DSA: Rabenerbe. Heike Wolf

DSA: Rabenerbe - Heike Wolf


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in dem Said bald die Hälfte seines Lebens verbracht hatte, seit sein Vater ihn in Meister Darjins Obhut übergeben hatte.

      Ein sternenklarer Nachthimmel stand über der Stadt, als Said den Hai verließ und sich auf den Rückweg machte. Er hatte die Spelunke unbemerkt durch ein Hinterfenster verlassen, während sich das Feuer hinter ihm langsam durch die Dielen des Schankraums fraß. Wenn er Glück hatte, reichte der Brand aus, um zu verschleiern, was geschehen war. Wenn nicht, würde die Hand Rache nehmen, doch darüber mochte er jetzt nicht nachdenken. Niemand wusste, wer er war, und er hatte nichts zurückgelassen, was ihn oder Meister Darjin verraten konnte. Dafür hatte er das Auge in der Tasche, das ihn endlich frei machen würde.

      Öllampen brannten hinter den Fenstern der Mietskasernen und warfen ihr schummriges Licht hinaus auf die Gassen, als er schließlich in die Baracken eintauchte. Aus einer Taverne tönte lautes Lachen und Johlen, vom Hafen her klangen die Peitschenhiebe der Vorarbeiter, die die Lastsklaven zur nächtlichen Arbeit antrieben. Said zog den Mantel tiefer ins Gesicht, während er den stinkenden Pfützen auswich, die der nächste Regen ins Meer spülen würde. In den Baracken fragte niemand nach dem Woher und Wohin, und dennoch hatte er es sich angewöhnt, Betrunkenen und anderen Nachtschwärmern aus dem Weg zu gehen. Unauffälligkeit war seine wichtigste Waffe, und wenn er schon kein Allerweltsgesicht hatte wie der unglückliche Agent der Hand, so musste er umso mehr achtgeben, nicht unnötig aufzufallen.

      Billige Huren und eine Handvoll betrunkener Gaukler hatten sich auf dem Platz vor dem Tempel eingefunden und krakeelten trunken in die Nacht, als Said sich an ihnen vorbeischob und in einer der dunklen Seitengassen verschwand. Meister Darjin lebte im Hinterhaus einer alten Mietskaserne, die fast ausschließlich von Maraskanern bewohnt war. Die meisten waren miteinander auf irgendeine Weise verwandt, auch wenn Said bald aufgegeben hatte, die Beziehungen nachvollziehen zu wollen. Die Verbundenheit unter den Exilanten sorgte jedoch dafür, dass nichts von dem, was im Hinterhaus geschah, nach außen drang. Das war auch gut so, denn Meister Darjin gehörte einst zur Bruderschaft vom Zweiten Finger Tsas, jener maraskanischen Meuchlergilde, die die Hand Borons in ihrer Stadt mit Stumpf und Stiel ausgerottet zu haben glaubte. Said wusste nicht, was damals genau geschehen war, aber er war sich sicher, dass die Hand nicht zögern würde, auch die letzte Saat zu vernichten, sollte sie von ihr erfahren.

      Said durchquerte den düsteren Innenhof und stieg die hölzernen Stufen empor, die an der Außenwand des Gebäudes angebracht waren. Vereinzelt drang Licht aus den Fensteröffnungen, die wegen der mittäglichen Hitze kaum breiter waren als ein Spann. Oben angekommen verharrte er kurz und lauschte hinab in den Hof, ehe er zwei Mal klopfte und die Tür einen Spalt weit aufschob, um hineinzuschlüpfen.

      Drinnen empfing ihn das Licht einer einzelnen Öllampe, die den Raum nur spärlich ausleuchtete. Entlang der Wände hatte man eine schmale Bank angebracht und davor einige Sitzkissen. Zerschlissene Vorhänge versperrten den Blick auf die angrenzenden Räume, aus denen das Gemurmel mehrerer Stimmen drang. Der Geruch nach gewürztem Reis, Konchsoße und Ingrim hing in der Luft wie ein schweres Parfüm, ein vertrauter Geruch über die Jahre, die er in diesem Haus verbracht hatte.

      »Saidjian.« Rureschas dunkle Stimme erklang hinter einem der Vorhänge, der im nächsten Moment zur Seite geschoben wurde. Ein Lächeln lag auf ihren herben Zügen, als sie hindurchtrat und ihn einen Moment lang musterte. »Nuradjian hatte Zweifel, dass du es schaffen würdest. Aber ich sehe, du hast die Beute mitgebracht.«

      Said warf einen Blick auf den Beutel an seinem Gürtel. »Du hast doch hoffentlich nicht daran gezweifelt?«, fragte er und hob einen Mundwinkel zu einem schiefen Grinsen. »Ich habe dir etwas versprochen. Du weißt, dass ich Wort halte.«

      »Ich weiß. Und Meister Darjin weiß es auch. Nur Nuradjian, dieser dumme Schazak, nicht.« Rureschas Lächeln vertiefte sich, als sie auf ihn zutrat, und zauberte kleine Grübchen in ihre Wangen. »Ich könnte nie an dir zweifeln«, raunte sie an seinem Ohr und legte die Hand an seine Wange, um ihn im nächsten Moment innig zu küssen.

