Geschichten aus dem Alltag. Susanne Wilting

Geschichten aus dem Alltag - Susanne Wilting


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Zeit später meldete sich ein Zeuge, ein langjähriger Stammgast, der zum Zeitpunkt der Anzeige zu Besuch bei seiner Tochter in Neuseeland war. Er hat bei der Polizei Stefan zweifelsfrei und sehr überzeugend entlastet. Sofort wurde die Anzeige zurückgezogen, doch das „Arrezzo“ war schon geschlossen.

      Stefan zieht einen vorfrankierten Briefumschlag und Briefpapier aus seiner stylischen Umhängetasche aus LKW-Plane. Zügig antwortet er Paolo, geht aber auf einen möglichen Besuch auf Sizilien nicht ein. Dann verlässt er kurz seinen Platz, um den Brief einzuwerfen und ein Stadtmagazin zu kaufen. Als er sich wieder gemütlich in der Sonne niederlässt und wie gewöhnlich das Blatt von hinten aufschlägt, erstarrt er.

      Ein großes Farbfoto prangt auf der vorletzten Seite, mit der Unterschrift: „Von der Bankerin zur Szene-Wirtin - Neueröffnung in der Altstadt.“ Sofort erkennt er eine der beiden Geschäftsfrauen, die regelmäßig in seiner Osteria zu Gast waren. Strahlend steht sie in einer Kochjacke vor seinem ehemaligen Lokal, seinem „Arezzo“. Blitzartig geht Stefan ein Licht auf. Wie in Trance zieht er die Tasche zu sich heran, holt das Briefpapier wieder heraus und beginnt einen zweiten Brief an Paolo.

      Andrea

      Andrea und Frank sind seit 20 Jahren glücklich verheiratet, Frank ist davon jedenfalls felsenfest überzeugt. An einem verregneten Aprilsonntag bereitet er liebevoll ein spätes Frühstück zu. Dafür presst er Orangen aus, richtet ein Käsebrett an und bereitet aus exotischen Obstsorten einen Obstsalat zu. Seit gestern Abend taut ein Roggenbrot auf. Das Kaffeepulver hat er in der alten Mühle selbst gemahlen und den Kaffee brüht er jetzt geduldig von Hand. Andreas Geschenk, zu ihrem 40. Geburtstag, hat er in einem online-shop extra anfertigen lassen und drapiert es nun, etwas ungeschickt, neben ihrem Teller. Bunte Papierservietten, mit einem abstrakten Blumenmuster, peppen den Frühstückstisch auf.

      Nervös zündet Frank eine große, knallrote Kerze an, natürlich Andreas Lieblingsfarbe. Mitten auf dem Tisch steht ein üppiger, bunter Frühlingsstrauß, die blauen Hyazinthen verströmen einen fast betäubenden Duft. Noch ein wenig leise Musik, fertig. Frank hat sich alle Mühe gegeben, festliche Stimmung zu verbreiten. Ja, das Ergebnis kann sich sehen lassen. Zum Schluss schiebt er Nadines Stuhl diskret in eine Küchenecke.

      Vor einem Jahr ist ihre Tochter ausgezogen, um in der nächstgelegenen Großstadt eine Ausbildung zur Krankenschwester zu beginnen. Trotz der geringen Entfernung kommt Nadine nur einmal im Monat für ein langes Wochenende nach Hause. Das liegt zum einem an den Schichtdiensten und zum anderen an den Lerngruppen, die die ehrgeizige Nadine ins Leben gerufen hat. Es ist das erste Mal, dass Nadine zu einem Geburtstag fehlt.

      Völlig lustlos kommt Andrea in ihrem alten, ausgeleierten Morgenmantel in die Küche geschlurft. Rot geränderte Augen, fleckige Gesichtshaut, in der Hand ein zusammengeknülltes Papiertaschentuch. Andrea macht einen völlig frustrierten Eindruck. Nein, viel schlimmer, denkt Frank, bei ihrem Anblick fällt mir desolat oder erbärmlich ein. Mit einem Plumps lässt sie sich an den liebevoll gedeckten Geburtstagstisch fallen, die Details übersieht Andrea. Ganz früh schon hat Frank seiner Frau gratuliert, jetzt versucht er mühsam, ein Gespräch mit ihr in Gang zu bringen. Doch sie starrt nur vor sich hin. Frank hat den Eindruck, dass seine Frau grübelt oder zögert, ihm etwas zu erzählen.

      Jetzt bleibt Frank auch ganz still, sieht seine Frau genau an. Seit wann trägt sie eigentlich ihre Fingernägel so lang und vor allem so spitz zugefeilt? Und diesen signalroten Nagellack auf den Fußnägeln bemerkt er auch zum ersten Mal. Das darf doch nicht wahr sein! Blitzt unter ihrem Morgenmantel tatsächlich eins von diesen extrem aufreizenden Push up-BH-Modellen hervor, die sie sonst vom Sofa aus so feministisch-genüsslich in der TV-Werbung verreißt? Und dann auch noch mit einer breiten Spitzenkante, verziert mit einem Vorderverschluss in glitzernden Kristallsteinen? Alles, was sie zutiefst verabscheut? Diese Veränderungen irritieren Frank. Ja, natürlich, sie betonen Andreas Weiblichkeit und das gefällt ihm, doch im Moment stehen sie nur in krassem Gegensatz zu Andreas Stimmung.

