Versuch einer Ethik im Zeitalter globaler Bedrohung. Richard Bletschacher

Versuch einer Ethik im Zeitalter globaler Bedrohung - Richard Bletschacher


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seines Inneren und Zwängen des gemeinschaftlichen Lebens, nicht in allem gerecht werden kann. Wer sich große Mühe gegeben hat, auf den rechten Weg zu finden, mag als ein Suchender nicht immer gewusst haben, was an all den Krümmungen und Kreuzungen seines Weges zu tun sei. Immer jedoch darf er sich, wie vom Dämon des Sokrates geleitet, gewarnt fühlen vor dem, was er zu lassen habe. Wir mögen einander stets aufs Neue belehren über das Schreckliche, das geschehen ist durch Unseresgleichen. Mehr jedoch ist zu wünschen, dass wir wieder Halt aneinander suchen, zumal in den Zeiten einer Pandemie, um uns vor diesem und noch größeren Übeln zu bewahren, die drohen in der Zukunft über uns zu kommen.

      Nun wird man mir zugestehen, dass ich diesen Text keinen Traktat zur Belehrung oder gar Maßregelung meiner Mitmenschen nennen will, sondern nur eben eine Untersuchung am lebenden und leidenden Objekt und eine Suche nach einem Pfad zu besserem gemeinsamen Leben. Denn, dass die Welt trotz aller Wundertaten der Technik im Argen liegt und unter unserem oft ebenso achtlosen wie gewalttätigen Zugriff in ihrer Existenz bedroht ist, daran wird kein Hellsichtiger zweifeln.

      EINLEITUNG

      Wenn das Schrifttum eine Sendung hat, so kann es die sein, den Selbstmord der Menschheit zu verhindern.

      (Johannes Urzidil)

      Wer eine befriedigende moderne Ethik der menschlichen Beziehungen schreiben will, muss vor allem die notwendigen Begrenzungen menschlicher Macht über die außermenschliche Umwelt und die wünschenswerten Einschränkungen der Macht der Menschen übereinander erkennen.

      (Bertrand Russel)

      Es ist das große und, wie es scheint, nicht enden wollende Bestreben des menschlichen Denkens, sich zu fragen, wie wir auf unserem Weg durch die Wirrnisse dieser Welt vorangehen und handeln sollen, wohin wir gelangen sollen und was wir hoffen dürfen zu erreichen. Die Antwortversuche auf diese Frage sind ohne Zahl, denn die für unser aller Dasein fruchtbringendsten Zweige des viel verästelten Fragebaumes unseres Geistes sind die, die sich nach Erkenntnis recken, nach Auskunft über die Entstehung des Lebens, um es zu erhalten, nach den Bedingungen unseres Handelns und nach dem, was uns in Zukunft beschieden sein mag. Es gibt nicht wenige, die meinen, es sei das Beste, auf den Erfindungsgeist des Menschen zu vertrauen und uns nur irgendwie mit dem zu behelfen was geschieht. Das mag in Zeiten und Kulturen hingegangen sein, in denen man im ererbten Haus nach der Sitte der Altvorderen lebte und im Übrigen den Göttern oder einem aus ihren Reihen Gesandten das Amt überlassen hatte, die Welt zu lenken. Seit aber rings um uns so viele, mündig geworden, sich nicht weiter lenken lassen wollen und den Anspruch erheben, in Belangen der allgemeinen Wohlfahrt selbst das Wort zu ergreifen, seit ein jeder sich müht, es dabei dem anderen zuvorzutun, haben sich im Gestrüpp dieses wild wachsenden Treibens und Zerrens die Meinungen, Urteile und Erwartungen vielfach neu gebildet.

      Wenn man den Fortgang unseres Lebens als den kurzen und gefahrvollen Weg von einer undurchschaubaren Finsternis in eine andere bezeichnen darf, so wird man daraus leicht verstehen, dass wir trotz allem sich mehrenden Eigensinns noch immer nach Vorbildern Ausschau halten, nach Kundschaftern, die uns vorausgegangen sind, oder nach Weggefährten, die uns Halt versprechen und denen wir vertrauen können, um nicht zu straucheln. Ihnen verdanken wir die Leitlinien der Ethik, die uns seit zweieinhalbtausend Jahren auf diesem Weg begleitet haben, wenngleich sie nicht auf alle unsere Fragen Antworten zu geben vermochten. Warum und zu welchem Ziel wir unterwegs sind, darüber geben sie keinen Aufschluss. In ihrem Bemühen, uns vom Verderblichen abzuhalten, geraten auch sie immer aufs Neue in unwegsames Gebiet, auf Holzwege, die der Philosoph Aporien nennt, ohne uns dadurch weiter zu helfen. Und darum soll, was hier geschrieben wird kein Lehrbuch werden, das unterrichten will, sondern ein Nachdenkbuch, das unser Handeln und Lassen prüft in einer Zeit erstaunlicher Möglichkeiten und beängstigender Bedrohungen. Es ist an uns zu erkennen, dass wir in einer Epoche leben, die sich mit keiner vorhergehenden vergleichen lässt. Denn wir haben, seit uns Forschung und Technik neue, weit ausgreifende Instrumente in die Hand gegeben haben, nicht allein für unser eigenes und das Leben unserer Nächsten Sorge zu tragen, sondern für die Erde insgesamt. Wenn man manche der Eingriffe des Menschen in die Natur mit Schrecken wahrnehmen muss, will es einem scheinen, als hätten viele von uns den Instinkt verloren, der uns so lange sicher geleitet hat. Die Folgen unserer Handlungen sind von Einzelnen nicht mehr zu verantworten. Darum tut es Not, die Maximen unseres Handelns wiederum zu prüfen und zu urteilen, ob sie als Vorbild für ein allgemeines Tun und Lassen noch gelten können. In unserer Hand liegt mehr denn je das Wohl und Wehe allen Lebens auf diesem blauen Planeten.

