Versuch einer Ethik im Zeitalter globaler Bedrohung. Richard Bletschacher

Versuch einer Ethik im Zeitalter globaler Bedrohung - Richard Bletschacher


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unserem Zeitalter, das wie keines jemals zuvor in ständiger politischer Verwandlung lebt. Nach dem Niedergang des Kommunismus werden viele Staaten vom wirtschaftlichen und, diesem nachfolgend, vom politischen System des Kapitalismus beherrscht. Kapitalismus, der die wesenlose Abstraktion des Besitz- und Verfügungsgedankens in der Geldwirtschaft über materielle Güter in den Mittelpunkt stellt, und der – begrifflich – als Brandmarkung erdacht worden war, scheint den Machthabern unserer Gesellschaft nun aller Ehren wert geworden zu sein. Doch unversehens hat sich einst fest gegründetes Eigentum in flüchtiges Kapital verwandelt, hat sich als reiner Buchungswert von den handgreiflichen Münzen und Banknoten abgelöst und ist in den Augen vieler in den Rang einer Idee aufgestiegen, ganz so, als sei es ein Wert außerhalb irdischer Belange und durch nichts in Zweifel zu ziehen. Als sei es einem jeden erreichbar, wenn er nur andere Ziele beiseite setze, und als könne dieser Wert des Geldes ihn belohnen und rechtfertigen durch die Gaben wirklichen Lebensgenusses. Wir aber haben nach den jüngsten Malversationen exponierter Kapitalisten eine erste Ahnung verspürt, dass einem solchen längst außer jede moralische Bindung geratenen Wert ein Makel der Verderblichkeit unausrottbar anhaften muss. Es mehren sich Stimmen, die nach neuen Werten rufen, nach solchen, die sich nicht in Zahlen angeben lassen. Die Restitution einer überregionalen, Welt umgreifenden, alles Handeln anleitenden Überzeugung rufen sie nun herbei. Was dem Wohl und was dem Weh der Menschen diene, wollen sie wieder erkennen und nicht nur was den Interessen derer nutzbringend ist, die für die kurze Dauer eines Lebens dem Fetisch des Geldes anhängen. Was hilfreich ist, wollen sie wissen, hilfreich den Menschen, einem jeden Einzelnen und allen in Gemeinschaft und deren Hoffnungen auf ein Überleben ihrer selbst und des Planeten, den sie gemeinsam mit allen anderen Lebewesen dankbar bewohnen. Und in der Tat, wenn wir bei aller neuen Verantwortung die immer wieder mühsam erkämpfte Freiheit des menschlichen Geistes bewahren wollen, ist es Zeit geworden für eine solche Besinnung.

      Auch wenn das ratlose Taumeln der westlichen Gesellschaften den Anlass gegeben hat zu neuem Nachdenken über die Möglichkeiten eines Zusammenlebens der Menschen, so muss doch von allem Anfang an gesagt sein, dass hier eine Untersuchung mit dem Ziel einer Prüfung überlieferter und einer Erwägung neuer Werte, nicht aber im Hinblick auf politische Systeme geschehen soll. Diese haben sich, wie ihre Vorgänger, verdächtig gemacht und sind für Zwecke missbraucht worden, die mehr, wie Max Weber es nannte, dem Machterwerb, der Machtausübung und dem Machterhalt dienten als dem Wohl der Menschen. Die Ordnungsmächte haben Rechte der belebten Natur allzu lange aus dem Blickfeld verloren. Dem Interesse aber allen Lebens und endlich auch des alles Leben nährenden Erdballs muss eine neue Bemühung um ethische Ordnungen dienen und nicht den Aspirationen einer politischen Ideologie oder den vorgeprägten Zielen einer religiösen Überzeugung. Dies kann allein von Menschen geschehen, von einzelnen Menschen, die ohne Ansehen von Parteien nach eigenem Wissen und Gewissen prüfen und entscheiden.

      Noch steht es schlecht um unsere Achtung anderen Lebens. Denn nur wo das Wohlergehen der Spezies Mensch gesichert scheint, kann auch Rücksicht genommen werden auf das, was da sonst noch kreucht und fleucht auf der geduldigen Erde Rücken. Und letztlich gilt dem Lebenden selbst das Leben in seinen vieltausend Gestalten mehr als alle unbelebte Natur und alle himmlische Sternenpracht. Dies jedenfalls solange als er nicht auch in diesen die Spuren vergangenen oder die Nahrung zukünftigen Lebens entdeckt. Da alles Leben sich wandelt und nicht immer so sein wird, wie es einst war, ist wohl auch keine Antwort zu erhoffen, die für alle Zeiten und unter allen wechselnden Bedingungen die rechte wäre. In Zeiten, als in jedem Fluss ein Gott wohnte und in jedem Baum eine Nymphe, in denen die Sterne einzugreifen schienen in die Geschicke der Menschen, hat man unsicher seine Schritte auf den Boden der Tatsachen gesetzt. Heute aber, da wir glauben, alles messen und wiegen zu können, wäre es an der Zeit, nicht nur in makroskopischen, sondern auch in mikroskopischen Bereichen zu erkennen, dass sich vieles unserem Zugriff entzieht. Und mancher wird nach und nach zu verstehen lernen, dass der alte Weise nicht ganz im Unrecht war, als er in der Sprache seiner Epoche sagte: alles sei voll von Dämonen. Wir haben diese Dämonen zu erkennen gelernt als die aller Materie im subatomaren Bereich innewohnenden Kräfte und Energien, die die Macht haben, auf unmessbare Weise zu gestalten und zu zerstören.

