Die Sphinx des digitalen Zeitalters. Rainer Patzlaff
(iPod), Telefon, Internet und E-Mail. Durch weitere schon eingebaute oder später herunterladbare Apps konnten Medien wie Fernsehen, Spielfilme, Computerspiele, eine leistungsfähige Kamera, GPS-Navigation und tausenderlei andere Funktionen hinzugefügt werden.13
Kurzum: Sämtliche gängigen Digitalmedien waren hier in einem einzigen Gerät vereinigt und ließen sich durch eine neu entwickelte berührungsempfindliche Bildschirmoberfläche (Touchscreen) genial einfach dirigieren. Noch dazu war das Gerät leicht und formschön, passte in jede Hosentasche und verführte als ständiger Begleiter im Alltag zur Dauernutzung. Bis November 2018 hatte Apple davon mehr als 2,2 Milliarden verkauft, in immer wieder neuen Modellen und Variationen. Damit waren die Maßstäbe gesetzt für alle nachfolgenden Anbieter, wie etwa Samsung und Huawei, die nur durch vergleichbare Angebote auf dem boomenden Markt bestehen konnten.
Die Milliarden von Smartphones, die innerhalb von rund 10 Jahren weltweit von den drei Anbietern verkauft wurden (allein im Jahr 2018 waren es in Summe 1,4 Milliarden14) lassen erahnen, in welch gewaltigem Maße sich die Menschheit mit diesem Gerät verbunden hat. Kaum eingeführt, wurde es zum Lieblingsgerät der heutigen Welt.
Künstliche Intelligenz (KI) 15
Im Zuge der Computerentwicklung entstand eine zweite Gattung von Computern, die inzwischen in immer mehr Bereichen zum Einsatz kommen. Im Gegensatz zu den herkömmlichen Rechnern, die den logischen Strukturen des Denkens nachgebildet sind, werden hier die biologischen Vorgänge imitiert, die im Gehirn beim Denken stattfinden (was zu der populären, aber sachlich falschen Meinung führte, diese Computer könnten «denken».) Nach dem Vorbild der neuronalen Netzwerke des menschlichen Gehirns bestehen sie aus elektronischen Netzwerken mit einer Vielzahl künstlicher Neurone, von denen jedes mit Hunderten anderen verschaltet ist.
Diese Netzwerke werden nicht mehr vom Menschen programmiert, sondern darauf trainiert, gewisse Aufgaben selbstständig erfüllen zu können. Eine Aufgabe kann z.B. sein, aus unzähligen Porträtfotos ein ganz bestimmtes Gesicht, das gesucht wird, herauszufinden. Millionen von Trainingseinheiten sind notwendig, bis das Netzwerk sich dem gesetzten Ziel angenähert hat.
Der springende Punkt dabei ist, dass diese «Künstliche Intelligenz» ihre Arbeit im Wesentlichen unabhängig vom Menschen verrichtet, indem sie ständig «dazulernt», womit suggeriert wird, es handele sich um einen kognitiven Vorgang. Edwin Hübner schreibt dazu:
«In ein neuronales Netz ist zwar außerordentlich viel menschliche Intelligenz eingeflossen, aber sie ist in ihm erstarrt. Ein neuronales Netzwerk besitzt deshalb keine eigenständige Intelligenz. Es ist weder dumm noch klug, noch entscheidet es irgendetwas, das sind schlichtweg Begriffe, die auf dieses Gerät nicht anwendbar sind. Eine Mausefalle ist auch nicht klug, nur weil sie genau dann zuschnappt, wenn die Maus den Käse frisst. Die sogenannte Künstliche Intelligenz ist zwar durch menschliches Denken intelligent gemacht, aber sie denkt nicht selbst.»16
Ein böses Erwachen
Es ist nicht zu verkennen: Über alle Erdteile hinweg wurde die «schöne neue Welt» der Medien freudig begrüßt und dauerhaft in den Alltag integriert. Ein Leben ohne die unerschöpfliche Fülle der abrufbaren Informationen, der Spiel- und Unterhaltungsmöglichkeiten, aber auch der Gesprächsforen in den Social Media, konnten sich die meisten schon bald nicht mehr vorstellen. Dazu kamen zahllose Annehmlichkeiten, wie z.B. sich von dem Universalgerät Smartphone navigieren zu lassen, Schnappschüsse oder Videos sofort an Freunde und Verwandte zu schicken, statt Fahrkarten und Kreditkarten einfach das Handy vorzuzeigen – das und vieles mehr trug und trägt dazu bei, das Publikum bei Laune zu halten.
Zwar gab es im Laufe der Jahre immer wieder einzelne Wissenschaftler, Pädagogen, Ärzte und engagierte Gruppen, die mit guten Gründen vor gefährlichen Fehlentwicklungen warnten. Doch sie wurden in der Regel als weltfremde Spinner abgetan, als Fortschrittsbremser und Technikfeinde diffamiert oder als naive Gesundheitsapostel verspottet. Wenn hingegen deren Argumente in den sozialen Netzwerken anfingen Gehör zu finden, dann wussten große Konzerne ihre Interessen zu schützen, indem sie die öffentliche Meinungsbildung auf vielerlei Weise manipulierten und die Kritiker damit niederbügelten – und schon war die hochglanzpolierte Oberfläche der schönen neuen Welt wieder hergestellt.
