Sommerleithe. Klaus Weise

Sommerleithe - Klaus Weise


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sie mich befreien, ich nähme die Wurst- und Schinkenschatten mit in die Sommerleithe, sie dürften sich zu uns an den Tisch setzen und mit uns zu Abend essen von all dem, was ihnen hier im spärlichen Licht der Straßenlaterne und der vorüberfahrenden Autos verheißungsvoll, aber unerreichbar entgegenleuchtete.

      Oder waren sie gar nicht dumm, sondern stellten sich nur so, registrierten stumm, was um sie herum geschah, verständigten sich in einer für die Menschen unhörbaren und, selbst wenn diese sie hören würden, unverständlichen Geheimsprache, die sie, sollten sie es wollen, jederzeit aufscheinen lassen könnten wie das Menetekel in der Bibel auf der Wand: Mene Mene Tekel Upharsin. Aber sie wollten nicht. Und so blieb alles, wie es war.

      Je länger ich hing, umso blasser wurde meine Phantasie; und im bald aufziehenden Schimmer der Morgensonne würden die Schatten erbleichen. Weg aus meinem Kopf! Ihr Schatten, weg! Haut ab! Los! Verschwindet! Denn ich will nur eines: mit meinen Füßen wieder auf der Erde stehen.

      Was sich bewegt, lebt; und was lebt, hat Antlitz, hat Gesicht. Augen beginnen silbern zu glänzen, Schweineköpfe glotzen mich an, verziehen ihre Rüssel und grunzen. Schweineohren wachsen zu Elefantenohren und richten sich auf. Was haben sie vor mit mir? Sind sie, die den Tod schon erlebt haben, neugierige Zaungäste meines nahenden Todes? Und kündigt sich nicht grollend und Lichtblitze vorausschickend draußen am Himmel ein Unwetter an, dessen Spektakel meine Reise ins Ungewisse begleiten wird? Meine Hände, die mich festhalten sollten, um mich vor dem Untergang zu bewahren, werden feucht, beginnen zu schwitzen, und der kalte Schweiß des sich anschleichenden Todes mischt sich mit der immer heißer werdenden Glut meiner Angst. Das am Räucherspieß klebende Fett beginnt zu schmelzen, fließt als heißes Öl an meinen Armen herunter, verbrüht meine Haut, sammelt sich als siedend heiße Fettbrühe in meinen Schuhen, und der schwarze Holzstock über mir, an dem ich mich festhalte und der mich hält, verwandelt sich langsam in eine rot glühende Eisenstange, während meine Hände kälter und kälter werden, betäubt von der erfrierenden Hitze und der Glut des Eises.

      Es gibt keine Rettung. Niemanden, der die Tür aufschließt, das Licht anknipst und mich befreit aus meinem Geängste und dem Gestänge meiner Pein. Ich bin allein.

      Wie gern läge ich jetzt in meinem Bett! Selbst ein schweres Gewitter, vor dem ich mich schon immer unglaublich fürchte, im Bett über mich ergehen zu lassen, wäre besser, als hier zu hängen. Wie viel lieber würde ich, von Bettwäsche umhüllt und verborgen, das Grauen unberechenbar einschlagender Blitze ertragen, das grelle Zittern eines unwirklichen Lichts, diese schrecklichen, alles erhellenden und die Augen erblinden lassenden Sekunden samt dem gleichzeitig peitschenden und knallenden Donner, der, kaum ist er verklungen, sich mit steigernder Wut wieder und wieder laden und blitzschnell wie eine zum Biss hervorschnellende Kobra entladen kann, um irgendwann weiterzuziehen, sich in der Ferne zu verlieren und das Gefühl zu hinterlassen, ich sei noch einmal davongekommen.

      Blitz und Donner, das weiß ich, haben Kraft und Gewalt, mich, mein Bett, mein Schlafzimmer, unser Haus, ja, unsere Familie, wenn nicht gar ganz Gera zu vernichten, aber – sie tun es nicht! Sie drohen nur. Um weiterzureisen. Vielleicht haben sie uns unter dem Grollen heranpolternder Gesteinsbrocken und dem Getöse von Paukenschlägen im Licht des Blitzes betrachtet und uns für unwürdig befunden, von ihnen vernichtet zu werden, um sich ihrer Macht würdigere Opfer zu suchen? Stärkere, an denen sich ihre eigene Stärke hätte austoben können? Oder schwächere, um sie verächtlich zu bespötteln?

      Neben einem vom Blitz gespaltenen Baum zu stehen, der in Flammen aufgeht, neben verkohlten Kühen auf der Weide oder zerstörten Häusern, aus denen Menschen flüchten, deren Haare und Kleider brennen und die aussehen wie verzweifelt fortrennende Fackeln auf Beinen – all das wäre mir lieber, als hier oben zu hängen. Bedrängt von grunzenden Schweinefratzen.

      Schweine fressen alles. Auch mich? Einst hatten die Tiere, die jetzt tot und in Würste und Schinken verwandelt neben mir hängen, Gesichter und Leben, sind herumgesprungen und haben sich des Lebens gefreut. Nun sind sie tot, doch ihre Geister – so etwas gibt es, wie ich aus den Geschichten meiner Mutter weiß, die sie meiner Schwester, Klaus und mir vor dem Einschlafen vorgelesen hat – leben und wollen sich nun an mir rächen. Aber rächen wofür? Was habe ich ihnen getan? Ich habe sie nicht getötet. Oswald und mein Vater haben sie getötet. Sollen sie doch Oswald und meinen Vater neben sich hängen und für ihre Ermordung bestrafen und quälen.

