Die Sphinx des digitalen Zeitalters. Rainer Patzlaff
von Fragen mittels theoretischer Erwägungen, ausgehend von Prämissen (‹Voraussetzung, Annahme›). Dabei wird eine Behauptung untersucht, beispielsweise Die Erde ist eine Scheibe, indem zuerst die für und die gegen sie sprechenden Argumente nacheinander dargelegt werden und dann eine Entscheidung über ihre Richtigkeit getroffen und begründet wird. Behauptungen werden widerlegt, indem sie entweder als unlogisch oder als Ergebnis einer begrifflichen Unklarheit erwiesen werden oder indem gezeigt wird, dass sie mit evidenten oder bereits bewiesenen Tatsachen unvereinbar sind.»
Diese methodisch streng kontrollierte Führung der Gedanken wurde zum Vorbild für alle wissenschaftlichen Disziplinen unserer Zeit, besonders für die am Beginn der Neuzeit einsetzende moderne Naturwissenschaft. Sie stützte sich bewusst auf die abgesicherten Methoden der Scholastik, wendete sie aber nicht mehr auf theologische Themen an wie im Mittelalter, sondern auf die Phänomene der Natur, deren Erforschung damals mit Macht einsetzte.
Denkstrukturen, geronnen im Computer
Es blieb nicht dabei, dass die scholastische Methode zum Paradigma ernst zu nehmender Wissenschaft wurde; nach ihrem Muster formte sich auch die in der westlichen Welt vorherrschende Art des Denkens, die allgemein als diskursiv bezeichnet wird. Man versteht darunter ein methodisches Vorgehen, das von Vorstellung zu Vorstellung, von Begriff zu Begriff logischgesetzmäßig voranschreitet und dadurch zu Schlussfolgerungen gelangt, mit denen sich z.B. eine Auffassung oder eine Theorie begründen lässt.
Gedankengänge in Sprache und Text diskursiv zu entwickeln ist im Laufe der Zeit so selbstverständlich geworden, dass eine wichtige Eigenart, die damit verknüpft ist, kaum mehr auffällt: Bei jedem Schritt der Darlegung prüft der Zuhörer oder Leser unwillkürlich: Ist die Aussage richtig oder falsch? Ist sie logisch einwandfrei? Entspricht sie den bekannten Tatsachen? Zustimmung oder Ablehnung ist gefragt, Ja oder Nein. Sinnvolle weitere Schritte können sich erst anschließen, wenn die Frage beantwortet ist. Am deutlichsten zeigt sich das in der Mathematik, die nach jeder Rechenoperation prüft: Ist das Ergebnis richtig oder falsch? Kein Weg führt dort an einer eindeutigen Festlegung vorbei, denn das Ergebnis kann nur richtig oder falsch sein, eine andere Alternative gibt es nicht.
Nicht auf allen Forschungsfeldern ist die Entscheidung so eindeutig zu treffen. Die streng mathematisch orientierte Naturwissenschaft allerdings hat es mit dieser Methode weit gebracht; sie ist zur beherrschenden Wissenschaft der Neuzeit aufgestiegen. Im 20. Jahrhundert war es eines ihrer Anliegen, die schon in der Antike und dann wieder ab der Renaissance verfolgte Idee einer mechanischen Rechenmaschine neu aufzugreifen und ein Gerät zu entwickeln, mit dem die logischen Strukturen des diskursiven Denkens technisch nachgeahmt werden können. Das Projekt begann in den 1930er-Jahren und wurde nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem triumphalen Erfolg: Der Computer (abgeleitet von lat. computare = berechnen) eroberte die Welt, einige Zeit noch mit analoger Technik, in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts dann nur noch mit der Digitaltechnik.
Die heute gebräuchlichen Computer werden elektronisch mit dem Binärsystem betrieben. Ihre Grundfunktion besteht aus Entscheidungen zwischen Ja oder Nein, die physikalisch realisiert werden durch die Befehle «Strom an» für Ja und «Strom aus» für Nein (binär ausgedrückt «1» und «0»). Die im diskursiven Denken ständig sich wiederholende Grundstruktur (zuerst die Prämissen, dann der logische Schluss daraus) wird vom Digitalrechner mit Millionen winziger elektrischer Schalter imitiert, die jeweils zu kleinen Einheiten zusammengefasst sind. Letztere bestimmen, ob der Strom zur nächsten Einheit weiterfließen darf oder nicht, indem sie die Prämissen festlegen: Entweder lassen sie mehrere Bedingungen zu, von denen wenigstens eine erfüllt sein muss (sog. Oder-Schaltung), oder sie fordern eine bestimmte Anzahl von Bedingungen, die gemeinsam erfüllt sein müssen (sog. Und-Schaltung). Hinzu kommt als drittes Element die Nicht-Schaltung, die den in einem sekundären Stromkreis fließenden Strom aus- statt anschaltet. Durch die Kombination dieser drei Schaltungen kann jeder logisch strukturierbare Vorgang dargestellt werden. Anzumerken ist noch, dass die «Schalter» heute so winzig sein können, weil sie nicht mehr aus mechanischen Teilen oder aus Röhren bestehen, wie es zunächst der Fall war, sondern aus winzigen Transistoren, deren Siliziumschichten je nach angelegter Spannung den Strom durchlassen oder stoppen.
