Vom Verlust der Freiheit. Raymond Unger
jedem der mannigfaltigen Alltagsprobleme unterscheiden zu können, was verfügbar ist und was nicht. Das sogenannte »Gelassenheitsgebet« bringt die Schwierigkeit des menschlichen Handelns auf den Punkt:
»Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.«
In jedem Fall stellt die faktische Unverfügbarkeit über die elementarsten Dinge des Lebens – Gesundheit, Liebe und Tod – eine unfassliche Brüskierung der menschlichen Seele dar. Die wesentlichen Dinge des Lebens sind gegeben und lassen sich auch mit der vegansten, sportlichsten, ökologischsten und geimpftesten Agenda weder herbeiführen noch garantieren. Über die Fragen, ob man gesund bleibt, geliebt wird, einen Partner verliert oder wann man stirbt, kann kein Mensch verfügen. Würde man in der christlichen Terminologie bleiben, ist der Sozialismus die Sprache der Schlange, die dem Menschen einredet, er selbst sei Gott und könne allein über sein Schicksal bestimmen. Das Bemühen, aus eigener Kraft Glück, Sicherheit und Gesundheit zu erschaffen, sind folglich die nächsten Schritte. Die Hybris des säkularen Menschen gegebene und elementare Strukturen beherrschen zu wollen, zeigt sich in allen Lebensbereichen. Das Zweckbündnis mechanistisch denkender Silicon-Valley-Milliardäre mit sozialistischen Weltverbesserern wird zumindest vom selben weltanschaulichen Unterbau getragen: Der Mensch allein gestaltet sein Schicksal und das der Welt. Dies zeigt sich im infantilen Postulat der Beherrschung des Klimas, im Wahnwitz der Pandemie-Kontrolle durch Lockdown, im Umgang mit natürlichen Alters- und Sterbeprozessen oder in der Neukonzeption des menschlichen Genoms. 95-Jährige werden mit den kompliziertesten Operationen gequält, um »den Tod zu besiegen«, anstatt in Würde sterben zu dürfen. Auch hier zeigte die Coronakrise die dramatischen Folgen einer spirituell entwurzelten Gesellschaft. Im Kampf gegen das »Killervirus« wurden alte Menschen mitten in ihrem natürlichen Sterbeprozess in ein künstliches Koma versetzt, zwangsbeatmet und mit allen nur erdenklichen technischen Mitteln am Leben erhalten. Schlussendlich starben sie dann trotzdem, nur zusätzlich noch einsam und fern von ihren Liebsten. Auf Naturkatastrophen, zu denen Virus-Epidemien ebenso gehören wie Vulkanausbrüche, reagiert die säkulare Gesellschaft mit einem Höchstmaß an Entrüstung und der Suche nach »Verantwortlichen«. Der Tagesspiegel stellt bezüglich der Bedrohung durch das Coronavirus gar die »Systemfrage«:
»Das Coronavirus stellt auch die Systemfrage. Man kann Covid-19 als prototypisches Problem des 21. Jahrhunderts betrachten: Es ist global. Es ist mit Wissenschaft, Technologie, Kooperation, menschlichem Verstand und der Bereitschaft, Verhalten zu ändern, wahrscheinlich lösbar – so wie die Folgen des Klimawandels, des Artenschwundes, der Migration, der Mikroplastik-Verschmutzung, der Medikamenten-Resistenzen, der Digitalisierung oder des Wandels der Arbeitswelt. Der Unterschied ist die Unmittelbarkeit. Sie macht das Virus zum Testfall: Sind wir als freie, aufgeklärte, über unbeschränkten Zugang zu Informationen verfügende verantwortliche Einzelbürger, sind wir als Gemeinwesen, sind unsere Institutionen und unsere Volksvertreter, ist unser Gesundheits- und Wirtschaftssystem in der Lage, jetzt das Notwendige zu tun?« 40
Oder wäre eine totalitäre Regierung nach chinesischem Muster nicht eine weitaus bessere Lösung?
Allem voran sind Jungend und unablässige Aktivität recht brauchbare Schutzmechanismen gegen die Bewusstwerdung der prinzipiellen Unverfügbarkeit des Lebens. Doch je älter man wird, desto näher kommen auch die existenziellen Schrecken. Geliebte Menschen sind bereits gestorben. Man hat eine oder mehrere schmerzhafte Trennungen hinter sich bringen müssen. Man wurde mit einer lebensbedrohenden, medizinischen Diagnose konfrontiert … Der Mensch ist das einzige, bewusste Lebewesen, das in die Zeit gestellt wurde, anders gesagt: Der Mensch muss täglich sein Leben gestalten, obgleich er weiß, dass er sterben muss. Wen dies kalt lässt, oder wer angesichts seines eigenen Todes zynisch reagiert, hat schlichtweg nicht begriffen, was dies bedeutet. Man könnte auch sagen, hier ist ein menschlicher Reifegrad noch nicht erreicht.