      Said zog sie an sich heran, während er den Kuss ebenso stürmisch erwiderte. Die junge Maraskanerin teilte seit einem guten Jahr sein Lager, und auch, wenn sie nie darüber gesprochen hatten, spürte Said, dass es ihr mehr bedeutete als flüchtiges Vergnügen oder der Wunsch, nicht allein zu sein.

      »Ich freue mich, dass ich dich überzeugen konnte«, flüsterte er atemlos an ihren Lippen, nachdem sie sich wieder voneinander gelöst hatten. »Ist Meister Darjin da? Ich sollte ihn nicht warten lassen.«

      Rurescha nickte. Ihre Hand ruhte noch einen Moment auf seiner Wange, ehe sie sie sinken ließ. Sie wies mit einer Kopfbewegung auf den Durchlass gegenüber der Eingangstür. »Die hohen Geschwister waren vorhin bei ihm, aber nun ist er alleine.« Ein wissendes Lächeln strich über ihr Gesicht. »Er wird erfreut sein.«

      Das hoffte Said. Es war schließlich Meister Darjins Rache, die er verübt hatte. Der Agent der Hand hatte vor vielen Jahren Darjins rechtes Auge genommen, und dafür musste er bezahlen. Ein Auge für ein Auge, um die Dinge wieder ins Gleichgewicht zu bringen und die Schönheit der Welt zu wahren. Nur der Tod des Wirts passte nicht ins Bild, aber Said hatte diese Disharmonie bereitwillig in Kauf genommen. Er war kein Maraskaner, und auch, wenn er im Laufe der Jahre viel über die Philosophie und das Wesen seiner Umgebung gelernt hatte, drehte sich die Welt für ihn auch dann weiter, wenn sie einmal nicht im Gleichgewicht war.

      Der angrenzende Raum war eine niedrige Halle mit Dachgebälk und einigen aranischen Wänden aus Holz oder Flechtwerk, die einzelne Bereiche abtrennten. Das Haus war früher einmal in viele, kleine Verschläge unterteilt gewesen, die für wenige Oreal an jene Verzweifelte vermietet wurden, die froh waren, überhaupt ein Dach über dem Kopf zu haben. Die Maraskaner hatten es ihren Bedürfnissen angepasst und die Räume erweitert, um sie je nach Bedarf zu unterteilen. Bis zu dreißig Menschen lebten hier, aber im Gegensatz zu der drückenden Enge der Mietskasernen gelang es ihnen, das Zusammenleben harmonisch zu gestalten. Während tagsüber unentwegt Leute kamen und gingen und ein stetes Surren und Brummen der Stimmen so allgegenwärtig war, dass man es kaum noch wahrnahm, war es jetzt am späten Abend ruhig geworden. Auf einer Palmmatte saß eine junge Frau mit zwei kleinen Kindern auf dem Schoß. Sie schaute auf, als Said eintrat, und lächelte kurz, fuhr dann aber fort, in einem hölzernen Mörser Gewürze zu zerreiben. Ihr gegenüber hockte ein hagerer Mann, der an einem Stück Treibholz schnitzte. Sein Blick heftete sich einen Moment lang an Saids Gesicht, ehe er kaum merklich nickte.

      Said erwiderte den Gruß des Wächters mit einer angedeuteten Kopfbewegung und trat an ihm vorbei zu der Wand, die den hinteren Bereich abtrennte.

      Meister Darjins Reich war das Herz des Hinterhauses, jener Ort, wo man zusammenkam und wo man Hilfe und Rat fand, wenn man danach suchte. Es gab kaum Möbel, nur zwei niedrige Tische und eine Unzahl an Sitzkissen. Der alte Maraskaner saß mit untergeschlagenen Beinen auf einem der zerschlissenen Kissen, dessen Farben im Laufe der Jahre ihre Leuchtkraft eingebüßt hatten. Sein Gesicht war eingefallen, sodass Wangenknochen und Kinn spitz hervorstanden. Die Haare waren an den Schläfen bereits ergraut und am Hinterkopf hochgebunden, den schütteren Bart hatte er in dürre Zöpfe geflochten. Eine Stoffbinde verbarg die leere Augenhöhle, während das andere Auge Said wach und aufmerksam entgegenblickte. Er war nicht allein, zu seinen Füßen kauerte das blutjunge Mädchen, das er erst kürzlich zur Frau genommen hatte, und neben ihm hockte Nuradjian, der Said neugierig entgegensah.

      Meister Darjin wartete, bis Said sich ehrerbietig verbeugt hatte. Erst dann wies er auf eins der Kissen. »Du lebst, also warst du erfolgreich.« Es war keine Frage, lediglich eine Feststellung. »Du hast mir gebracht, worum ich dich gebeten habe?«

      Said nickte und löste den Beutel vom Gürtel, um ihn vor dem alten Meister abzulegen. Dann ließ er sich nieder, die Beine untergeschlagen. »Er ist der Schwester entgegengetreten.«

      »In aller Stille, hoffe ich?« Darjin hob fragend die schütteren Brauen, zog dann aber den Beutel zu sich heran und öffnete ihn. Ein zufriedener Zug glitt über sein Gesicht, ehe er ihn wieder sorgsam verschloss und zur Seite legte. »Preiset die Schönheit der Welt, der du das Gleichgewicht zurückgegeben hast. Ich bin zufrieden mit dir, Said. Sehr zufrieden.«

      Said nickte erneut. Seine Mundwinkel zuckten, als er vergeblich versuchte,


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