Versuch einer Ethik im Zeitalter globaler Bedrohung. Richard Bletschacher

Versuch einer Ethik im Zeitalter globaler Bedrohung - Richard Bletschacher


Скачать книгу
oder der Metaphysik. In den angeführten Zitaten habe ich mich mit wenigen Ausnahmen an die klassischen Autoren gehalten, in der Annahme, dass diese dem gutwilligen Leser leichter nachzuprüfen sind als etwa die der neueren deutschen, französischen oder angelsächsischen Philosophie, vor allem aber auch, weil sie noch eine Sprache sprechen, die mehr um Mitteilung als um Selbstdarstellung bemüht ist. Meine Absicht ist jedoch, aus neuer Sorge zu fragen nach dem, woran uns heute und auch noch in absehbarer Zukunft gelegen sein muss. Eine hypothetische Antwort im Voraus zu entwerfen und dann zu versuchen, sie zu begründen, wie dies ein oft begangener und dienlicher Weg wissenschaftlicher Forschungen ist, liegt nicht in meiner Absicht, denn ich hoffe Einsicht mehr und mehr in weitem Felde suchend zu erlangen. Es zeigen sich die überraschendsten Erkenntnisse oft unterwegs, an den Wegrändern des Denkens. Ein großer Rest von Zweifeln wird bleiben. Das sehe ich voraus. Manches, was man nicht brauchen konnte, jätete man als Unkraut aus Feldern und Gärten. Steine sprengte man aus dem Weg, Wasser lenkte man auf Mühlen, auf Turbinen oder in Stauseen. Verantwortung trug man nur für sich selbst. Seit man jedoch erkannt hat, dass sich selbst bedroht, wer seine Umwelt zerstört, hat sich das Verständnis menschlicher Ethik bedeutsam erweitert.

      Wenn wir nach dem Ethos der Handlungen fragen, zu dem wir uns selbst verpflichten, müssen wir darüber hinaus auch nach dem höheren Ziel der täglichen Verrichtungen unseres Daseins fragen. Wenn der Sinn des menschlichen Daseins in nichts weiter bestehen sollte als das organische Leben auf dem Planeten Erde zu erhalten, so wären die Forderungen an unser Handeln allein zu beschränken auf den Gewinn von Nahrung, die Abwehr von Bedrohungen durch Fressfeinde und Krankheiten und die Zeugung neuen Lebens. Damit allein aber würde sich der Mensch nicht über andere Lebewesen erheben und konnte sich auch, seit er zu denken gelernt hat, nicht zufriedengeben. Eine wahre Ethik muss hinaus gelangen über eine Begründung ihrer Nützlichkeit für den Menschen. Sie muss den Sinn und das Ziel allen Handelns über die bloße Erhaltung und Fortpflanzung des organischen Lebens hoch in die Zukunft heben. Unzählige Menschen haben ihr Leben gegeben, um auf solche Ziele zu verweisen. Manche sind dabei auch in die Irre gelaufen. Durch ihre Worte und Taten aber wurden wir uns bewusst, dass wir nicht allein um unseres Überlebens willen für uns und gemeinsam mit anderen handeln. Das wahre Ethos ist um Antworten bemüht, nicht nur in den täglichen Verrichtungen unseres Lebens, sondern mehr noch und vor allem in den Stunden, in denen wir uns unserer Vergänglichkeit und unseres Todes bewusstwerden und in unseren Geschäften innehalten und zurückschauen oder in die Ferne hinaus, um zu überlegen: Was haben wir getan? Was sollen wir tun? Was sollen wir lassen? Was ist unser Ziel? Und warum und wem zu Liebe all diese Mühe? Aus dieser Bemühung um Erkenntnis und um Sorge um einander gewinnen wir, wie kein anderer es deutlicher gesagt hat als Cicero, unsere dignitas, unsere Würde. Die aber ist der innerste Kern eines wahrhaft humanen Daseins. Diese Würde des Individuums, die doch allen gemeinsam ist, diese Würde ist es, die uns alle gleich macht. Sie ist uns allzu lange aus den Augen geraten.

      Was das Ziel des nachstehenden Versuchs angeht, so will ich nicht altbewährtes Wissen noch einmal bestätigen. Ich glaube nicht an Systeme, bin mir aber dessen bewusst, dass manches Althergebrachte sich noch lange als unerschütterlich erweisen wird, anderes jedoch als hinfällig oder veränderbar. Weder das Alte noch das Neue sind ethische Kategorien. Allzu ungeduldig hat der kritische Lichtenberg behauptet: „Der oft unüberlegten Hochachtung gegen alte Gesetze, alte Gebräuche und alte Religion hat man alles Übel in der Welt zu danken.“ Manch einer könnte mit Lichtenberg viele Beispiele beibringen, die seiner Behauptung Nahrung bieten. Aber dem klugen Mann kann man dennoch nur Zustimmung geben, wenn man die Verallgemeinerungen systematischen Denkens gelten lässt. Abgesehen davon, dass es auch noch andere Quellen des Unheils gegeben hat als das Althergebrachte, wie etwa die Hast und Unduldsamkeit vieler Weltverbesserer, so haben doch manche uralte, scheinbar absurde Bräuche Frieden und Einverständnis gestiftet unter den Menschen, die sich in der Wirrnis neu erschlossener Wege verlaufen hatten. Hoffe darum keiner, er könne in den nachfolgenden Zeilen Antworten finden, die er nach Hause tragen kann. Alles, was zu erwarten ist, ist ein Bündel von Untersuchungen zu einer Fragestellung, die nur auf den ersten Blick alltäglich ist und banal. Man traue nicht denen, die behaupten Bescheid zu wissen. Nicht der Glauben, sondern der Zweifel hat uns mehr und mehr Erkenntnis gebracht und uns den Boden gesichert, auf dem wir von Jahrhundert zu Jahrhundert mühsam fortschreitend Halt finden. Den Zögernden und Zweifelnden ziemt es dennoch, sich nicht freizusprechen von einer Schuld, die wir alle tragen an den offenbaren Übeln der Welt.

