Wolken über Spanien. Kate O'Brien

Wolken über Spanien - Kate O'Brien


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die ich nie führe. Ihre Rollen, an den entsprechenden Orten, werden so getreu sein, wie die Erinnerung sie gestalten kann – so lange niemand nach dem Datum fragt.

      Ich befinde mich also in Santander, und sagen wir einfach, dass es sich um eine Zeit handelt, die mehr als zwei Jahre zurückliegt und weniger als drei. Und während ich im üblichen Café vor dem Regen Schutz suche und in die Hände klatsche, um Eduardo auf mich aufmerksam zu machen, höre ich neben mir aufgeregtes englisches Gerede und stelle bestürzt fest, dass die Schornsteine, die sich draußen im Hafen schwach abzeichnen, die der »Cordillera« oder der »Reina del Pacífico« sein müssen, und dass soeben eine neue Ladung von Urlaubern, knapp bei Kasse und ahnungslos, auf den klatschnassen Paseo de Pereda gekippt wurde – Urlauber, die ganz aus dem Häuschen sind, jetzt endlich in Spanien zu sein – »in Spanien, meine Liebe!« – und dreizehn Sommertage vor sich zu haben.

      Mir wird schwer ums Herz. Denn mir scheint, dass sie getäuscht werden, und Spanien nicht minder. Es verhält sich nämlich folgendermaßen: Die Leute, die in der Touristenklasse von Southampton oder Dover zu einem der nähergelegenen spanischen Häfen aufbrechen, sind hauptsächlich hart arbeitende Lohnempfänger, denen die jährliche vierzehntägige Freiheit sehr kostbar ist, und die alle eher wenig Reiseerfahrung haben, da ihnen seit der Schulzeit nur vierzehn Tage pro Jahr fürs Reisen zur Verfügung stehen. Mit dem zunehmenden Tourismus sind sie bemerkenswert unternehmungslustig geworden – dafür, dass sie so wenig Geld und Zeit haben, können sie erstaunlich weit wegfahren. Und in diesem Jahr ist Spanien dran. Man kann die Gespräche förmlich hören, in Ein-Zimmer-Wohnungen und Bungalows, in den Reiseagenturen. »Die Peseta steht dies Jahr so günstig, und die Schiffe sind fantastisch. Hat mir Mabel gesagt. Pro Strecke etwa sechsunddreißig Stunden – genau das Richtige für dich. Und Spanien! Komplett was anderes. Der Arzt sagt, du musst einmal alles hinter dir lassen, Liebling, die Kinder und alles. Sie werden wunschlos glücklich sein in Broadstairs, bei Mutter. Du weißt, wie sehr sie es liebt, sie mal für sich zu haben. Spanien! Was könnte aufregender sein! Bestimmt werden wir uns einen schönen Sonnenbrand holen. Oh, es ist also nicht ganz so heiß im Norden? Die Hotels sind in Ordnung, nehme ich doch an? Das hier scheint mir sehr günstig zu sein. Oh, ich denke, das ist eine fabelhafte Idee, George. Wo liegt Toledo? Sollen wir uns Toledo ansehen – oder die Alhambra? Ach, egal. Spanien ist Spanien. Und wir werden immerhin dreizehn Tage dort sein. Besorg besser einen Sprachführer, Daisy …«

      Würden sie mit den Kindern nach Broadstairs fahren, dann wäre das für sie nicht sehr aufregend, aber sie kämen in den Genuss bestimmter Annehmlichkeiten und Freuden, die ihnen vertraut sind – das übliche Strandglück, das sich bei den meisten Menschen todsicher einstellt. Aber wenn sie plötzlich sagen: »Der Arzt meint, ich muss einmal alles hinter mir lassen«, und: »Spanien! Wie herrlich!«, verlangen sie etwas, das, sofern überhaupt käuflich, nicht für ihre wenige Zeit und für ihr Geld zu haben ist. Sie verlangen Zutritt zur Welt der Plakate, einer Welt aus Kunststoff und Kobaltblau, aus Singen und Nichtstun, mit einer Nelke im Mundwinkel. Sie möchten – da die Peseta so günstig ist – endlich sehen, was sie sich in ihrer Kindheit vorgestellt haben und was in ihnen lebendig geblieben ist.