      Warum die Forderung nach einer neuen – oder doch zumindest um neue Dimensionen erweiterten – Ethik nicht allein an dieser Stelle, sondern vielerorts zu Recht und immer deutlicher erhoben wird, muss nicht lang begründet werden. Wenn die Philosophen von Leibniz bis Hegel an eine allmählich fortschreitende moralische Veredelung des Menschen und an deren Vollendung in der Zukunft als anzustrebendes Ziel glaubten, so haben wir, auch wenn einige die Hoffnung oder auch nur die trotzige Pflichterfüllung zum Prinzip erhoben haben, daran schmerzlich zu zweifeln begonnen.

      Die beiden vergangenen Jahrhunderte haben sich abgekehrt von guten wie von schlechten Bräuchen, von kirchlichen Dogmen und von Zukunftsentwürfen der Amerikanischen, der Französischen und der Russischen Revolutionen; sie haben den Wunschtraum der Freiheit missbraucht, um die Triebe der Habgier zu entfesseln. Sie haben neue Richtlinien einer liberalen Ethik geschaffen aus dem Recht, das der Stärkere gewann über den Schwächeren, der Reiche über den Armen und der Listige über den Arglosen. Macht über Macht, Raub über Raub, Betrug über Betrug und Wollust über Wollust waren die Ziele der Kolonisatoren, der Ausbeuter, der Rassenfanatiker, der Militärdiktatoren und sind weiterhin das Ziel der transnationalen Profitmaximierer. Die Zeitungen sind noch immer voll von Klagen darüber und zugleich von Bekundungen der Unterwerfung. Der Dienst der Medien an der Klasse der Reichen und Schönen ist Reklame und Propaganda einer nur mehr dem gemeinen Wohlbefinden verpflichteten Moral. Ihr Lohn ist der der Teilhabe an Macht und Gewinn. Und schon ist auch die Zeit gekommen, dass die bildmächtigen Medien den Gazetten das Wort abschneiden, kaum dass sie es ergriffen haben. Als geschehen gilt seither nur mehr das, worüber berichtet wird. Wahr ist, was von Lautsprechern oftmals und immer wieder behauptet wird. Gerecht ist, was der Markt erfordert. Der Markt, so heißt es, ordne sich selbst. Er allein habe die Kraft der Selbstreinigung. Das Verderbliche verdirbt, so heißt es, und das Gesunde gedeiht. Die Gier betreibt das Geschäft und das Geschäft bestimmt den Erfolg. Und der Erfolg wird in Geld und öffentlichen Auftritten gemessen. Dahin hat es der Mensch gebracht. Er hat die Popstars und Finanzhaie, die Tycoons, die Filmbosse und die Zeitungsmogule, die Bestsellerautoren, die Warlords und Drogenbarone auf die verwaisten Stühle der Könige, Richter, Priester und Lehrer gesetzt. Und die Lobbyisten wirken nun mit an den Gesetzen, im Auftrag der transkontinentalen Vervielfältiger privater Profite. Längst hat die aller staatlichen Kontrolle entzogene anonyme, globale Wirtschaft die Führung der Geschäfte übernommen und hinter und über ihr die von allen materiellen Sicherheiten abgehobene Macht der Finanzen.

      Zwar sind aus allen Zeiten und Kulturen schreckensvolle Nachrichten zu uns gekommen, doch haben Verbrechen eines übergroßen Maßstabs erst in der Neuzeit als der Epoche der Kolonisation in den neu entdeckten Ländern jenseits des Atlantik und im fernen Pazifik durch die europäischen Seemächte ihren Anfang und endlich in unseren eigenen Höfen durch ideologische Kriege, Vertilgung anders Denkender und Rassenwahn ihren Fortgang genommen. In der Neuzeit, die in abstrakter Theorie das Menschleben zu ihrem höchsten Wert erhoben hat, wurden so viele Menschen getötet oder auch ohne bestimmte mörderische Absicht dem Tod ausgeliefert wie in keiner anderen Epoche. Nach dem Völkermord an den Indigenen in Amerika und der Versklavung der Schwarzen erreichten die Massenmorde ihren Höhepunkt in den Rassen- und Klassenkämpfen, Kriegen und Vernichtungslagern des 20. Jahrhunderts. Der Philosoph und Friedensaktivist Günther Anders hat unter dem Eindruck der Bomben auf Hiroshima und Nagasaki an den französischen Philosophen Gabriel Marcel geschrieben, dass der Abstand zwischen dem, was der Mensch bewirken, und dem, was er verantworten könne, inzwischen längst zu groß sei, um überbrückt zu werden. Wenn auch der Schrecken über die neuen Vernichtungsmittel der beiden Weltkriege die Welt einen Augenblick hat einhalten lassen, so musste man doch bald erkennen, dass das bedenkenlose Morden auch seither kein Ende genommen, sondern sich vielfach in unverminderter Grausamkeit


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