      Ich esse ohnehin lieber frisches Brot, bestrichen mit Butter und bestreut mit Salz oder Schnittlauch, als belegt mit dem Fleisch, das jetzt neben mir hängt. Mit einer Ausnahme: Nichts geht über eine Scheibe Brot mit grober Leberwurst. Wenn man die Leberstückchen im Mund spürt, sie mit der Zunge am Gaumen zerdrückt zu einem feucht-mehligen Brei und die Leber ihren Geschmack entfaltet, dann ist dieser Genuss die Veredlung des altehrwürdigen Fleischerhandwerks in Perfektion. Aber weder können die Würste und Schinken, inmitten derer ich hänge, dieses mein Geheimnis wissen noch ahnen. Wie und woher auch?

      Oswald! Vor ihm, der mich zuerst zu meiner Freude, dann zu meiner Trübsal himmelhoch gehängt hatte – so freundlich er mir gegenüber war in Gegenwart meiner Eltern –, hatte ich mich, wenn ich mit ihm allein war, immer ein wenig gefürchtet. Außerdem schien er mir, fühlte er sich von mir unbeachtet, etwas Andersartiges auszustrahlen, etwas Finsteres, Verborgenes. Seinem wulstigen Gesicht, seinen wie mit Daumen, Zeige- und Mittelfinger nach vorne gekneteten Augenwülsten samt wuscheliger Augenbrauen, seinen nach außen gestülpten, viel zu dicken Lippen, den drahtigen kurzen Haaren – die mich immer an den Dutt aus silbernem Draht erinnerten, mit dem Mutti die Tiegel säuberte –, von denen er, obwohl er jünger war als mein Vater, schon viele verloren hatte und unter denen die Schädeldecke hervorschimmerte, aber ganz besonders seinem Lächeln – konnte ich all dem trauen? Oder war es nur eine Verstellung wie bei Rotkäppchen und dem Wolf?

      Nichts half. Weder schlimmere Ängste zu beschwören noch meine verzweifelte Situation mit den bunten Bildern meiner Phantasie zu verzieren und zu beschönigen.

      Was nur, was hatte ich getan? Was verbrochen, dass ich sterben musste? Noch nie hatte ich den Tod gefühlt. Jetzt war er da.

      4.

      «Im Westen ist es kalt»

      Da nahmen mich die Hände meiner Mutter, pflückten mich aus der Krone des Fleischbaumes und legten mich behutsam ins warme Wasser einer Mulde, in der sonst Wurstmassen vermengt, der Glitsch vom Naturdarm gespült, Schweinezungen von behaarten Fleischerarmen ellenbogentief in großkalibrige Kunstdärme gestopft wurden, die gefüllt waren mit warmer, noch flüssiger roter und mit weißen Speckwürfeln versetzter Blutwurstmasse – und in welcher zur Vorweihnachtszeit Mutti den Teig für die Christstollen ansetzte.

      Mein Körper sog das Wasser auf, pumpte sich voll mit Flüssigkeit, die Haut wurde geschmeidig, Schuhe und Kleider wuchsen aus mir heraus, und ich wurde wieder der, als den ich mich kannte. Muttis Hände hoben mich aus der Mulde, das Wasser troff von mir ab, und ehe ich es mich versah, stand ich auf dem Küchentisch – alles war trocken – und wurde von meiner Mutter angezogen. Doppelte Unterhose, doppeltes Unterhemd, ein Hemd, ein Pullover, eine lange Hose und eine warme Jacke. Wieso das? Es war Sommer. Ich frug Mutti, warum ich die Kleider in Schichten übereinander tragen solle, da würde ich doch bestimmt schwitzen, und bekam zur Antwort, in einem Ton, der keine Nachfrage, geschweige denn Widerspruch erlaubte: «Im Westen ist es kalt.»

      Im Westen ist es bestimmt nicht kalt, dachte ich. Denn was sollte ein Urlaub im Westen, bei Onkel Willi und Tante Maria, wenn bei uns zu Hause die Sonne schien?

      Mutti öffnete die Haustür. Draußen auf der Straße wartete schon das Taxi. Und Vati, Renate und der Fahrer warteten daneben. Längst war das Reisegepäck im Wagen verstaut. Ich ließ Muttis Hand los und ging zu ihnen. Doch Mutti blieb vor der Haustür stehen und schaute zu uns. Was ist? Will sie nicht mitkommen? Irgendetwas stimmt nicht. Die Urlaubsfreude fehlte. Vati ging zu ihr, flüsterte ihr etwas ins Ohr und schaute Mutti noch einmal an. Sein Blick war streng. Wo blieb seine ausgelassene Fröhlichkeit, mit der er uns sonst beschenkte, wenn wir in den Urlaub fuhren? Dann kam er zurück zum Taxi.

      Sie schaute ihm nach. Und blieb vor der Tür stehen. Was war geschehen? Wollte sie nicht mit uns


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