      Um Ordnung in diese Papiere zu bringen, werde ich einige Worte zur Definition des Begriffes der Ethik vorausschicken, werde dann untersuchen, worauf sie sich mit ihren Forderungen gründet, werde einen kurzen und darum lückenhaften Überblick über die bisherigen Bemühungen um verbindliche Normen geben und werde anschließend eine erste Betrachtung der Begriffe des Bösen und des Guten anzustellen suchen. Dem Handeln des Menschen soll hierbei nachgefragt werden in Hinsicht auf die Quellen der Tradition, der Religion, des aufgeklärten Denkens und des Gewissens, die es bestimmen. Dem folgt ein kurzer Exkurs auf die geschwisterliche Disziplin der Ästhetik. Und da dem Netz eines systematischen Forschens vieles und zumal das Lebendigste oft entschlüpft, sollen einige Betrachtungen über die sogenannten Tugenden der Keuschheit, der Gerechtigkeit, der Tapferkeit, der Pflichterfüllung, der Wahrhaftigkeit und der Barmherzigkeit noch einen gedrängten Platz finden. Schließlich soll eine kurze Bemerkung über die Begriffe von Scham und Schande, sowie über den in unserem Kulturraum heute nur mehr auf anorganische Materialien angewandten Begriff des Edlen das Stückwerk meiner Bemühungen ergänzen und nach einer Schlussbetrachtung die Arbeit ihr Ende haben.

      ZUR DEFINITION DES BEGRIFFS

      Abgeleitet ist der Begriff der Ethik vom griechischen Worte ethos. Dieses benannte einst die Summe der überlieferten Sitten und Gebräuche und wurde erst von den Philosophen der perikleischen Ära geadelt. Dass Sitten und Gebräuche durchaus zwei zu unterscheidende Begriffe sind, soll hier nicht weiter untersucht werden, um nicht gleich zu Beginn auf einen der tausend Abwege zu gelangen, die bei der Vielschichtigkeit unseres Themas allzu sehr locken. Es genüge darauf zu verwiesen, dass es nicht nur ehrwürdige, sondern auch sehr erschreckende Bräuche gegeben hat und hier und dort wohl auch noch gibt. Als Beispiel möge der Brauch gelten, den geschrumpften Kopf eines erschlagenen Gegners am Gürtel zu tragen oder jener, eine ungetreue oder auch nur ungehorsame Ehefrau zu töten, der dem Ehemann in vorgesetzlicher Zeit zugestanden wurde. Die Dionysien zu feiern war ein athenischer Brauch, aber war er auch eine Sitte? Der Stierkampf in Iberien, die Maskenumtriebe in den Alpen waren und sind noch immer Bräuche, aber kann man sie auch Sitten nennen? Wer einen Brauch befolgt, will seine Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft bezeugen, wer dagegen einer Sitte sich fügt, gibt einen Teil seiner persönlichen Freiheit für ein allgemeineres Wohlmeinen dahin. Das, was wir heute Sitte nennen, ist meist religiösen Gepflogenheiten entwachsen oder hat sich aus dem selbstbestimmten Zusammenleben der Menschen herausgebildet. Und was ihre einst so gebieterische Strenge anlangt, so ist sie in unseren Jahren längst von den rasch verfallenden Geboten der Mode verdrängt, wenn auch noch nicht gänzlich außer Kraft gesetzt worden.

      Darüber wurde gewiss auf der Agorá und in den Theatern vieles gesprochen. Sokrates kannte keinen würdigeren Gegenstand für seine Lehren als die nomoi apgraphoi, die ungeschriebenen Regeln. Als erster aber hat Aristoteles ein Werk geschrieben, das vom Verhalten der Menschen untereinander gehandelt hat. Dieses Werk hat er seinem Sohn Nikomachos gewidmet, um ihn und seine Nachfahren auf ihren Lebenswegen nicht allein durch gute Ratschläge zu leiten, sondern sie zu prüfendem Denken anzuleiten. Spätestens durch ihn hat sich die Bedeutung des Wortes Ethos von der volkstümlichen Überlieferung des Brauches weiter verschoben in Richtung einer sittlichen Verbindlichkeit und darüber hinaus, bis es heute den Rang einer philosophischen Disziplin erreicht hat.

      Wenngleich das Wort Moral, dem lateinischen Plural mores entlehnt, im Grunde nichts anderes meint, hat es doch nicht die Ehrwürdigkeit des älteren griechischen Wortes erlangt, das tiefer grabend seither nach den Grundlegungen der Werte fragt und im philosophischen Diskurs bevorzugt Verwendung findet. Ethische Normen sind Gebilde der Theorie, keine Handlungsanweisungen, ihre Erfüllung wird hoffend erwartet und nicht fordernd erzwungen. Der griechische Geist wendet sich an das Individuum in seiner freien Entscheidung. Dem praktischen Sinn der Römer entspricht dagegen deren Moral. Ihren rechten Gebrauch


Скачать книгу