

      Christian joggt die gesamte Strecke von der Schule bis nach Hause, ohne eine Pause einzulegen. Er ist ziemlich erschöpft, als er in der Vogelsangstraße Nummer eins ankommt. Seine Haare sind klatschnass geschwitzt, das Gesicht rot wie eine reife Tomate und er schnauft wie eine alte Dampflok, die mit zehn Waggons einen Berg hinaufkeucht.

      Christian nimmt seinen Schulrucksack von den Schultern, zieht ein paar zerknüllte Papiertaschentücher zwischen seinen Büchern hervor und wischt sich die Schweißperlen von der Stirn. Dann fährt er sich mit gespreizten Fingern durch die dunkelblonden Haare und stöhnt: »Durst! Mann oh Mann, was habe ich einen Durst!« Christian sagt es im gleichen Tonfall wie sein Vater, wenn er abends vom Feld heimkommt, was die Mutter immer sehr amüsiert. Die Schneiders sind eine fröhliche Familie.

      Im zweiten Stock des Backsteinhauses geht ein Fenster auf. Frau Müller schüttelt ihren Badezimmerläufer aus. Frau Müller schüttelt immer irgendetwas aus irgendeinem ihrer Fenster. Aber in Wirklichkeit putzt sie gar nicht, sie ist nur neugierig, meint Christian.

      »Du bist schon da, Chrissie?«, flötet Frau Müller zuckersüß. »Du bist aber früh dran heute, Chrissie!«

      »Guten Tag, Frau Müller«, antwortet Christian artig, aber ohne zum Fenster hochzuschauen.

      »Du bist doch nicht etwa krank, Chrissie?«

      »Deine Haare sind ja ganz nass geschwitzt, Chrissie!«

      »Du hast doch nicht etwa Fieber?«

      Christian gibt keine Antwort und beachtet Frau Müller auch nicht weiter. Er mag die Mieterin seiner Eltern nicht. Immer hat Frau Müller irgendwelche Fragen an ihn. Und immer ganz viele auf einmal.

      »Wo gehst du hin, Chrissie?«

      »Wann kommst du wieder, Chrissie?«

      »Ist die Kinderkirche schon aus, Chrissie?«

      »Du hast doch nicht etwa den Kommunionsunterricht geschwänzt, Chrissie?!«

      »Deine Schnürsenkel sind auf, mein Junge!«

      »Merkst du das denn nicht?«

      »Du wirst darüber stolpern, mein Junge.«

      Christian mag es nicht leiden, wenn Frau Müller ‚mein Junge’ zu ihm sagt. Er verspürt dann immer ein unangenehmes Kribbeln im Bauch. Und sein Hals wird eng. Christian wird wütend, wenn Frau Müller ihn so viel fragt.

      »Dabei geht es Frau Müller doch gar nichts an, wo ich hingehe und wann ich heimkomme und ob ich spät dran bin oder früh, und ob meine Schnürsenkel offen sind oder nicht«, beschwert sich Christian bei seiner Mutter. »Und zudem bin ich nicht ihr Junge!«

      »Sie ist eine alte Frau, Chrissie.

      »Na und! Wenn sie alt ist, muss sie mich trotzdem nicht ausfragen.«

      »Ach Chrissie. Mit alten Menschen muss man Nachsicht haben.«

      Manchmal äfft Christian Frau Müller nach. Er zieht dann die Augenbrauen nach oben, reißt die Augen weit auf, wackelt mit dem Kopf und verstellt seine Stimme so in etwa wie die Hexe bei Hänsel und Gretel, als sie bemerkt hatte, wie die Kinder die Lebkuchen vom Knusperhäuschen gegessen haben.

      Christian streckt seinen gekrümmten Zeigefinger hoch in die Luft und krächzt.

      »Du bist schon da, Chrissie? Du bist heute aber früh dran, mein Junge.«

      »Du hast doch wohl den Kommunionsunterricht nicht geschwänzt, Chrissie.

