Sommerleithe. Klaus Weise

Sommerleithe - Klaus Weise


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damit sich meine Beine irgendwo im Gestänge unterhaken könnten und ich Halt fände, um die Arme zu entlasten. Aber die Deckenkonstruktion begann zu wackeln, und neben mir krachten zwei Spieße in die Tiefe … Der Blick nach unten offenbarte ein Schlachtfeld: die richtungslosen Wegweiser weiß gekalkter Zervelatwürste, Mettwürste wie abgetrennte Gliedmaßen, Schinken, die auf dem Fußboden der Metzgerküche lagen wie gefallene Soldaten. Blitzartig wurde mir klar: Es gab keine Rettung. Bald würde auch ich hinunterkrachen, zerplatzen und verstreut auf dem Steinboden liegen; nur dass ich Knochen hatte, die beim Aufprall zerschellen würden, ohne dass sie je ein Arzt wieder zusammenflicken und reparieren könnte. Und selbst wenn ich irgendwie überleben sollte, was unwahrscheinlich schien beim Anblick des Gemetzels am Boden, würde es mir nicht gelingen, mit zersplitterten Knochen zum Fenster zu robben, mich mit Armen und Händen zur Fensterbank hochzuhieven, das Fenster zu öffnen und mich zu befreien – oder zumindest um Hilfe zu rufen.

      So vertraut ich auch war mit all den lufttrocknenden Fleischfreunden, die stets unter der Decke hingen, noch nie hatte ich zwischen ihnen gehangen, und noch nie hatte ich mit ihnen von oben hinabgeschaut auf ihre Brüder und Schwestern, die ich aus scheinbar sicherer Höhe hatte abstürzen lassen bei dem Versuch, mich zu retten, und die nun, ihrer stolzen Würde beraubt, kärglich und unordentlich verstreut auf dem Fußboden lagen, den die Friedel, unser buckliges und nicht mehr junges Mädchen für alles, diesen wie jeden Abend geschrubbt hatte und dessen nassen Glanz keiner mehr mit den Schmutzspuren seiner Schritte besudeln durfte. Denn zweifellos war es eine Würde, nicht sofort, wie manche ihrer frischfleischigen Geschwister, verzehrt zu werden, sondern zuvor in stiller Ruhe trocknen zu dürfen und haltbar gemacht zu werden, also länger zu leben als diese.

      Von meinem Vater wusste ich, was hier oben wie lange zu hängen hatte; ich kannte die Trockenzeiten von Wurst und Schinken, bevor sie verkauft werden konnten. Doch meine eigene Trockenzeit kannte ich nicht. Ich wusste nur, dass etwas umso teurer wird, je länger es an der Luft trocknet. Denn trocknendes Fleisch verliert Wasser, und für dieses vertrocknete Wasser, das sich in Luft auflöst, also für Luft, muss der Kunde im Laden bezahlen. Er, mein Vater, kaufe ja auch keine vertrockneten Schweine, sondern bezahle für ihr Lebendgewicht, mit Wasser im Fleisch und Blut in den Adern. Trotz dieser Erklärung fand ich es immer ungerecht, dass jemand für etwas bezahlen muss, das nicht mehr da ist, das sich in Luft aufgelöst hat, denn die Luft gehört schließlich allen.

      Wieso hatte mein Vater, der mich ihm gegenüber zu bedingungslosem Vertrauen erzogen hatte, wieso hatte ausgerechnet er Oswald nicht daran gehindert, mich in den Wursthimmel zu hängen und dort so lange hängen zu lassen? Als sein Chef hätte er es ihm doch verbieten können. Oder ihn davon abhalten, schließlich war er stärker als Oswald. Oder etwa nicht?

      Er musste doch wissen, dass ich keine Bindfadenschlaufe habe, und wenn ich eine hätte, wo sollte die sein? Etwa um den Hals geschlungen? Da wäre ich erstickt. Oder sie hätte mir den Hals gebrochen. Und mir eine Bindfadenschlaufe um die Füße zu wickeln, als könnte man mich beliebig lange kopfunter an einen Räucherspieß hängen, auch das wäre nicht praktikabel, denn mir wäre das Blut in den Kopf gestiegen und schließlich aus Augen, Ohren, Nase und Mund herausgeflossen.

      Fragen bedrängten mich; und da ich die mich umschwirrenden und sich verknäuelnden Fragezeichen nicht entwirren und auflösen konnte, fühlte ich mich bald noch hilfloser, verlassener und einsamer, als ich es ohnehin schon war. Wieso hat Vati Oswald nicht daran gehindert, mich im Himmel aufzuhängen? Ja, schlimmer noch – sein Lächeln hat ihn als Oswalds Komplizen, wenn nicht gar als seinen Anstifter, verraten. Wieso ist er mit Oswald, sogar währenddessen noch merkwürdig lächelnd, aus dem Raum geschlichen? Wieso ist das Licht ausgeschaltet worden? Und wieso die Tür verschlossen? Es konnte nur eine Antwort geben: Ich sollte langsam vor mich hin sterben, ohne mich selber retten zu können oder von anderen gesehen und aus meiner Not befreit zu werden.

