Vom Verlust der Freiheit. Raymond Unger

Vom Verlust der Freiheit - Raymond Unger


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Weise. Sterblichkeitsraten schrumpften von Studie zu Studie, tragische Missverständnisse über Nocebo-Effekte und Fehlbehandlungen klärten sich auf. Dramatisch anmutende Bilder wie diejenigen aus Wuhan, Bergamo oder New York hatten lokale, multiple Ursachen und ließen sich nicht pauschal auf den Rest der Welt übertragen. Die Frage jedoch, ob diese im Prinzip guten Nachrichten adäquat eingeordnet und verarbeitet werden konnten, lag nicht allein an einer gesunden und früh entwickelten Medienkompetenz. Selbst alternative Medien, wie Tichys Einblick oder die Achse des Guten, mussten sich über Wochen den Weg zu einer realistischen Einschätzung der Lage erkämpfen.

      In besagter Zeit habe ich selbst vier Artikel zur Corona-Lage geschrieben, und obgleich ich über eine solide medizinische Vorbildung verfüge, habe auch ich einige Zeit gebraucht, um mich aus meiner persönlichen Angststarre zu lösen. Erst danach konnte ich eine sachlichere Einschätzung zur COVID-19-Pandemie entwickeln. In meinem ersten Artikel, Corona: Horror oder Hoax?3, nahm ich noch die Rolle eines Mahners ein. Deutsche Experten, wie Dr. Wolfgang Wodarg, Prof. Dr. Karin Mölling, Prof. Dr. Sucharit Bhakdi oder Prof. Dr. Stefan Hockertz, erschienen mir zu Beginn der Krise als unverantwortliche Verharmloser. An der Genese meiner Artikel lässt sich ablesen, wie es vielen freien Autoren erging. Zu Beginn der Krise war es schlichtweg schwer bis unmöglich, sich ein ausgewogenes Bild der Lage zu machen. Dann kamen jedoch immer mehr internationale Studien ans Tageslicht, die den deutschen Kritikern recht gaben. Zur Heinsberg-Studie des Bonner Virologen Prof. Dr. Hendrik Streeck gesellten sich die repräsentativen Ergebnisse einer Quarantäne-Studie der japanischen Behörden, die mit den Passagieren des festgesetzten Kreuzfahrtschiffs »Diamond Princess« durchgeführt wurde. Wenige Zeit später folgten die Studien der Stanford University unter der Leitung des renommierten Professors John Ioannidis. Ergänzt wurden diese Ergebnisse durch die Studien des israelischen Mathematikers Isaac Ben-Israel, der festgestellt hatte, dass Corona in allen Ländern der Welt eine ähnliche Verlaufskurve zeigt – unabhängig von den lokalen Maßnahmen. Schließlich folgten die statistischen Erhebungen von Dr. Dan Erickson aus den USA, der sich darüber gewundert hatte, warum in Kalifornien und anderen Bundesstaaten die Krankenhäuser und Intensivstationen so leer geblieben waren. Das Beeindruckende der unterschiedlichen Studien aus aller Welt war jedoch: Die Ergebnisse lagen eng beieinander und bestätigten sich gegenseitig. Ergebnis: Corona ist eine reale virale Erkrankung, die man nicht auf die leichte Schulter nehmen sollte. Dennoch liegt die Sterblichkeitsrate zwischen 0,14 und 0,37 Prozent – was so ziemlich einer typischen, mittelschweren Influenza-Sterblichkeitsrate entspricht. Corona erwies sich damit glücklicherweise als weitaus harmloser als befürchtet. (Die Aufbereitung der Fakten erfolgt in Kapitel 3.)

      Sofern es Kräfte gibt, die vorsätzlich an der Atomisierung der Gesellschaft bis ins letzte Glied arbeiten – mit Corona hätten sie ganze Arbeit geleistet. Den großen Spaltungsthemen Migration und Klima setzte Corona – Nomen est omen – die Krone auf. Gab es bezüglich der übrigen Politikfelder Gender, Klima und Zuwanderung noch so etwas wie eine homogene Opposition unter den intellektuellen Freidenkern, so war dies spätestens mit Corona vorbei. Auch hier griff jetzt der fatale Angstmechanismus einer vermeintlichen Fremdgefährdung durch Ignoranz. Wer vor Corona reale Angst hat, empfindet Nicht-Maskenträger selbstverständlich als unverantwortliche Hasardeure, denen unbedingt Einhalt geboten werden muss. Diesen panischen Effekt kannte man bislang nur aus der Klimabewegung. Hier will man Fleischesser und SUV-Fahrer ebenfalls aufgrund einer angeblichen Gefährdung für die Allgemeinheit am liebsten zwangstherapieren oder ins Gefängnis stecken. Wer glaubt, eine reale Gefahr werde von den Kontrahenten aus dem vermeintlich feindlichen Lager verursacht oder verharmlost, führt einen unerbittlichen Abwehrkampf.

