Versuch einer Ethik im Zeitalter globaler Bedrohung. Richard Bletschacher

Versuch einer Ethik im Zeitalter globaler Bedrohung - Richard Bletschacher


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gehorchen, sammeln oder vergeuden. Ein jeder muss allein vor sich selbst bestehen, nicht vor dem Urteil der Zeitgenossen, nicht vor dem Urteil der Geschichte. Und wenn es wider alle Vernunft etwas geben sollte wie ein Jüngstes Gericht, so wird ein jeder dort als Richter sitzen über sich selbst und wird sich bewahren oder verwerfen müssen, wie sein eigenes Gewissen es befiehlt.

      Die Aufgabe der Ethik ist es, aus dem Blick des Menschen das Gute vom Bösen zu scheiden. Denn Gut und Böse sind Menschensachen. Der Mensch allein gestaltet sich seine Welt und kann was er geschaffen hat auch zerstören. Dies ist keinem Tier gegeben. Selbst die größten unter ihnen, Mammuts und Dinosaurier, konnten in Millionen von Jahren ihre Welt nicht verändern. Und doch legen Tiere Verhaltensweisen an den Tag, die man beim Menschen mit moralischem Bedenken beobachten würde. Man braucht nur mit anzusehen, welch grausames Spiel Katzen mit gefangenen Mäusen treiben. Auch weiß man von Haifischen, die erbeutete Robben viele Male hoch aus dem Wasser schleudern, ehe sie sie verschlingen, oder dass Löwen ein geschlagenes Wild auszuweiden beginnen, ohne es sofort zu töten. Und selbst unter den Pflanzen gibt es etwa den hübsch anzusehenden fleischfressenden Sonnentau, der ein gefangenes Insekt lange leiden lässt, ehe er sich über es einrollt und es verschlingt. Die Beispiele ließen sich fortsetzen, aber auch durch erstaunliche Rettungstaten von Delphinen oder Hunden auf der uns positiv scheinenden Seite ergänzen. Wir haben uns sowohl Tiere wie auch Pflanzen gefügig gemacht. Wir belohnen oder strafen sie nach unseren Gesetzen, wenn sie sich unserem Willen fügen oder ihm widerstreben. Dennoch ahnen wir, dass es auch unter ihnen so etwas wie Einverständnisse gibt, um in Gemeinschaft zu leben. Und wir wissen zumindest, dass wir noch viel zu wenig von den Sprachen und Gedanken der Tiere verstehen. Immerhin haben wir schon erkannt, dass Hunde treu, dass Elefanten nachtragend sind, dass Bären zu trauern vermögen, dass Raben Werkzeuge benutzen und dass Ziegen zählen können. Ein Harvard-Professor hat die These vertreten, dass sich bei Primaten moralische Normen finden lassen, die denen der Menschen nicht unähnlich sind. Vom Gemeinschaftsleben der Bienen weiß man schon vieles. Man hat aber in jüngster Zeit sogar soziale Verhaltensweisen bei Bakterien zu entdecken gemeint. Nach solchen Beobachtungen stellt sich die Frage, ob wir den Tieren auch in Gefühlsdingen nicht näher verwandt sind als wir wahrhaben wollen. Seit unvordenklichen Zeiten, nicht erst seit den Fabeldichtern, haben wir den Tieren unsere Sprache ins Maul oder in den Schnabel gelegt, haben den Wolf, den Hai, den Raben und sogar den Floh in Wesen unseresgleichen verwandelt, um sie dann nach unseren Sitten und Gebräuchen zu belobigen oder zu verurteilen. Wir haben Krokodile zu Göttern und Schlangen zu Dämonen erhoben. Manche freundliche Eigenschaften wurden Pferden, Delphinen oder Hunden nachgerühmt. Aber hat auch der grimmigste Jäger ihnen je so etwas wie Hass oder Zerstörungswut nachgesagt? In manchem noch wird uns die Wissenschaft über das Leben der Kreaturen belehren. In einem nicht: warum Gut und Böse durch den Menschen in die Welt kamen. Da neuere Forschungen immer mehr Vergleichbares zwischen Tieren und Menschen entdeckt haben, musste es dahin kommen, dass eine eigene Tierschutzethik gefordert wurde. Diese bedeutsamen Überlegungen weisen zurück auf die Verantwortung des Menschen für alles Leben und endlich auch für das der Pflanzen.

      In dem gesteckten Rahmen, der kaum eine Ahnung von allem Wohl und Wehe auf Erden umfassen kann, soll, da wir nichts Besseres wissen, hier allein vom Menschen die Rede sein. Er allein kann sich durch seine Sprache belehren. Er allein weiß lange im Voraus, dass er sterben muss. Er allein ist fähig, in Gedanken und Taten nicht nur sich und seinesgleichen, sondern alles Lebendige zu zerstören. Er hat sich aufgeworfen, die Erde in Besitztümer und Erbgüter aufzuteilen. Er greift nach Macht und Herrschaft über sich selbst hinaus. Zuweilen scheint es als wolle er eher die Erde in den Untergang reißen als von seinen Begierden zu lassen. Vor ihm, dem Menschen, gilt es, uns und unsere Erde zu schützen. Der Mensch ist die Gefahr. Da er nicht gebunden werden soll, muss er gezähmt und belehrt werden. Darum muss gefragt werden: Wie soll der Mensch leben? Was soll er suchen, was soll er meiden? In Zeiten, da die technischen Mittel ins Unüberschaubare wachsen, ist es hoch an der Zeit sie zu stellen. Denn eines Tages wird es, wenn wir dem Übel nicht in den Arm fallen, zu spät sein für uns und unsere Erde.