      Doch was habe ich verbrochen? Wofür soll ich bestraft werden? Und wenn schon der Himmel aussieht wie die Hölle, wie wird dann erst die Hölle aussehen? Etwa wie die Räucherkammer unserer Metzgerei? Um in die Hölle zu kommen, muss man am Leben sein. Also werde ich den Sturz überleben. Doch noch nie ist jemand aus der Hölle zurückgekehrt. Wie lange wird das Leben in der Hölle wohl dauern? Ewig. Wie lang dauert ewig? Eine Ewigkeit. So lange, wie ein kleiner Vogel, der alle hundert Jahre einmal seinen Schnabel wetzt am höchsten Berg der Welt, Zeit benötigt, den Berg abzuwetzen, bis er flach ist wie der Strand am Meer. Aber was beginnt dann hinter dieser Ewigkeit? Eine neue Ewigkeit. Weil eine Ewigkeit kein Ende hat. Hinter der Ewigkeit gibt es nichts. Noch nicht einmal ein Nichts. Wenn die Ewigkeit ein Nichts wäre, dann könnte es sie ja nicht geben. Da es sie aber gibt, muss sie etwas sein, und wenn sie etwas ist, muss sie auch ein Ende haben.

      Vielleicht langweilt sich die Hölle irgendwann mit mir, wirft mich in eine feuchte und dunkle Ecke und lässt mich sterben?

      Auf all diese Fragen gibt es nur eine Erklärung: Ich lebe. Und hierfür soll ich bestraft werden. So viele Menschen, jeden Tag immer wieder neu, leben nicht! Sie leben einfach nicht. Obwohl sie da sind. Aber sie kommen nicht ins Leben. Bleiben in den Bäuchen der Frauen verborgen. Im Dunkel. Und doch könnten sie leben. Es gibt viel mehr Menschen auf der Erde, die nicht leben, als Menschen, die es ins Leben geschafft haben. Genauso gut hätte ich versteckt bleiben können im Leben, und an meiner Stelle hätte ein anderer, von mir aus auch eine andere, das Licht der Welt erblickt. Ich habe die Grenze vom bloßen Da-Sein ins Leben überschritten – und dafür werde ich bestraft. Weil ich jemand anderem das Leben weggenommen, also gestohlen habe. Das ist der Grund, warum ich im Himmel hänge. Um in die Hölle zu kommen. Aus Gründen der Gerechtigkeit, als Erziehungsmaßnahme des Lebens? Und die Hölle, das kann nur die Räucherkammer unserer Metzgerei sein.

      Wo bleibt Mutti? Wieso kommt sie nicht, nimmt einen Stuhl, stellt ihn unter mich, steigt herauf, hebt mich aus dem Gestänge, umarmt mich, gibt mir einen Kuss, zaubert aus den Seitentaschen ihrer grünen Strickjacke zwei Paar knallroter Kirschen hervor, hängt sie mir über die Ohren, gibt mir einen zweiten Kuss und lächelt mich an? Wieso geschieht nicht, was zu geschehen hat? Wieso tut sie das nicht? Wo bleibt sie?

      Ich war fünf Jahre alt, damals – und seit fünf Jahren König. Naja, vielleicht auch erst vier oder viereinhalb oder vierdreiviertel, aber auf jeden Fall ein König, ein kleiner König. Über drei Königreiche. Und mein zweites Königreich war die elterliche Metzgerei in Gera, Ortsteil Lusan.

      Die Dunkelheit ängstigte mich. Obwohl es keine wirkliche Dunkelheit war. Denn Straßenlicht fiel in den Raum, und ich und die gleichgültig vor sich hin hängenden Würste und Speckseiten warfen stumpfe Schatten – oder lebendige, schwankende, wenn Autos vorüberfuhren und das Licht ihrer Scheinwerfer durch den Raum wandern ließen. Dann – als könne ich mit den Bewegungen die Vorüberfahrenden auf mich und meine Lebensgefahr aufmerksam machen – bewegte ich mich, zappelte vorsichtig mit den Beinen, schwenkte, mal mehr, mal weniger, den Körper hin und her, doch stets darauf bedacht, dass weder meine Hände von dem schwarzen Spieß abrutschten noch dieser aus dem Himmelsgestell herausbrach. Doch sie sahen mich nicht, nicht die Kraftanstrengung des Festhaltens, nicht meine Angst vor dem Absturz.

      Und sollte mein Schatten mich sehen, so beachtete er mich nicht. Er war einfach nur da und wollte weiter nichts, außer nur da zu sein. Wieso löste er sich nicht von meinem Körper, wanderte durchs Fenster auf die Straße, um dort wild herumzufuchteln, damit jemand käme und mich vom heranschleichenden Tod befreite? Der Schatten meines Körpers lebte durch mich, war mein dunkles, losgelöstes Ich: Gäbe es mich nicht, gäbe es ihn auch nicht. Er würde gnadenlos vom Licht geschluckt. Wieso erschien ihm sein Leben, das ich ihm spendete, so bedeutungslos, dass er nichts unternahm, mich zu retten und, indem er mich rettete, auch sich? Doch er war Knecht, tat stur, was mein Körper ihm befahl, ohne jegliche Anteilnahme und eigenen Willen zu handeln.

      Und wenn schon mein Schatten faul und blöd und träge war, wieso wollten dann nicht wenigsten die Schatten von Wurst und Speck und Schinken ausbrechen aus ihrer beengten Existenz und dem engen Raum ihrer Gefangenschaft? Wieso wollten sie nicht ihr schwarzes Licht nach draußen in die Weite scheinen lassen oder auch nur auf einen kleinen Spaziergang schicken durch ein Fenster oder einen Gardinenspalt im Aufenthaltsraum, um eine ihnen verborgene Welt zu entdecken und sie für mich um Hilfe zu bitten?

      Sie kannten


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