      »Wo gehst du denn hin, Chrissie?«

      »Du bist heute aber spät dran, Chrissie!«

      »Ist die Kinderkirche schon aus, Chrissie?«

      »Was gibt’s denn bei euch heute zum Essen, Chrissie?«

      »Es riecht nach Fisch!«

      »Deine Schnürsenkel sind ja schon wieder offen. Merkst du das denn nicht? Du wirst darüber stolpern, mein Junge!«

      Aber für dieses Verhalten gibt es Fernsehverbot. Und weil Christian sowieso nur einmal in der Woche fernsehen darf, lässt er die Nachäfferei von Frau Müller lieber sein. Vor seinen Eltern jedenfalls. In der Schule und in der Pfadfindergruppe sind Christians Frau-Müller-Vorstellungen aber sehr beliebt. Und auch der Opa muss darüber herzlich lachen.

       7. Kapitel

      Im Schaufenster des Blumenladens hängt ein Plakat.

      ‚Wir machen Urlaub vom 30. Juli bis 30. August. Ihre Familie Schneider’.

      Christian steht davor und grinst. Die Leinwand für das Plakat hatte er vor vielen Wochen schon bemalt. Und heute ist es endlich soweit. Christian führt zum zweiten Mal an diesem Tag seinen Indianerfreudentanz auf. Er hüpft in die Luft, erst mit dem rechten Bein, dann mit dem linken Bein. Er dreht sich dabei im Kreis wie Rumpelstilzchen und trommelt mit beiden Händen auf seinen Mund, ruft laut: »Uuurlauuub. Uuurlauuub. Uuurlauuub.«

      Christian brüllt so laut, dass Frau Müller vor Schreck den Läufer aus dem Fenster fallen lässt. Sie schaut dem Läufer hinterher, bis er auf dem Boden gelandet ist. Und als Christian in Frau Müllers Gesicht sieht, bekommt er einen Lachanfall. Frau Müller sieht wie eine verdutzte Eule aus.

      Wenn Christian einmal richtig lacht, dann hört er so schnell nicht auf damit. Er hält sich mit beiden Händen den Bauch fest und lacht, bis ihm die Tränen übers Gesicht laufen.

      »Das ist doch eine Unverschämtheit!«, keucht Frau Müller entrüstet.

      »Mich auszulachen!«

      »Wo gibt’s das denn?«

      »Keinen Respekt haben die jungen Leute mehr vor den Alten!«

      »Und überhaupt, so ein Geschrei zu machen!«

      »Und das am hellen Tag!«

      »Wo gibt’s das denn?«

      »Schäm’ dich, Christian Schneider!«

      Ihr eiskalter Eulenblick durchbohrt Christian.

      »Das werde ich deinen Eltern erzählen, Christian Schneider. Darauf kannst du dich verlassen!«

      Frau Müller sieht Christian so grimmig an wie der Wolf das Rotkäppchen, bevor er es gefressen hat. Dann klatscht sie das Fenster so heftig zu, dass Christian sich die Hände vors Gesicht hält, weil er einen Glasscherbenregen befürchtet. Er schüttelt den Kopf, murmelt »Blöde Müllerkuh!« und wendet sich wieder dem Plakat zu.

      Die Sonne lacht ihm entgegen. Und Christian lacht zurück. Er sieht das Meer vor sich, Segelschiffe, große und kleine Boote, kleine und große Menschen in Badekleidung und Taucheranzügen, Sandburgen, Seepferdchen, Muscheln und viele bunte Fische. Auch Pinguine. Obwohl es in Kroatien am Strand natürlich keine Pinguine gibt. Aber Pinguine sind Christians Lieblingstiere. Und er malt sie auf alle Bilder, auch auf die Weihnachtsbilder, die er jedes Jahr für Oma und Opa anfertigt. Die Pinguine tragen dann eben schneebedeckte Zipfelmützen, rote Schals und auf den Flossen leuchten winzigkleine goldene Glitzersterne.

      Christian ist stolz auf sich. Das Plakat ist ihm wirklich gelungen. Er kann gut malen, sehr gut sogar. Im Fach Bildnerisches Gestalten bekommt er immer eine Eins.

      »Eine Eins mit ganz vielen Plussies dahinter«, scherzt seine Lehrerin Frau Schulze jedes Mal, wenn sie ihm eine benotete Arbeit zurückgibt. Frau Schulze ist Christians Lieblingslehrerin.

      Frau


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