      Auch wenn es heute weltfremd und absurd erscheint, nach einem Jahrhundert der Völkermorde, der Klassenkämpfe und des Rassenwahns, des Kolonialismus, des Holocausts, des Terrorismus und der Diktaturen, der Fluchten und der Vertreibungen; einer Epoche, die mehr Menschen gewaltsam zu Tode gebracht hat als alle vorhergehenden, in der jeden Tag Tausende von Kindern an Hunger und Entkräftung sterben, in einer also alle menschlichen Werte höhnenden Epoche, die Frage aufzuwerfen, was man zu tun habe, um angesichts all dessen ein rechtschaffenes Leben zu führen, so soll es doch unternommen werden. Das Wort rechtschaffen klingt sehr bescheiden, und was es meint, sollte nach altem Brauch eigentlich tugendhaft heißen. Das Wort Tugend jedoch, das in der Antike als areté oder virtus noch einen Vertrauen erweckenden Klang hatte, ist uns odios geworden, da es einer Haltung entspringt, die meint, im privaten Leben das Rechte tun zu können, ohne Ansehen dessen, was immer auch rundum in der weiten Welt geschieht. Wer rechtschaffen sein will hat Rechenschaft zu geben für sich selbst und seinesgleichen, Rechenschaft auch für unser Land, und unsere Erde. Heute, da wir erkennen müssen, dass wir mit unserem nur auf den Menschen als sogenanntem Herrn der Schöpfung beschränkten Blick der Erde selbst die schrecklichsten Verletzungen zufügen, müssen wir alles andere Leben, den Boden selbst, der es nährt, und die Luft, die es schützend umhüllt, in unsere Verantwortung einbeziehen. Wenn darum die alte Frage unter neuen Auspizien wieder erhoben wird, so nicht in der Hoffnung, dem allgemeinen Gemetzel aus einem Schutzbereich des guten Betragens heraus durch wohlgemeinte Ratschläge wehren zu können. Der Versuch wird unternommen, um Ordnung zu schaffen im eigenen Hirn, er wird aber auch unternommen, um auszuloten, ob die Welt durch ein voraustastendes Denken und ein dem Denken nachfolgendes Handeln auf einen Weg geführt werden kann, der breit genug ist für alle, die guten Willens sind.

      Da ich weitab bin von der Absicht, eine Geschichte der Ethik zu schreiben, wird man es mir nachsehen, wenn ich nur eben einen kursorischen Überblick über das weite Feld des Vorausbedachten gebe und mich im Übrigen damit begnüge, mir selbst und allen, die diesen Ausführungen folgen wollen, zu größerer Klarheit des Blickes auf die Folgen unseres Handelns zu helfen. Die Aufgabe, vor der wir stehen, weist in eine Zukunft, die unseren Nachkommen auch weiterhin aufgehen soll. Die Erwartung der Zukunft hat die Macht, alle Prämisse des Vergangenen umzudeuten. Die Hoffnungen fühlender Menschen richten sich auf jeweils sehr divergierende Ziele. Eine verbindliche Ethik jedoch müsste den Versuch unternehmen, ein gemeinsames Ziel zu benennen, das allen Hoffnungen dient. Dies wird sich wohl nur in dem alles vereinenden Wunsch nach Überdauern des irdischen Lebens finden lassen. Ob der Mensch darin eingeschlossen bleibt, ist nicht so gewiss wie er hoffen mag. Alle anderen Werte sind irgendwann oder irgendwo immer wieder in Zweifel gezogen worden. Was in manchen vergangenen Zeiten am einen Ort als kaum der Rede wert, am anderen als zwingendes Gebot erschienen ist, das ist heute in einer aus vielen Kulturen zusammengewachsenen oder -gezwungenen Welt zu einem wirren Bündel unterschiedlicher Vorstellungen, Hoffnungen und Forderungen geworden. Werte haben nicht, wie Nikolai Hartmann meint, „ein ideales Ansichsein“. Ein Wert ist immer auf ein anderes gerichtet. Und er kann nicht bestehen ohne den, der sich zu ihm bekennt. Auch die aufgeklärten Verfassungen, die Appelle des Naturrechts oder die Deklaration der Allgemeinen Menschenrechte haben es nur vermocht, für eine Handvoll Staaten Achtung und Gültigkeit zu erlangen. Und doch sind sie alle begründet in den Versuchen, einem jeden Menschen beizustehen und ihm Wege aufzuzeigen, wie er sich in den Wirrnissen der menschlichen Gesellschaften zurecht finden und dabei seine Würde und Selbstachtung bewahren kann, ohne anderen zu schaden.

      Dass ich mich trotz des universellen Anspruchs im Folgenden mit Beispielen und Argumenten auf den europäischen Bereich und hierin sogar mit wenigen Ausnahmen auf den meines sprachlichen Umfelds beschränke, um mich nicht im Ungefähren zu verlieren, wird man nach dem voraus Bemerkten mit Erleichterung lesen. Die diesem Vorwort nachfolgenden Kapitel sollen nicht als eine kritische Auseinandersetzung mit den Moralphilosophen vergangener Jahrhunderte aufgefasst werden. Es versteht sich von selbst, dass ich mich hier auf das Wissen der europäischen Traditionen stütze, soweit ich es aufzunehmen und weiterzudenken in der Lage war, auch wenn mich außerhalb dessen die Lehren des Konfuzius, des Lao tse und des Buddha tief beeindruckt haben. Sie sind allein auf das praktische Handeln der Menschen gerichtet und sprechen nicht in Theorien, sondern in Beispielen. Dies hat ihnen allgemeine Verständlichkeit und lang währende Anerkennung gesichert.


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