Dieser Zustand währte viele Jahre lang. Das Blatt begann sich erst zu wenden, als der Amerikaner Edward Snowden, ein ehemaliger CIA-Mitarbeiter, nach seiner Flucht nach Hongkong im Sommer 2013 hochgeheime Dokumente des US-Geheimdienstes NSA veröffentlichte, zu denen er als IT-Mitarbeiter in einem NSA-Büro auf Hawaii Zugang gehabt hatte. Daraus erfuhr die Öffentlichkeit erstmals von den amerikanischen und britischen Geheimdienstprogrammen zur Überwachung der gesamten weltweiten Internetkommunikation. Das Ausmaß der Spionagepraktiken, das Snowden mit reichem Datenmaterial belegen konnte, war für die Öffentlichkeit schockierend. Gleichwohl blieben die Reaktionen der internationalen Politik außer in Deutschland sehr verhalten.
Und doch: Das Misstrauen war geweckt, der wunde Punkt erkannt, und so versprachen die Konzerne Google, Microsoft und Apple neue Verschlüsselungstechniken, um die Daten ihrer Kunden besser zu schützen. Das aber war ein scheinheiliges Manöver, um von der eigenen Spionage abzulenken. Denn diese drei digitalen Großkonzerne verdienen ihr Geld – wie viele andere Firmen auch – mit Werbung. Genauer gesagt: mit personalisierter Werbung, die auf den einzelnen Kunden und seine speziellen Bedürfnisse abgestimmt ist. Dazu brauchen die Konzerne jede Menge Daten zum Kaufverhalten etc., und die holen sie sich vom Smartphone des Nutzers, ohne dass er es merkt.
Überwachungskapitalismus und Enteignung der Menschenrechte
Wie das in der Praxis konkret abläuft, demonstrierte die Süddeutsche Zeitung (SZ) 2019 durch ein kleines Experiment: Eine Münchnerin (Tarnname: Maria Brandl) erlaubte dem Team der SZ, einen Tag lang den Datenverkehr ihres ganz normalen Smartphones mitzulesen, zu speichern und zu analysieren. Beobachtet wurde vor allem, wie viele Informationen von dem Smartphone ständig an Empfänger im Hintergrund abflossen und an welche und wie diese Informationen zu Geld gemacht wurden. Hier zwei Beispiele aus dem Bericht:17
«In der App von Tchibo sieht Maria Brandl sich Campingzubehör an. Von diesem Interesse erfährt in diesem Moment aber nicht nur Tchibo. Die Information geht auch an Google. (…) In der Datenindustrie heißt dieser Vorgang ‹third party tracking›, Dritte verfolgen, was Menschen online so treiben. In diesem Falle ist dies der kalifornische Konzern. Er betreibt den Analysedienst Google Analytics. Millionen Websites und Apps integrieren diesen Dienst. Er ermöglicht es ihnen, nachzuvollziehen, worauf ein Nutzer klickt, wie lange er in der Anwendung bleibt, und vieles mehr. (…) Auch Adjust, ein Berliner Unternehmen, erfährt von Brandls Camping-Vorlieben. Dabei bleibt es nicht. Adjust und Google erhalten zudem eine Nummer, die die Münchnerin eindeutig identifiziert, vergleichbar mit einer Steuernummer. Die Analyse des Datenverkehrs von Maria Brandls Smartphone ergab, dass die meisten ihrer Apps diese Nummer auslesen und übertragen.»
Maria Brandl sieht sich in einem Onlineshop für Naturkosmetik um, klickt auf ein Shampoo. Ihre Bewegungen auf der Seite werden im Hintergrund beobachtet – von Facebook, Google und einem Dienst namens Hotjar. Hotjar kann aufzeichnen, wie sie sich auf der Website verhält, worauf sie tippt, sogar welche Bewegungen ihr Finger auf dem Bildschirm macht. Der Betreiber des Onlineshops kann dann eine Art Video ansehen, wie sich seine Kunden durch den digitalen Laden bewegen. Die Kunden erfahren davon nichts.
Die SZ zitierte dazu die ehemalige Harvard-Professorin Shoshana Zuboff. Sie prägte für dieses Geschäftsmodell den Begriff des «Überwachungskapitalismus», der einer «parasitären ökonomischen Logik» folge und zu einer «Enteignung kritischer Menschenrechte» führe. Die SZ gab abschließend zu bedenken: «Das Problem ist nur: Dieses System hat den Alltag von Millionen Menschen durchdrungen, weil seine Dienste das Leben leichter machen.» Wie sich das Problem lösen ließe, dazu schwieg der Berichterstatter.