Miryams Geheimnis. Ruth Gogoll
gut.« Frau Molitor lächelte sie begütigend an. »Das macht keine große Mühe. Wir wollen doch, dass Sie sich hier wohlfühlen.«
Frau Molitor wollte das bestimmt, da war Ella sicher. Selina war es wahrscheinlich egal. Und Miryam? Das war die große Frage.
»Wo seid ihr denn alle?«, erklang da plötzlich eine Stimme von der Halle her.
Im nächsten Moment quietschte es, und ein Wirbelwind kam durch die Tür gefegt, der sich dann an Ellas Beinen fing und sich um sie herumwand. Unaufhörliche hohe Freudenlaute erfüllten das Zimmer.
»Inka!« Ella traten die Tränen in die Augen, als sie sich zu ihrer Hündin hinunterbeugte. »Geht es dir gut, meine Süße?«
Die kleine Hündin schien sich überhaupt nicht mehr beruhigen zu können.
»Ich glaube, jetzt geht es ihr sehr gut«, beantwortete Miryam Ellas Frage von der Tür her. »Auf jeden Fall musste ich nicht nach euch suchen. Sie wusste genau, wo ihr wart.« Sie lächelte leicht.
»Hunde wissen das immer«, ergänzte Frau Molitor das mit einem geradezu mütterlichen Lächeln. »Das ist Ihr Hund?« Trotz der Frageform war das mehr eine Feststellung, als sie Ella nun ansah.
Ella nickte und versuchte, ihre Tränen zurückzuhalten. »Ja, das ist mein Hund«, bestätigte sie schluckend. »Ich habe dich so vermisst«, sagte sie leise zu Inka, die sich jetzt langsam nicht mehr wie ein Kreisel um sie drehte.
»Und sie hat Sie wahrscheinlich noch viel mehr vermisst«, meinte Miryam, während sie jetzt auf die kleine Gruppe zutrat. »Obwohl Ihre Nachbarin sie bestimmt sehr gut versorgt hat.«
»Ja, bestimmt.« Dankbar lächelte Ella mit feuchten Augen zu Miryam hoch. »Danke, dass Sie Inka geholt haben.«
»Hatte ich doch versprochen«, entgegnete Miryam wegwerfend. »Sie sind hier schon soweit?« Mit fragend hochgezogenen Augenbrauen wandte sie sich an Frau Molitor.
»Noch nicht ganz«, antwortete Frau Molitor. »Ich wollte noch ein paar Sachen wegräumen, damit sie dem Rollstuhl nicht im Weg sind.«
Miryam nickte. »Ja, das müssen wir wohl so machen.«
»Ich will wirklich nicht, dass Sie solche Umstände durch mich haben.« Ella entschuldigte sich fast, obwohl sie die Entscheidung hier zu sein ja gar nicht selbst getroffen hatte. »Sie brauchen Ihr Büro doch wahrscheinlich.« Sie saß nach vorn gebeugt im Rollstuhl und streichelte Inka, weil sie sie mit einem Arm nicht auf den Schoß nehmen konnte. Deshalb blickte sie in einer etwas verdrehten Körperhaltung, die fast wie eine sportliche Dehnübung aussah, zu Miryam hoch.
»Ich habe noch ein Büro in der Stadt«, sagte Miryam und lächelte sie geistesabwesend an.
»Dao wird Ihnen beim Anziehen und Waschen helfen«, erklärte Frau Molitor gleich anschließend mit einem Blick auf die junge Frau, die jetzt von der Couch zu ihnen herüberblickte. »Sie hat schon in Thailand Leute betreut. Sie kennt sich damit aus.«
Jetzt erst sah Ella, dass die junge Frau Asiatin war. Thailänderin offenbar. Ella verzog das Gesicht. »Ich hoffe, ich kann das meiste selbst tun.«
»Ich helfe gern.« Dao antwortete ihr mit einer sehr sanften Stimme und lächelte auf diese hintergründige asiatische Art, bei der man nie wusste, was sie bedeutete. Sie kam zu Ella herüber. »Soll ich Bad zeigen?«
»Ja, tun Sie das doch bitte, Dao«, bestätigte Frau Molitor mit einem zustimmenden Nicken. »Selina und ich werden in der Zwischenzeit hier im Büro ein bisschen die Möbel umräumen.«
Selinas wahrscheinlich entsetztes Gesicht sah Ella nicht mehr, weil Dao sie schon ins Bad rollte.
8
Ein bisschen kam Miryam sich so vor, als wäre sie aus ihrem eigenen Haus geflohen, um den Hund zu holen. Aber es war einfach nötig gewesen.
Die Fahrt davor hierher, mit Ella im Auto, so nah bei ihr, aber diesmal nicht bewusstlos, war ihr endlos erschienen. Immer mehr hatte sich eine Spannung zwischen ihnen aufgebaut, die aber – das wusste Miryam sehr gut – eher von ihr ausgegangen war als von Ella.