Die Universalmaschine unserer Zeit
Auf diese Weise hat sich im Computer zum Schein eine Intelligenz materialisiert, die in den Jahrhunderten zuvor noch zur gedanklichen Klärung von Naturphänomenen verwendet wurde, jetzt aber jeglichen Bezug zur Sinneswirklichkeit abgestreift hat. Es sind rein formale, maschinell ausgeführte logische Strukturen, mit denen eingegebene Daten in ungeheurer Geschwindigkeit bearbeitet werden. Mit der radikalen Ablösung vom menschlichen Denken und seiner Wahrnehmungswelt wurde die einst von der Sphinx geforderte Abstraktion ins Extrem getrieben. Man mag das bedauern oder sogar erschreckend finden, muss aber gleichwohl zur Kenntnis nehmen, dass genau darin die Stärke der Digitaltechnik liegt: Ihre Prozesse sind nicht mehr auf mathematische Aufgaben beschränkt oder an die Sinneswirklichkeit gebunden, sondern stehen zur Verfügung für Daten jeglicher Art. (Technische Einzelheiten dazu in einem späteren Kapitel.) Der Computer ist zur Universalmaschine unserer Zeit geworden, mit der «prinzipiell jedes Problem des Alltags, das sich auf kausale Abfolgen und algorithmisierbare Zusammenhänge reduzieren lässt, durch Schaltungen darstellbar ist».6
Technikbegeisterte Forscher veranlasste das zu der Erwartung, schlechterdings alles in der Welt müsse «computerisierbar» sein; Grenzen könnten sich höchstens aus mangelnder Leistungsstärke der Rechner ergeben, und da sei es lediglich eine Frage der Zeit, bis sie überwunden sind. Tatsächlich gelang es der Technik in einem bis heute anhaltenden Wettlauf, die Spitzenleistungen der Computer in immer gewaltigere Dimensionen hochzuschrauben.
Möglich wurden die rasanten Fortschritte durch die Tatsache, dass die auf Mikrochips aufgetragenen elektronischen Schaltungen im Laufe der technischen Entwicklung immer kleiner und kleiner wurden. Dadurch konnten einerseits Supercomputer mit gigantischen Rechenleistungen für wissenschaftliche Forschung in vertretbaren räumlichen Ausmaßen gebaut werden. Vor allem aber ermöglichte die fortschreitende Miniaturisierung die Massenproduktion der Personal Computer (PC), der Laptops, der Tablets und der Smartphones, von denen heute alle Welt Gebrauch macht.
Seitdem der Markt auf diesem Gebiet nahezu gesättigt ist, sieht sich die Industrie gegenwärtig nach neuen Anwendungen der Digitaltechnik um und richtet ihren Blick dabei vor allem auf den weiteren Ausbau des Internets, damit die sogenannte smarte Technologie zum Zuge kommen kann. Sie produziert elektronische Automaten aller Art, wie z.B. Ampelsteuerungen, die im Verbund mit benachbarten Ampeln und Messstationen die Ampelphasen ohne menschliches Zutun flexibel der aktuellen Situation anpassen. Auf einem zweiten Gebiet, dem Smart Home, soll alles mit allem vernetzt, automatisiert und von außen steuerbar werden: Beleuchtung und Heizung, Herd und Waschmaschine, Jalousien und Blumenbewässerung, Energiespareinrichtungen und die Überwachung der Vorräte im Kühlschrank.
Für zahlreiche öffentliche und private Bereiche sind solche Dinge geplant oder schon im Gange – mit dem erklärten Ziel, nach und nach jedes algorithmisch fassbare Geschehen zuhause und in unserer Umwelt «intelligent» zu steuern, also nicht durch menschliche Aktivität, sondern durch die (vermeintliche) Intelligenz von Maschinen. Es zeichnet sich ab, dass wir bald auf Schritt und Tritt von solcher Technik umgeben sein werden, die mit immer höheren Funkfrequenzen bis in den letzten Winkel unseres Privatlebens dringt. Schon ist geplant, Zehntausende kleine Satelliten in den Orbit zu schießen, um das digitale Netz lückenlos über die ganze Erde auszubreiten7 und die Maschen immer enger zu ziehen. Ob wir es wollen oder nicht, wir gehen der Technik «ins Netz».
Eine Leere, die nicht leer bleibt
Was bedeutet diese Entwicklung für uns Menschen? Können und sollen wir tatenlos zusehen, wie die Allgegenwart digitaler Technik unser Leben verändert? Wird sie wirklich nur zu unserem Nutzen sein, wie die Verfechter beteuern, oder bezahlen wir den