      In diesem Kampf zeigt sich exemplarisch das Psychogramm vieler Babyboomer, das ich in meinem vorangegangenen Buch beschrieben habe. Die Hybris, mit der sich uniformierte, konformistische Bürger als aufgeklärt empfinden und gleichzeitig wohlinformierte Menschen als Idioten diffamieren, geht letztendlich auf eine narzisstische Störung zurück. Dabei beeindruckt mich immer wieder, mit welcher Leichtigkeit Konformisten ein offenkundig gelenktes Framing übernehmen. Ein eindrückliches Beispiel der Installation eines politischen Kampfbegriffes gegen Meinungspluralität ist das Wort »Verschwörungstheoretiker«. Dies will nun wahrlich keiner sein. In Wirklichkeit zieht der Begriff eine Brandmauer gegen jedwede Kritik am Regierungskurs. Der Ökonom Prof. Max Otte bringt es auf den Punkt:

       »Wenn Sie Macht heute kritisch hinterfragen, dann sind Sie Verschwörungstheoretiker. Wenn Sie vor 30 Jahren die Macht kritisch hinterfragt hätten, dann wären Sie kritischer Sozialwissenschaftler gewesen.« 4

      Das Framing suggeriert: Wer Verschwörungen für möglich hält, sei per se wahnhaft, dumm und uniformiert. Derart leichtgläubige Paranoiker und Aluhutträger würden jeden gefährlichen Blödsinn glauben und weiterverbreiten. Dass ein Framing, das Andersdenkende kleinmacht und abqualifiziert, von schamgeprägten Kriegsenkeln goutiert wird, ist kein Zufall. Denn im Umkehrschluss liegt eine enorme Aufwertung der eigenen Position, man fühlt sich psychisch gesünder und klüger. Vermeintliche Realisten glauben, nur sie hätten die Kraft, einer echten Gefahr ins Auge zu sehen, während »Covidioten« das Problem leugnen. Der Mechanismus, mit dem sich Menschen mit wenig Wissen überschätzen und die Leistungen kompetenter Menschen verkennen, nennt sich Dunning-Kruger-Effekt.

       »Wir richten den Fokus vor allem auf uns selbst, beobachten uns viel genauer als unsere Mitmenschen – allein, weil wir tiefer in uns hineinschauen können als in unser Gegenüber. […] Weil Halbwissende dazu neigen, sich selbst zu überschätzen, und zugleich die Kompetenz anderer verkennen, sehen sie auch nicht die Notwendigkeit, sich weiterzubilden und damit ihre Kompetenz zu steigern.« 5

      Man selbst weiß natürlich alles Wichtige über Corona, schließlich hat man sich über seriöse Quellen wie Tagesschau und Prof. Christian Drosten informiert. Als ich einen Artikel auf Facebook teile, der sich zustimmend zur Corona-Demo in Berlin positioniert, kommentiert eine Facebook-Freundin: »Warum bist du für diese mehrheitlich dummen Leute? Ich bin enttäuscht.«

      Vermutlich ist die Facebook-Freundin eine eifrige Leserin des Spiegel, dort erklärt Stefan Kuzmany in seinem Artikel »Sollen sie nur pöbeln«:

       »Mögen sie noch so laut krakeelen – die Demokratie lässt sich nicht einschüchtern. […] Und ja, es ist einmal mehr beschämend, dass mitten in der deutschen Hauptstadt Feinde der Demokratie marschieren und mit ihnen viele Menschen, die man wohlwollend frustriert und fehlgeleitet nennen kann, mit weniger Nachsicht aber einfach: leider sehr, sehr dumm.« 6

      Der Dunning-Kruger-Effekt sorgt auch bei Redakteuren des Spiegel für die Gewissheit, Andersdenkende seien per se dumm. Niemandem fällt auf, was der Begriff »Verschwörungstheoretiker« im eigentlichen Wortsinn bedeutet. Denn dass es Verschwörungen tatsächlich gibt, wird kein Mensch abstreiten, schließlich sind die Geschichtsbücher voll davon. Die Krux an Verschwörungen ist lediglich, dass sie oftmals erst Jahre später ans Licht kommen. Sofern eine Verschwörung funktioniert, bleibt sie unentdeckt. Theorien zu entwickeln und einer Indizienkette nachzugehen, um Verschwörungen vorzeitig aufzudecken, ist das Tagesgeschäft von Kriminalisten, (guten) Journalisten und Historikern. Im Kontext der Polizeiarbeit heißt dieser Vorgang schlichtweg Ermittlungshypothese, ohne diese Hypothese könnte man konspirativer Kriminalität gar nicht begegnen. Verständlicherweise liegt es im Interesse von Verschwörern, all jene zu diskreditieren, die derartige Überlegungen anstellen. Dass es Verschwörungen per se gar nicht geben könne und man folglich auch keine Theorien ersinnen müsse, um dahinterzukommen, ist offenkundig lächerlich. Komischerweise geht diesem Gedanken niemand nach, der sich gerade in den Kampfbegriff verliebt hat. Der Autor Paul Schreyer nennt als Gegenstück zum Verschwörungstheoretiker den »Zufallstheoretiker«. Dies wäre dann ein Mensch, der kein Geschehnis für geplant hält, erst recht nicht für konspirativ geplant. Indizienketten, die auf starke Interessengemeinschaften hinweisen, werden als »Zufall« betrachtet, und man muss ihnen nicht weiter nachgegen. In Bezug auf Corona wimmelt es von Zufallstheoretikern. Der »aufgeklärte« Bürger ist sich sicher: Niemand plant hier irgendetwas und niemand hat einen persönlichen Nutzen. Altruistische Wissenschaftler, Politiker


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