Sie hatten sich ganz harmlos unterhalten, und doch war es ihr oft so vorgekommen, als enthielte jeder Satz einen Subtext, eine doppelte Bedeutung, die nicht ausgesprochen wurde. Als müsste man zwischen den Zeilen lesen, um den wahren Inhalt des Gesprächs zu erfassen.
Das war absoluter Blödsinn, schalt sie sich, und doch konnte sie sich selbst nicht so ganz davon überzeugen. Hatte sie wirklich alles zweideutig gemeint, was sie gesagt hatte? Hatte Ella alles zweideutig gemeint, was sie geantwortet oder gefragt hatte?
Nein, das war nicht möglich. Diese Frau meinte immer, was sie sagte. Und das galt normalerweise auch für Miryam. Deshalb waren sie beide die ungeeignetsten Kandidatinnen für eine zweideutige Unterhaltung.
Liegt es vielleicht daran, dass ich mir wünsche, die Unterhaltung wäre zweideutig gewesen? fragte sie sich selbst.
Weil sie ihre Augen manchmal schon richtig mit Gewalt von Ella hatte abwenden müssen, wenn sie einmal zu ihr hingeschaut hatte. Glücklicherweise war sie dazu gezwungen gewesen, danach wieder auf die Straße zu schauen, sonst hätte sie sich fast in Ellas Anblick verlieren können.
Sie atmete tief durch. Das lag nur daran, weil Ella so . . . anders war. Sie war eben nicht wie die Frauen, die Miryam sonst so kannte. Privat kannte oder gekannt hatte. Zuerst einmal war sie ein ganzes Stück jünger, und zum Zweiten . . . Ja, zum Zweiten war sie eben anders.
Sie merkte, dass sie sich in Gedanken wiederholte, weil sie zu keinem eindeutigen Ergebnis kommen konnte. Das war etwas, das sie nicht gewöhnt war und das sie ausgesprochen frustrierte. Es gab für jedes Problem eine Lösung, man musste nur lange genug darüber nachdenken.
Dafür hatte sie jedoch oft nicht die Geduld. Sie war ein ziemlich ungeduldiger Mensch, das hatte sie wohl von ihrem Vater. Eine Lösung, die sich nicht sofort präsentierte, machte sie wütend.
Was war hier die Lösung? Da gab es viele Dinge, die sie berücksichtigen musste. Auch wenn sie das nicht wollte. Eigentlich hätte sie es sich verbieten müssen, überhaupt über Ella nachzudenken.
Aber das konnte sie nicht. Und selbst, wenn sie es gekonnt hätte, sie hätte sich nicht an das Verbot gehalten, das wusste sie jetzt schon. Sie konnte sich gar nicht daran halten, denn auf einmal meldeten sich Gefühle in ihr, die sie schon lange vergessen geglaubt hatte.
Gefühle, das hatte sie schon sehr früh in ihrem Leben gelernt, waren nichts wert und führten zu nichts. Deshalb hatte sie sich darum bemüht, diesen Teil ihres Charakters möglichst zu minimieren. Es gab Ursache und Wirkung, es gab eine Funktion, die ein Mensch oder eine Sache haben konnte, es gab Verträge mit Leistung und Gegenleistung. Das war im Beruflichen genauso wie im Privaten. Gefühle hatten da nichts zu suchen.
Von klein auf hatte ihr Vater sie gerügt, wenn sie welche zeigte. Er hatte keinen Sohn, also war seine älteste Tochter der Ersatz dafür, der zwar nie genügen konnte, aber trotzdem zu funktionieren hatte. Er hatte von ihr Dinge verlangt, die man einem kleinen Kind niemals abverlangen sollte. Eine richtige Kindheit hatte sie eigentlich nie gehabt. Es war immer darum gegangen zu beweisen, dass sie gut genug war. Und sie war nie gut genug gewesen. Weil sie kein Junge war.
Was hatte sie sich angestrengt, zu Hause und schon im Kindergarten, dann in der Schule und im Studium. Auch später noch, solange ihr Vater noch lebte. Aber es hatte nichts genützt.
Niemals hätte ihr Vater ihr das durchgehen lassen, was er Selina durchgehen ließ. Die er allerdings auch nicht ernstnahm. Er betrachtete sie wohl eher als ein unterhaltsames Spielzeug als einen Menschen. Manchmal hätte Miryam sich gewünscht, er hätte sie genauso betrachtet. Denn mit Selina lachte er wenigstens ab und zu. Das hatte er mit Miryam nie getan.
Doch er verbrachte ohnehin nicht viel Zeit mit seinen beiden Töchtern. Selina betete ihn an, und wenn Miryam es richtig betrachtete, hatte sie das wohl auch getan. Bis sie merkte, dass es keinen Sinn hatte. Und doch war es sehr schwer, sich das abzugewöhnen,