      Nachdenklich rührt er in seinem Kaffee und überlegt, wie er sich verhalten soll. Inständig hofft er, dass Nadine es einrichten kann, sich in ihrer Frühstückspause kurz zu melden, doch die Zeit verstreicht, ohne dass ihre Tochter anruft.

      Plötzlich bricht Andrea das Schweigen. Sie langweilt sich, sie langweilt sich unsagbar. Irgendwie fehlt ihrem Leben der Kick.

      Frank fällt aus allen Wolken. Ihm ist völlig klar, dass seine Frau Nadine furchtbar vermisst, aber Langeweile, gar ein fehlender Kick, dass ist ihm völlig neu.

      „Was ist denn mit deinem Job, gefällt er dir nicht mehr?“

      „Doch, doch, aber das ist nichts Besonderes, eigentlich überhaupt keine Herausforderung für mich.“

      Jetzt horcht Frank wirklich auf. Andrea ist von Beruf Buchhändlerin, in all den Jahren mit ungebrochen großer Leidenschaft. Seit ein paar Monaten hat sie einen neuen Arbeitsplatz, in der Filiale einer großen Buchhandelskette leitet sie die Abteilung für Reiseliteratur. Bei Stellenantritt war Andrea so aufgeregt, dass sie heimlich Baldrian-Dragees einnahm, andererseits freute sie sich über die Verantwortung, zum ersten Mal eine ganze Abteilung zu leiten.

      Plötzlich fühlt Frank sich verunsichert. Meint sie etwa mit den Bemerkungen ihn persönlich oder ihre Ehe? Oder will sie ihm gerade eine Affäre beichten? Oh nein, bitte, bitte, nicht! Nur nicht nervös werden.

      „Möchtest du nicht dein Geschenk auspacken?“

      „Kannst du nicht einmal richtig zuhören? Warum lenkst du ab?“

      Schweigen, Stille, nur Andreas leises Weinen wogt und wimmert durch die kleine Küche. Frank möchte so gerne das Zimmer verlassen oder wenigstens die Zeitung lesen.

      „Möchtest du noch eine Tasse Kaffee?“ Frank steht mit der alten Kaffeekanne, an der Andrea so irrational hängt, neben seiner Frau.

      „Nein, verdammt noch mal! Ich wünsche mir zum Geburtstag einen Abend in dem neuen Swinger-Club, eine richtige Swinger-Party, du weißt schon, die große Anzeige, über die du so gelacht hast.“

      Die Kanne mit dem heißen Kaffee fällt klirrend zu Boden.

      Am Abend besuchen Andrea und Frank ein thailändisches Restaurant. Die stilvolle Einrichtung, die ruhige Atmosphäre mit dem aufmerksamen und höflichen Service entspricht genau der Beschreibung in dem neuen Restaurantführer, den Andrea aus der Buchhandlung mitgebracht hat. Von den exotischen Speisen sind die beiden so begeistert, dass sie spontan beschließen, mit ihrer Tochter wiederzukommen. Nach der Frühschicht hat Nadine angerufen und Andrea in ihrer unbeschwerten Art gratuliert und sie sofort aufgeheitert. Andrea ging es gleich besser, viel besser. Frank fühlt sich erleichtert, vielleicht wird ja alles wieder gut.

      Noch einmal überreicht Frank seiner Frau ihr Geburtstagsgeschenk, das er so liebevoll ausgewählt hat.

      Andrea freut sich über die ausgefallene Designerkette, doch dann wird sie ernst. „Wie sieht es mit meinem Geburtstagswunsch von heute morgen aus, Frank? Hast du es dir überlegt?“

      „Das war doch nur Spaß, oder? Du willst mich provozieren, nicht?“

      Andrea funkelt ihn über den Tisch hinweg wütend an, ihre Traurigkeit ist verflogen, sie sieht fest entschlossen aus.

      „Und ob ich das ernst meine.“

      „Warum? Ich verstehe das nicht. Was fehlt dir denn? Oder bist du nur neugierig?“

      „Ich möchte es ausprobieren, Frank, gegen die Leere, die Langeweile.“

      „Das kann doch nicht wahr sein! So ein Club, das ist doch kein Allheilmittel.“

      Beharrlich schweigt Andrea.

      „Hast du mal an mich gedacht? Das ist doch auch eine Kritik an mir als Person oder an unserer Ehe.“ Frank macht eine Pause und trinkt betont langsam einen Schluck Bier. „Außerdem weißt du, dass ich diese Art Clubs generell ablehne, ich finde das Ganze unmoralisch.“

      Andrea lacht. „Du bist ja spießig!“

      Frank fühlt sich verletzt, auch ein wenig


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