Wer aber das Schicksal des Menschseins im Angesicht des Todes begriffen hat, versteht auch den Ur-Schmerz, der nach Antwort verlangt. Bei allen schicksalhaften Erfahrungen stellt sich die Frage nach der persönlichen Resilienz. Relativ gefeit gegen die Schrecken der Unverfügbarkeit sind Menschen, welche die Erfahrungen von Liebe, Halt und Geborgenheit machen konnten. Die frühe Gewissheit, gewollt und geliebt zu werden, legt den alles entscheidenden Grundstein für den Blick auf die Welt. Urvertrauen in das Sein wurde einem entweder in den ersten Lebensjahren geschenkt – oder man ist zu einer lebenslangen Kompensation einer tiefen Verunsicherung gezwungen. Unbehandelt bildet letzteres Schicksal eine ungesunde Melange von Infantilität und Kontrollzwang aus – die Ingredienzien sozialistischer Ideologie.
Nur bei genügend Urvertrauen und Liebe kann sich ein gesundes Ich mit einer gesunden Identität herausbilden, das sich später, als Ich-Erweiterung, auch in einem kollektiven Zugehörigkeitsgefühl spiegelt. Die gelungene Menschwerdung und ein wirkliches Erwachsenwerden bedeuten Liebes- und Bindungsfähigkeit, wobei echte Liebe und Bindung niemals beliebig sein können. Vorrausetzung für freie Beziehungen ist eine gesunde Eigenliebe, dazu wiederum gehört Abgrenzungsvermögen, Unterscheidungsvermögen von mein und dein, eigen und fremd. Erst wenn diese Fähigkeiten ausgebildet sind, man also weiß, was man möchte und was nicht und wo man selbst aufhört und der andere anfängt, können Beziehungen gelingen. Alles andere sind abhängige Beziehungen oder taktische Manöver, weil man etwas braucht oder haben will. Etwas provokant ausgedrückt könnte man sagen, ein beziehungs- und liebesfähiger Mensch muss zunächst einmal lernen zu diskriminieren:
»Der Begriff Diskrimination (von lateinisch discriminare = ›trennen‹, ›absondern‹, ›unterscheiden‹) beschreibt die Unterscheidung, den Unterschied oder das Unterscheidungszeichen. Die Diskriminationsfähigkeit ist dementsprechend die Fähigkeit zur Unterscheidung.« 41
In seinem Artikel »Warum Diskriminierung unvermeidlich ist« untersucht der Wirtschaftsphilosoph Prof. Gerd Habermann die Notwendigkeit der Diskriminierung. Zunächst betont Habermann, wie wichtig das Diskriminierungsverbot im Kontext der Gesetzgebung ist. Niemand darf vor dem Gesetz bevorzugt oder benachteiligt werden:
»Ein folgenreicher Fehlgriff ist es nun, dieses Unterscheidungsverbot auf das Privatrecht anzuwenden. Für das Privatleben ist das Unterscheidungsrecht konstitutiv. Es ist der Kern der Vertrags- und Meinungsfreiheit. Ich darf nicht nur, ich muss täglich ›diskriminieren‹, indem ich nach meinen nicht weiter hinterfragbaren Präferenzen mit bestimmten, ausgewählten Menschen zusammenarbeite (im Arbeitsrecht), Handel treibe, bestimmte Produkte kaufe, mich bestimmten Meinungsrichtungen, Parteien, Religionen oder politischen Gemeinschaften anschließe, einen Verein mit einem exklusiven Spezialzweck gründe, eine bestimmte Person – besonders exkludierend – heirate oder mich mit ihr innig befreunde. Fast jede Wahlhandlung ist in diesem Sinne ›diskriminierend‹ oder ›exkludierend‹ und unterscheidet logischerweise zwischen denen, die dazugehören und anderen, die nicht dazugehören. So schließt ein Kaninchenzüchterverein satzungsmäßig Schweinezüchter aus: Es ist offenbar sinnlos, den speziellen Zweck des Vereins offenzuhalten.« 42
Sozialistische Bestrebungen zur »Antidiskriminierung« in den privaten Raum hinein haben jedoch nichts Geringeres zum Ziel, als die Verhinderung von Wahlfreiheit, Individuation und Identität. Die Aufzählung der Bedingungsstrukturen gesunder Individuen lässt bereits erahnen, wo die zentralen Angriffspunkte sozialistischer Ideologie liegen. Liebesfähige Menschen, die gelernt haben zu unterscheiden, was sie wollen und was nicht, wünschen sich für ihre Beziehungen, die naturgemäß andere ausschließen, Kontinuität. Obgleich in der Praxis vielfach gescheitert und allem Gender-Nudging zum Trotz, sind die Ideale Monogamie und Treue zwischen Frau und Mann immer noch Kassenschlager in Filmen und Romanen. 99 Prozent aller Menschen fühlen sich klar einem Geschlecht zugeordnet. Vermutlich 95 Prozent aller Menschen, und nicht wie immer wieder behauptet 90 Prozent, sind heterosexuell. Die verbindliche Ehe, als Grundlage der Gesellschaft, hat keineswegs ausgedient. Spätestens wenn aus dieser Verbindung Kinder hervorgehen, entsteht bei Eltern ein starkes Schutzbedürfnis. Der Wunsch nach Eigentum, Besitz und damit Sicherheit sind folgerichtige Ziele, um die eigene Familie zu schützen. Bindungsfähige, erwachsen gewordene Menschen orientieren