      Aber Spanien – wie man jetzt vielleicht mitbekommt – ist keine Kinderfantasie, nicht die Welt der Plakate. Es ist ein Land mit Tiefe, sehr real und mit verstörenden Schatten. Und Santander, wohin so viele Ahnungslose in Scharen strömen, auf der Suche nach ihrem so nötigen Ferien-Glamour-Intermezzo, Santander ist vielleicht die nüchternste, die am wenigsten theatralische aller spanischen Hafenstädte. Sie besitzt nicht einmal Coruñas Atmosphäre närrischer Verwegenheit oder Bilbaos pockennarbige Erscheinung, völlig ruiniert durch den pausenlosen Ringkampf zwischen Gier und Elend. Nein, Santander ist eine schlichte, nüchterne Stadt von respektabler Bedeutung und Redlichkeit. Sie ist die Hauptstadt einer sehr interessanten Provinz, schön gelegen, blickt auf eine beachtliche Geschichte zurück, hat einige berühmte Kinder und kämpft nun, wie das restliche Spanien, mit akuten sozialen Problemen. Das regnerische und gemäßigte Klima gleicht dem von Devon oder Kerry; die Landschaft ist grün, fruchtbar und beschaulich; die Stadt liegt an der Biskaya, nicht am Mittelmeer. Die Menschen, aufgewachsen zwischen Bergen und Küste, besitzen in der Regel die Gesundheit, wie solche Bedingungen sie mit sich bringen, und den entsprechenden Mut. Sie sprechen ein gutes Kastilisch, sind zuvorkommend, humorvoll und freundlich; sie und ihre Lebensweise sind muy español, sehr spanisch, wie sie sagen würden.

      Aber angenommen, man ist ein völlig zielloser Urlauber, weiß nichts, außer dass man in Spanien gelandet ist, und versteht nichts von dem, was um einen herum vorgeht. Man hat vielleicht ein Zimmer irgendwo an einem der kleinen Strände von La Magdalena oder El Sardinero gebucht, Küstenvororten Santanders, die vor einigen Jahren von Alfons XIII. entdeckt wurden und denen die Stadt die anhaltende Beliebtheit als Urlaubsort verdankt. Man wird sein Hotel finden, und ich wette, man wird angenehm überrascht sein. Sollte man nicht wirklich Pech haben, ist es weiß gekalkt, sauber und karg wie ein Kloster. Im Zimmer gibt es fließend Wasser, und auch wenn das, was aus dem Warmwasserhahn kommt, nicht immer warm ist, so wird es doch fließen – und draußen vor dem großen Fenster erstreckt sich das Meer, blaugrau und freundlich wie das Meer vor Scarborough. Aber wenn man hinausgeht und in Richtung Casino und Musikpavillon, die man von der Straßenbahn aus sah, als man auf die Küste zufuhr, wenn man das große Café entdeckt, das über den Strand hinausragt, dann gibt es dort nur einen einzigen weiteren Gast – einen Mann in deutscher Tweed-Kleidung, der sich niedergeschlagen an seiner Kamera zu schaffen macht. Und wenn man auf der zugigen Terrasse sitzt und den dünnen Tee möglichst vorsichtig durch ein entsetzlich kleines Sieb gießt, das von der Tülle baumelt, wenn man sich laut über den leeren Musikpavillon wundert und den einsamen Strand, dann stellt sich vielleicht heraus, dass der Kellner mit der ernsten Miene in Chicago gelebt hat und einem erklären kann, dass die Saison noch nicht begonnen habe, oh nein, erst in ein paar Wochen – man sei zu früh dran. (In den kantabrischen Ferienorten ist man immer zu früh dran für die Saison. Nie war eine Wartezeit so schwer totzuschlagen.) Ja, wird ihnen der Kellner sagen, morgens sind Leute am Strand, Einheimische – die schicken Madrileños noch nicht. Zu früh für sie. Das Casino öffnet erst, wenn sie auftauchen – zum Tanzen, Señorita. In Spanien gibt es kein Glücksspiel. Und die Musik spielt samstags im Pavillon – oh ja, die Señorita wird schon sehen, gran baile, gran verbena. Ein großes Fest. Hier auf der Terrasse, ja. Wie schade, dass die Señores so früh gekommen sind. Und der Kellner geht. George und Daisy schauen sich an und befinden, dass es kühl ist, sie sollten besser ein Stückchen laufen. Sie spazieren zwischen Tamarisken und Fackellilien im kleinen Park über dem Meer. Sie haben ihn für sich, bis auf einen Jungen, der sie damit quält, irgendetwas mit dem Messinggriff an einem merkwürdigen, rot lackierten Gefäß zu tun, das er vor sich her trägt. Er öffnet es und zeigt ihnen die seltsamen Kekse darin – aber sie haben noch immer keine Ahnung, warum sie am Griff drehen sollen. Er seufzt und geht. Sie schauen aufs Meer und denken an die Kinder in Broadstairs, bei Mutter. Sie beschließen, noch einmal mit der Straßenbahn


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