Der weiße Adler. Thomas Wünsch

Der weiße Adler - Thomas Wünsch


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als Form der Selbstreflexion sind vielleicht die typischen Merkmale der polnischen Kultur schlechthin – wenn man sich auf eine solche Festlegung überhaupt einlassen will. Im polnischen Fall aber beinhaltete sie immer auch eine Abstraktion von sich selbst, eine Überschreitung der eigenen Belange, die die angestellten Überlegungen auch für andere Fälle und andere Staaten fruchtbar machten.

      Grund dafür waren ungewöhnlich dichte Außenbeziehungen. Polens Geschichte ist, um auch dieses Wagnis einer Definition von »roter Linie« innerhalb einer Landes- oder Nationalgeschichte einzugehen, eine Geschichte besonders intensiver Interaktionen mit auswärtigen Mächten. »Geschichte Polens« ist nicht gleichzusetzen mit »polnischer Geschichte«, denn das, was wir im Bestand einer nationalen Auffassung von Landesgeschichte vorfinden, war nicht immer Polen. Es beginnt mit der Staatswerdung im 10. Jahrhundert, die an ein Magnetfeld erinnert, als dessen Endergebnis dann ein Staatswesen steht, das – aufgrund der Anziehungskräfte auswärtiger Mächte – auch anders hätte aussehen können. Es setzt sich fort mit der Übernahme von Landesteilen im Südosten des Landes aus der Konkursmasse der Kiewer Rus’, die einem ganz anderen politischen und kulturellen Kontext angehörten und doch im Lauf der Jahrhunderte zu »polnischen« Landschaften wurden. Daneben stehen Verluste, wie derjenige Schlesiens, das sich der Krone Böhmen unterstellte und damit für Jahrhunderte nicht mehr zu Polen gehörte – und doch in weiten Teilen der polnischen Kultur weiterhin verbunden blieb und nach dem Zweiten Weltkrieg wieder zum polnischen Staatsgebiet wurde. Dazwischen ist die fast symbiotische Beziehung zu Litauen zu nennen, deren Kuriosität darin liegt, dass sie mit einem litauischen Königsgeschlecht auf dem polnischen Thron beginnt, von einer Personal- zu einer Realunion wechselt, und doch nie deckungsgleich wird mit der Geschichte Polens. Nur leicht überspitzt ausgedrückt, können selbst die Teilungen Polens am Ende des 18. Jahrhunderts als Ausdruck (negativ) intensivierter Außenbeziehungen gesehen werden: Waren es doch nur zu einem Teil bösartige Manöver auswärtiger Mächte mit dem Ziel der Vernichtung eines souveränen Staates, zum anderen Teil hingegen (aus der Sicht der Teilungsmächte) Versuche, mit diesem europäischen Krieg gegen einen einzelnen Staat einen europäischen Krieg aller Staaten zu vermeiden. Dass das Polen nach dem Ersten Weltkrieg, genauso wie das Polen nach dem Zweiten Weltkrieg, jeweils nur einen Bruchteil seines »historischen Staatsgebiets« mit eigenen Grenzen versehen konnte, ist in gewisser Weise eine Bestätigung der Beobachtung, dass die Geschichte Polens eben nicht nur mit Polen zu tun hat.

      Geschichte Polens kann, so die Grundhypothese dieses Buches, nur nahegebracht werden als multi-national verflochtene Geschichte. Deutschland, Böhmen/Tschechien, die Ukraine, Russland, Litauen, Ungarn und phasenweise Schweden sind Mitspieler in einem Konzert von wechselnden Machtbalancen, das für die vielen Veränderungen der Grenzen Polens sorgte. Alle diese Staaten besaßen in bestimmten Epochen Anteile an dem, was wir gemeinhin zu Polen zählen, bzw. waren teilweise in den polnischen Staat integriert. In Polen herrschten bis zur Auflösung des Staates 1795 sechs Dynastien, von denen nur zwei (Piasten und Jagiellonen) »einheimisch« waren; die anderen vier (die böhmischen Přemysliden und französischen Anjou, sowie im Rahmen der Wahlmonarchie die schwedischen Wasa und sächsischen Wettiner) spiegeln die gesamt-europäische Bedeutung der Geschichte Polens. Das zeigen auch die Personalunionen im selben Zeitraum, von denen Polen ungewöhnlich viele aufzuweisen hat: mit Böhmen, Ungarn, Litauen, Siebenbürgen, Schweden und Sachsen. Hinzu kommen weitere Mächte, die merklichen Einfluss auf die Geschichte Polens genommen haben, allen voran das Osmanische Reich – wobei gerade hier klar wird, dass sich schwache politische und starke kulturelle Einflussnahme nicht ausschließen müssen. Ein zentrales Element der polnischen Adelskultur, der Sarmatismus als zur Ideologie verfestigte Abstammungslegende von den antiken Sarmaten, belegt das beispielhaft.

