Kommentar zum Briefe des Heiligen Paulus an die Römer. Johannes Chrysostomos
er den Philippern; darum heißt es: „Es lassen euch alle Heiligen grüßen, besonders die aus dem Hause des Kaisers“ 8. Den Hebräern schrieb er ebenfalls von da aus. Darum sagt er, daß sie alle die aus Italien grüßen lassen 9. Auch der Brief an Timotheus schickte er von Rom aus ab, als er in Banden lag. Dieser Brief scheint mir der letzte von allen zu sein. Es geht dies aus dem Schlusse desselben hervor: „Denn ich werde schon geopfert, und die Zeit meiner Auflösung steht bevor“ 10. Daß aber Paulus sein Leben in Rom beschloß, ist allgemein bekannt. Auch der Brief an Philemon ist einer der letzten; denn der Apostel schrieb ihn in seinem letzten Greisenalter. Darum heißt es in demselben: „Als der Greis Paulus, nun aber auch in Banden um Christi Jesu willen“ 11. Dem Brief an die Kolosser freilich geht er noch voran; und das ist wieder aus der Schlußstelle ersichtlich. Den Kolossern nämlich schreibt Paulus: „Tychikus wird euch alles kundtun, den ich mit Onesimus, dem treuen und geliebten Bruder, geschickt habe“ 12. Es war dies aber derselbe Onesimus, dessentwegen er den Brief an Philemon geschrieben hatte. Daß es nicht ein anderer war, der denselben Namen hatte wie jener, geht aus der Erwähnung des Archippus hervor. Diesen hatte sich nämlich Paulus im Briefe an Philemon zum Mitfürsprecher in der Angelegenheit des Onesimus erkoren; denselben führt er auch im Briefe an die Kolosser an, wenn er sagt: „Sagt dem Archippus: Hab acht auf das Amt, das du übernommen hast, damit du es voll verwaltest!“ 13. Mir scheint auch der Brief an die Galater dem an die Römer voranzugehen. Wenn er in der Bibel eine andere Stelle einnimmt, so ist das nichts Auffallendes. So lebten ja auch die zwölf Propheten der Zeit nach nicht hintereinander, sondern weit voneinander entfernt; in der Reihenfolge der Bibel jedoch kommen sie hintereinander. Aggäus, Zacharias und der Engel(prophet) 14 weissagten nach Ezechiel und Daniel und lange nach Jonas und Sophonias und den andern allen; gleichwohl stehen sie in derselben Reihe mit jenen allen, von denen sie doch der Zeit nach so sehr abstehen.
2.
Niemand halte diese Arbeit für eine nebensächliche und eine solche Untersuchung für eine überflüssige Spielerei; denn die Zeit, in welcher die einzelnen Briefe abgefaßt worden sind, unterstützt uns nicht wenig bei unsern Untersuchungen. So sehe ich, daß Paulus an die Römer und an die Kolosser über dieselben Dinge schreibt, aber nicht in gleicher Weise über dasselbe, sondern an jene mit großer Herablassung (zu ihren falschen Ansichten), wenn er z. B. sagt: „Den, der schwach ist für den Glauben, nehmt auch auf, nicht um Meinungen zum Austragen zu bringen; denn der eine glaubt alles essen zu dürfen, der Schwache aber ißt nur Gemüse“ 15. Den Kolossern schreibt er über denselben Gegenstand, aber mit mehr Geradheit: „Wenn ihr abgestorben seid mit Christus, was stellt ihr noch Regeln auf, als lebtet ihr in der Welt: ‚Faß ja nicht an, koste nicht, rühr’ nicht an’? Alles das sind Dinge, die Verderben bringen durch Mißbrauch, zur Überwindung des Fleisches sind sie nichts nutze" 16. Ich finde für die Verschiedenheit keinen andern Grund als die Zeit, in der es geschah. Am Anfang war es nötig, sich herabzulassen, nachher nicht mehr. So kann man den Apostel noch an vielen andern Stellen dieselbe Schreibweise befolgen sehen. So pflegen es ja auch der Arzt und der Lehrer zu machen. Der Arzt behandelt die Kranken am Anfange ihrer Krankheit nicht ebenso wie gegen Ende derselben, und der Lehrer geht mit den Kindern, welche die Anfangsgründe des Wissens lernen, nicht ebenso um wie mit Schülern, die der Vollendung ihres Wissens obliegen.