      Man hat dem Menschen Bedürfnisse zugeschrieben, deren Erfüllung seine Autonomie begründen und ihm ermöglichen könnten ein selbstbestimmtes Dasein zu führen. Es sind dies: Leben, Nahrung, Geborgenheit, Fortpflanzung, Freiheit, Besitz, Anerkennung, Liebe, Teilhabe und Erkenntnis. Diese Bedürfnisse erscheinen in jedem Individuum unterschiedlich ausgebildet. Und manch einer hat geglaubt, auf das eine oder andere weitgehend oder sogar ganz verzichten zu können. Er hat sich Beschränkungen auferlegt, sich in Klöster und Einsiedeleien oder nur eben in seine vier Wände zurückgezogen. Er hat sich äußere Freiheiten genommen, um sich innerlich zu befreien. Er hat die Güter dieser Welt zurückgewiesen, als da sind Besitz, Anerkennung, Teilhabe, Nahrung und Geborgenheit, um sich der Liebe oder der Erkenntnis zu widmen. Auch wurde und wird andererseits noch immer dem einen oder anderen der Entzug eines seiner Bedürfnisse aufgezwungen, sei es durch Gefangennahme, Verbannung, Beschlagnahmung von Besitz, Teilhabebeschränkung oder durch Liebesentzug und Verweigerung von Anerkennung. Aller Lohn und alle Strafe werden dem Menschen von Seinesgleichen durch Gewährung oder Verweigerung dieser Güter zugemessen. Und so erscheinen als der höchste Lohn die Liebe und die Anerkennung und als die schwerste Strafe der Tod oder die Ausstoßung aus der menschlichen Gemeinschaft.

      Neun dieser Grundbedürfnisse erfüllen die Bedingungen des Lebens in der menschlichen Gemeinschaft. Das zehnte aber weist darüber hinaus. Dem Menschen, der seine eigene Vergänglichkeit vor Augen hat, ist ein nicht zu stillendes Verlangen eingeschrieben nach der Erkenntnis eines unwandelbar Gesicherten, eines über jeden Zweifel Erhabenen. Und darum findet er an dem Gefundenen schon bald kein Genügen mehr. Wenn Baruch de Spinoza ein Gebäude der Erkenntnis aus logischen Schlüssen auf Axiomen errichtet, die von der Allmacht einer alles Sein umfassenden und in allem wirkenden überpersönlichen Gottheit ausgehen, so hält Bertrand Russel dagegen, eine solche Sehnsucht nach dem Absoluten sei zu verstehen aus der Furcht des Menschen vor dem Vergehen im Tod; sie sei zu verstehen aus seiner Unfähigkeit, abzusehen von sich selbst als dem Subjekt allen Erkennens, und aus der Unfähigkeit, sich die Welt, das Objekt solchen Erkennens, losgelöst vom Betrachter auch nur vorzustellen. Um eben diese Sehnsucht zu stillen, haben alle Religionen etwas Unwandelbares hinter aller Wandlung der Dinge versprochen, sei es das ewige Leben, das letzte Gericht, die Wiedergeburt, die ewige Wiederkehr oder den Kreislauf der Erscheinungen. Selbst das Nirwana des Buddhismus wäre nicht vorstellbar ohne die ewig unveränderbare Gültigkeit eines jenseits alles Irdischen waltenden und alles Sein durchdringenden Reiches des Nichts.

      Da nun aber der Verlust eines übergreifenden Wertesystems die Epoche, in der wir leben, ins Taumeln gebracht hat, sucht man allenthalben nach Haltegriffen. Verschwörungsgruppierungen sprießen überall aus dem Boden, Internationale Gerichtshöfe werden beauftragt, Menschenrechte werden verkündet, Ethikkommissionen werden gebildet, Ratgeber bieten ihre Dienste, in Büchern, in Zeitungen, im Internet. Dies alles aber ist nicht von Dauer, wenn es nicht gelingen wird, der menschlichen Gesellschaft einen neuen Halt zu geben, der sie für einen gemessenen Zeitraum aufrecht hält. Ein jedes Zeitalter steht vor der erneuten Aufgabe, zu bestimmen, ob es den alten Spuren folgen oder sich einen neuen Weg bahnen soll. Es wird jedoch keiner, dies muss allem weiteren Suchen vorausgeschickt werden, eine Antwort finden auf die Frage, wohin soll ich mich wenden, eine Antwort, die für alle Zeiten und alle Länder Gültigkeit haben könnte. Ein letztgültiges Urteil wäre auch nicht zu wünschen. Wenn wir ein Ziel suchen, nach dem sich alles richtet, so müssen wir bedenken, dass wir Suchenden auf schwankendem Boden stehen und nur in seltenen Stunden durch trübe Nebel freien Blick erlangen. Diese Nebel sind nicht immer materieller Art. So wie uns heute das Licht von Milliarden von Glühbirnen und Scheinwerfern den Himmel trübt und uns den freien Blick in das Weltall verwehrt, so vernebeln uns die vielen Tausenden von Dogmen und Thesen, von Verkündigungen und Theorien den Blick in das Reich des reinen Geistes. Eine Ahnung immerhin scheint uns zu beseelen, dass wir nicht vergeblich suchen, auch wenn wir niemals finden werden. Vielleicht liegt auch hier der Lohn in der Mühe und ist der Weg das Ziel.

      Das Mühen um die Beantwortung der großen Fragen nach dem Woher und Wohin erhebt die Gemeinschaft der Menschen, so sagt Hermann Broch, über die Ordnung eines Termitenstaates. Kein Mensch ist verpflichtet zu handeln wie andere vor ihm gehandelt haben, kein Mensch ist genetisch


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