Wolken über Spanien. Kate O'Brien

Wolken über Spanien - Kate O'Brien


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nichts, loszugehen, um nach einem schwankenden Rohr zu suchen. Die Leiden und Schönheiten, die durch Unterschiede in Sprache, Glauben und Klima die Landkarte bislang geprägt haben, werden nicht mehr von Belang sein, denn selbst wenn sie noch Potential besitzen – sie werden von der Wissenschaft, diesem internationalen Diktator, der durch Flugreisen, Radio und Fernsehen ohnehin alle nur möglichen Neuerungen zu langweiligem Kamingespräch macht, kontrolliert und überwacht. Die Welt wird flach und eng, wenn das Goldene Horn nur noch einen Steinwurf von Golden Gate entfernt und hinter keinem Hügel mehr etwas Unbekanntes ist. Die menschenleere Antarktis wird zur Wochenendspritztour und unsere Nachkommen – sollten irgendwelche Aufzeichnungen überdauern, die ihre Aufmerksamkeit erregen – werden sich über unser naives Interesse für unsere Nachbarn wundern und lächelnd feststellen, dass sich die Gewohnheiten eines Arabers einmal von denen eines Holländers und die eines Tibeters von denen eines Schotten unterschieden haben. Schon jetzt singt man in den spanischen Dörfern bereits keinen Cante hondo mehr, um einem Durchreisenden eine Freude zu machen – man sucht im Radio nach »Big Ben« oder einem Song von Henry Hall1.

      Sollte das Ziel der Wissenschaft tatsächlich in einem vernünftigen Überleben der Menschheit bestehen, wird sie gut daran tun, darauf hinzuarbeiten, allen Grundsätzen, die einer ausgewogenen internationalen Einheitlichkeit dienen, erbarmungslos zu folgen und die romantischen Unterscheidungen zu zertreten, durch die die Geschichte, oder unser Begriff davon, uns zu dem Schlachtfeld des zwanzigsten Jahrhunderts geführt hat. In der wiederhergestellten Welt sollte es besser keine Geschichte geben. Lasst sie ganz kahl beginnen, ohne ein Haar – ohne einen einzigen Zahn. Oh, wie eifrig die Wissenschaft versuchen wird, ihre neuen Gesundheitsregeln durchzusetzen. Soll sie nur! In der Zwischenzeit warten wir darauf, dass unsere alte, zerzauste, mangelhafte Welt in einem letzten Anfall explodiert. Und wir zählen unsere unseligen Segnungen – den Ramsch, den wir angehäuft und so besessen geliebt und zu vermehren gesucht haben. Tempel, Paläste, Kathedralen; Bibliotheken voller Unsinn; Bilder, um Tote zu feiern, seltsame Legenden, noch seltsamere individuelle Konzeptionen; Lieder, um Gott zu preisen, oder eine Idee, die wir besaßen und Liebe nannten; Gräber und Buntglasfenster; Symphonien, Sonette, flügellose Siegesgöttinnen – Krimskrams aus zweitausend blödsinnigen Jahren, in denen es der Individualismus nach einer Menge beachtlicher Aufregung schließlich fertig gebracht hat, sich an seiner langen Leine zu erhängen. Es wird hoffentlich nie wieder zweitausend so derangierte oder sinnlos ertragreiche Jahre geben.

      Mit diesen paar Worten der Selbstherabsetzung – denn wir sind alle Teil unserer beklagenswerten und schuldigen christlichen Ära –, mit diesen paar Worten, mit denen wir die Fortschrittlichen besänftigen, die Vernünftigen beschwichtigen wollen, lassen wir die Jalousien wieder herunter und richten uns von Neuem in unserer alten Behaglichkeit ein. Lasst uns die persönliche Erinnerung preisen, die persönliche Liebe.

      Während China Not leidet, es in Lancashire zu Hungermärschen kommt, Bildungsbehörden im Kindergarten Gasschutz-Übungen veranstalten und Mussolini den Faschistengruß nicht einmal Vierjähriger entgegennimmt, beklagen Touristinnen, die sich für den Winter nach Hampstead, Neuilly und Brooklyn zurückgezogen, die neue Regenschirme gekauft und ihre Koffer verstaut haben, mehr als jede andere Katastrophe den Brand von Irún. Beklagen ihn als einen traurigen Fall, der an ihre persönliche Erinnerung rührt.

      Sie sahen Irún das erste Mal an einem verregneten Augustmorgen. Nie werden sie ihre Enttäuschung vergessen. Die Nacht im Liegewagen zweiter Klasse war die Hölle gewesen; es war ihnen nicht gelungen, von überlasteten, schlecht gelaunten Schaffnern einen Kaffee zu bekommen; in Bayonne hatte eine alte Frau sie beim Kauf von Birnen übers Ohr gehauen. Einmal auf der anderen Seite der Brücke, würden sie den Zug wechseln und es mit einer Schar von Zollbeamten aufnehmen müssen. Sie würden nass werden bis auf die Knochen. Sie konnten kein Wort Spanisch. Würde ihnen jemand den exakten Wechselkurs der Pesete nennen? Du lieber Himmel, hatte man je einen solchen Regen gesehen?

      Offensichtlich gab es in Irún sonst nichts zu sehen – außer einem Mann in Schwarz, gleich hinter der Brücke. Er stand ganz ruhig auf der Straße, mit dem Rücken zum Zug. Ein solider, etwa fünfzigjähriger Mann von respektablem Äußeren, der seinen schwarzen Mantel wie ein Cape umgeworfen hatte. Er trug auch eine schwarze Baskenmütze. Den Zug nahm er offenbar nicht zur Kenntnis, das Wetter schien ihm egal zu sein.

      An jenem Morgen sahen sie diesen immer gleichen Mann, denn wo und wie man auch nach Spanien hereinkommt, er ist das erste lebendige Wesen, das einem ins Auge fällt. Wenn das Linienschiff an einem warmen, schönen Abend in den Hafen von Coruña einläuft, steht er zwischen den Felsen auf einer Landzunge, den Mantel wie ein Cape um die Schultern, die Baskenmütze auf dem Kopf – nachdenklich und standhaft. Wenn man in den frühen Morgenstunden auf den Bahnsteig von Madrids Nordbahnhof hinaustritt, ist er schon da, haargenau der gleiche. Auch sieht man ihn immer am Südende der Bidasoa-Brücke.

      In den Erinnerungen eines jeden Touristen steht er in vorderster Front, jener nüchterne, nachdenkliche Mann.

      Sie wurden also nass bis auf die Knochen. Irún ist ein schlecht organisierter Bahnhof. Auf ihrem Weg zwischen Zug, Zollschuppen, Kantine und dem anderen Zug wurden sie wirklich furchtbar nass. Ebenso ihr Gepäckträger, ein stiller, friedfertiger Mann mit hellen, blauen Augen. Überhaupt kein spanischer Typ, bemerkten die Touristinnen. Sie verließen Irún mit Unbehagen und ohne auch nur einmal an die Peerage Karls des Großen gedacht zu haben. Wirklich ohne irgendeinen Eindruck – abgesehen vom Regen und dem stillen Gepäckträger.


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