Den andern (Christengemeinden) schrieb der Apostel durch irgendeine (bestimmte) Ursache und Veranlassung bewogen; im Brief an die Korinther bringt er dies zum Ausdruck, wenn er sagt: „Worüber Ihr mir geschrieben habt“ 17, und den Galatern hält er (die Veranlassung des Briefes), gleich eingangs und während des ganzen Briefes vor Augen. Aus welchem Grunde und warum schrieb er den Brief an die Römer? Er scheint ihnen ja das Zeugnis zu geben, daß sie ganz guter Gesinnung vollkommen seien, voll jeglichen Wissens, imstande, sogar andern Ermahnungen zu geben. Warum schrieb er also einen Brief an sie? „Wegen der Gnade Gottes“, sagt er, „die mir gegeben ist dazu, ein Diener Jesu Christi zu sein“. Deshalb sagt er eingangs: „So bin ich, was an mir liegt, bereit, auch euch, die ihr zu Rom seid, das Evangelium zu verkünden“ 18. Wenn er sagt, sie könnten sogar andern Ermahnungen geben und Ähnliches, so ist das mehr eine Verneigung vor ihnen und ein Mittel, sich ihre Gunst zu erwerben; denn auch für sie war es eine Notwendigkeit, durch einen Brief auf den rechten Weg gewiesen zu werden. Weil er noch nicht zu ihnen hatte kommen können, darum weist er diesen Leuten den rechten Weg auf eine doppelte Weise: durch den Nutzen, den sie aus dem Briefe ziehen konnten, und dadurch, daß er ihnen sein (persönliches) Erscheinen in Aussicht stellt. So war diese heilige Seele geartet: die ganze Welt nahm er in sein Herz auf und trug alle darin. Als die nächste Verwandtschaft betrachtete er die, welche aus dem (gleichen) Verhältnis zu Gott hervorgeht. Als ob er der Vater aller geworden wäre, so liebte er sie, ja eine größere Liebe noch als jeder (leibliche) Vater legte er an den Tag. So ist die Gnade des Hl. Geistes; sie geht über das natürliche Kindschaftsverhältnis und ist der Quell einer noch innigeren Liebe. Das ist besonders an der Seele des Paulus zu sehen. Unter dem Einfluß dieser Liebe nahm er gewissermaßen Flügel an; beständig war er auf dem Wege, alle zu besuchen, nirgends machte er Halt und rastete aus. Nachdem er das Wort Christi gehört hatte: „Petrus, liebst du mich? Weide meine Schafe“ 19, womit dieser den höchsten Ausdruck der Liebe gekennzeichnet hatte, befliß er sich desselben mit überschwänglichem Eifer.
Ahmen also auch wir den Apostel nach! Haben wir nicht die ganze Menschheit, ganze Städte und Völker zu lehren, so führe ein jeder wenigstens seine Hausgenossen, sein Weib, seine Kinder, seine Freunde, seine Nachbarn auf den rechten Weg! Niemand wende mir ein: „Ich bin zu ungelehrt, zu schwerfällig dazu.“ Niemand war ungelehrter als Petrus, niemand schwerfälliger als Paulus. Dieser gesteht es ja selbst und schämt sich dessen nicht, wenn er sagt: „Bin ich auch schwerfällig in der Rede, so doch nicht in der Erkenntnis“ 20. Und doch haben dieser Schwerfällige und jener Ungelehrte unzählige Weltweise überwunden, unzählige Schönredner zum Schweigen gebracht. Das haben sie alles zustande gebracht durch ihren Eifer und die Gnade Gottes. Welche Entschuldigung werden wir haben, die wir nicht zwanzig Leute gewonnen, nicht einmal unsern Hausgenossen das Heil gebracht haben? Alles leere Ausrede und eitler Vorwand! Nicht Ungelehrtheit, nicht Unbeholfenheit hindert die Unterweisung, sondern Trägheit und Schläfrigkeit. — Laßt uns also abschütteln diese Schläfrigkeit, laßt uns allen Eifer aufwenden für unsere Angehörigen, damit wir hienieden in reichem Maße Seelenfrieden genießen, wenn wir die, welche uns nahe stehen, auf den Weg der Furcht Gottes führen, und im Jenseits unendlicher Güter teilhaftig werden durch die Gnade und Liebe unseres Herrn Jesus Christus, durch den und mit dem Ehre sei dem Vater zugleich mit dem Hl. Geiste in alle Ewigkeit. Amen.
ZWEITE HOMILIE. * Kap. I, V. 1—7. *
1.
Kap. I, V. 1—7.
V. 1: „Paulus, ein Diener Jesu Christi, berufener Apostel, auserwählt für das Evangelium Gottes“, V. 2: „welches er zuvor durch seine Propheten in den heiligen Schriften versprochen hatte.“
Moses hat den fünf von ihm geschriebenen Büchern nirgends seinen Namen beigesetzt, desgleichen nicht die Geschichtschreiber nach ihm; aber auch Matthäus nicht, noch Johannes noch Markus noch Lukas. Dagegen setzt der hl. Paulus allen seinen Briefen seinen Namen voran. Warum? Weil die andern an Anwesende schrieben; darum war es unnötig, sich selbst als anwesend erscheinen zu lassen, Paulus aber schickte seine Schreiben in die Ferne und in Briefform; darum war die Beisetzung seines Namens notwendig. Wenn er dies nur im Briefe an die Hebräer nicht tat, so geschah es mit Vorbedacht. Er war nämlich den Juden verhaßt; damit sie nun nicht, wenn sie seinen Namen hörten, von vorneherein für seine Rede unzugänglich wurden, verschwieg er ihnen denselben und verschaffte sich so bei ihnen Gehör. Was die Propheten und Salomon betrifft, die ihre Namen beisetzten, so überlasse ich es euch, zu untersuchen, warum es die einen taten, die andern nicht. Ihr müßt ja nicht alles von mir erfahren, sondern sollt auch selbst euren Geist anstrengen, damit ihr nicht zu denkfaul werdet.
„Paulus, ein Diener Jesu Christi.“
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