      Dabei ist der Sarmatismus nicht das einzige Kultursegment polnischer Geschichte, das sich als Resultat von äußeren Anstößen und spezifischen Reaktionen im Inneren zu erkennen gibt. Geht man aufs Ganze, wird man die drei wichtigsten Strukturmerkmale der polnischen Geschichte in dieses Paradigma einordnen können: die Entwicklung eines Parlaments (Sejm) und einer speziellen Verfassungsform, die Herausbildung einer besonderen adeligen Freiheit, und die Praxis einer Multikonfessionalität. Die Erfolgsgeschichte des polnischen Parlaments bis hin zu einer quasi-Entmachtung des Königs als Teil des Parlaments, die zum Paradoxon einer »Adelsrepublik« unter Beibehaltung der Monarchie führte, ist nicht erklärbar, wenn man nicht die Präsenz ungarischer und litauischer Dynasten auf dem polnischen Thron und den Krieg gegen den Staat des Deutschen Ordens mit berücksichtigt. Die »Goldene Freiheit« des polnischen Adels hat mit den Privilegien seitens der Könige Polens zu tun, die in anderen Ländern ebenfalls angewandt wurden, und doch nur in Polen zu einer ungeahnten Machtposition des Adels mit einer eigenen Standesideologie führten. Die Multikonfessionalität als Vielzahl von Konfessionen und Religionen schließlich ist ein direktes Produkt der territorialen Erweiterungen einerseits und der wirtschaftlichen und kulturellen Außenbeziehungen andererseits. Sie bescherten Polen(-Litauen) mit dem Vorkommen der katholischen und protestantischen Konfessionen, der griechischen Orthodoxie, dem Judentum und jüdischen Karäertum, dem sogenannten Monophysitismus der Armenier und schließlich mit der griechisch-katholischen Unierten Kirche nicht nur eine europaweit ungewöhnliche Vielfalt an religiösen Strömungen. Das typisch polnische Ingredienz in dieser konfessionellen Pluralität war, im Unterschied zu den meisten anderen Staaten Europas mit mehreren Konfessionen und Religionen, eine Praxis der Toleranz. Sie hielt nicht für ewig, sorgte aber gerade in Phasen einer erhöhten Kriegsbereitschaft aus religiösen Gründen (in der Frühen Neuzeit) dafür, dass es in Polen-Litauen friedlich blieb.

      Wenn heute die Kenntnis der Geschichte Polens wichtig ist, dann vor allem deshalb, weil Polen eine ungewöhnliche Fülle an Rückbezügen bereithält. Man kann sich auf Erfolgsgeschichte(n) beziehen, womit für gewöhnlich die Staatsbildungen der Piasten und der Jagiellonen, aber auch die Zeit des religiösen Pluralismus in der Zeit der Wahlkönige gemeint sind. Man kann sich aber mit ähnlicher Berechtigung auch auf Misserfolgsgeschichte(n) beziehen, womit (mindestens) die Teilungen Polens und die darauffolgende Zeit ohne eigenen Staat, dazu die kurze, aber intensive Epoche des Zweiten Weltkriegs angesprochen sind. Doch sind das keine eindeutigen Geschichten; zu allen Narrativen lassen sich leicht Gegen-Narrative finden. Die Interpretation hängt nicht nur von der nationalen Beheimatung der Interpreten ab; auch die inner-polnischen Diskussionen um Streitfragen der eigenen Geschichte verlaufen für gewöhnlich in mehrere Richtungen. In diesem Sinne war es nicht nur ein Kennzeichen der vergangenen politischen Verfassung, dass Polen »aufgrund seiner Anarchie« bestehen würde; »Anarchie« oder »Unordnung«, hier positiv gefasst als Unmöglichkeit einer Harmonisierung verschiedener legitimer Standpunkte, ist ein Charakteristikum auch des Sprechens über die Geschichte Polens selbst.

      Das hier vorgelegte Buch möchte vor allem deutsche Leser dazu befähigen, mitsprechen zu können. Um Verständnisbrücken zu bauen, wurden immer wieder Teile der polnisch-deutschen Beziehungsgeschichte mit einbezogen. Das Buch ist konzipiert als Auswahl von Problemkomplexen, die für das Verständnis Polens aus historischer Sicht unverzichtbar erscheinen. Damit ist auch gesagt, dass es hier nicht um eine Gesamtgeschichte Polens geht, die allen Epochen und allen Aspekten gleich ausführlich gerecht wird. Eine knappe Darstellung wie diese muss sich beschränken, und sie muss auswählen. Die bei jeder Darstellung unvermeidliche Dosis an Subjektivität wird durch diesen Vorgang noch erhöht, und die Gefahr einer Vereinfachung liegt nahe. Dem soll einerseits die Bibliografie entgegenwirken, die bewusst ausgreifend angelegt ist. Andererseits wurde versucht, mit gezielt gesetzten Akzenten und Exkursen ein tieferes Verständnis der Geschichte Polens wenigstens abschnittsweise zu ermöglichen. Quellenzitate sollen diesen Vorgang, sich exemplarisch auf zentrale Fragen zu konzentrieren, unterstützen. Ziel ist es, durchgehende Linien, Wendepunkte und Zusammenhänge aufzuzeigen – in der politischen Geschichte, aber auch im Sinn einer umfassenderen Kulturgeschichte. Ob es gelungen ist, mögen die Leser entscheiden; Polen selbst jedenfalls hat das Interesse mehr als verdient.

      Ohne Unterstützung von außen ist eine solche Publikation nicht möglich. Ich bedanke mich deshalb bei der Universität Passau, die mir durch ein reduziertes Lehrdeputat den nötigen Freiraum für das Schreiben gewährt hat. Mein Dank gilt auch den Freunden und Kollegen, die sich die Mühe gemacht haben, Teile des Manuskripts zu lesen und zu diskutieren; allen voran mein langjähriger Mitarbeiter Sławomir Oxenius. Der Anstoß zu diesem Buch kam vom Verlagshaus Römerweg


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