Im Reich der hungrigen Geister. Gabor Mate
Gefühle der Freude und Freudentränen hervor – wenn jemand eine Blume sieht, die mir nicht aufgefallen ist, aber jemandem, der in einem Einzelzimmer im Washington Hotel lebt und jeden Tag hier unterwegs ist. Das ist seine Welt, und er achtet auf andere Details als ich …“
Auch der Humor kommt nicht zu kurz. Wenn ich meine Hastings-Runden von einem Hotel zum anderen mache, werde ich Zeuge von viel Schulterklopfen und lautstarkem Gelächter. „Doctor, doctor, gimme the news“, ertönt ein jazziger Singsang unter dem Torbogen des Washington. „Hey, you need a shot of rhythm an’ blues“, singe ich über die Schulter zurück. Kein Grund, mich umzudrehen. Mein Partner in diesem gut einstudierten musikalischen Ritual ist Wayne, ein sonnenverbrannter Mann mit langen, schmutzigen blonden Locken und Schwarzenegger-Armen, die vom Handgelenk bis zum Bizeps tätowiert sind.
Ich warte darauf, eine Kreuzung mit Laura zu überqueren, einer Ureinwohnerin in den Vierzigern, deren beängstigende Lebensgeschichte, Drogenabhängigkeit, Alkoholismus und HIV ihren schelmischen Witz nicht ausgelöscht haben. Als die rote Hand an der Fußgängerampel blinkt und der kleinen gehenden Figur weicht, ertönt Lauras leicht spöttische Stimme: „Weißer Mann sagt: Los.“ Wir haben noch ein paar Häuserblöcke entlang den gleichen Weg und die ganze Zeit kichert Laura laut über ihren Witz. Mir geht es ebenso.
Die Witze sind oft herzhaft selbstverspottend. „Früher schaffte ich beim Bankdrücken neunzig Kilo, Doc“, sagt Tony, abgemagert, geschrumpft und durch AIDS bereits vom Tod gezeichnet, bei einem seiner letzten Praxisbesuche. „Jetzt kriege ich nicht mal mehr meinen eigenen Schwanz hoch.“
Wenn mich meine süchtigen Patienten anschauen, suchen sie nach meinem wahren Ich. Wie Kinder sind sie unbeeindruckt von Titeln, Errungenschaften und weltlichen Referenzen. Ihre Sorgen sind zu unmittelbar, zu dringlich. Wenn sie anfangen, mich zu mögen oder meine Arbeit mit ihnen zu schätzen, zeigen sie spontan ihren Stolz darüber, einen Arzt zu haben, der gelegentlich im Fernsehen interviewt wird und Bücher schreibt. Aber nur dann. Was sie interessiert, ist meine Präsenz oder Abwesenheit als Mensch. Sie prüfen mit untrüglichem Auge, ob ich an jedem beliebigen Tag genug geerdet bin, um zu ihnen zu kommen und ihnen als Menschen zuzuhören, deren Gefühle, Hoffnungen und Bestrebungen ebenso berechtigt sind wie meine. Sie erkennen sofort, ob ich mich wirklich für ihr Wohlergehen einsetze oder nur versuche, sie mir vom Hals zu schaffen. Da sie durchgehend nicht in der Lage sind, sich selbst eine solche Fürsorge zu bieten, nehmen sie umso sensibler wahr, ob sie bei denjenigen vorhanden ist, die sich um sie kümmern sollen.
Es ist belebend, in einer Atmosphäre zu arbeiten, die so weit vom normalen Arbeitsalltag entfernt ist, in einer Atmosphäre, die auf Authentizität besteht. Ob es uns bewusst ist oder nicht, die meisten von uns sehnen sich nach Authentizität, nach einer Realität jenseits von Rollenbildern, Etiketten und sorgfältig gefeilten Persönlichkeiten. Mit all seinen schwärenden Problemen, Funktionsstörungen, Krankheiten und Verbrechen bietet das Downtown Eastside die frische Luft der Wahrheit, auch wenn es sich um die entblößte, ausgefranste Wahrheit der Verzweiflung handelt. Sie hält einen Spiegel hoch, in dem wir alle, als einzelne Menschen und insgesamt als Gesellschaft, uns selbst erkennen können. Die Angst, der Schmerz und die Sehnsucht, die wir sehen, sind unsere eigene Angst, unser eigener Schmerz und unsere eigene Sehnsucht. Auch uns gelten die Schönheit und das Mitgefühl, das wir hier erleben, ebenso wie der Mut und die große Entschlossenheit, das Leiden zu überwinden.
* Wie Vancouver international oft beschrieben wird, zuletzt in der New York Times vom 8. Juli 2007.
KAPITEL 2
Die tödliche Macht der Drogen
Nichts offenbart die Auswirkungen eines traurigen Lebens so anschaulich wie der menschliche Körper.
NAGIB MACHFUS
Palast der Sehnsucht
In einer Friedhofskapelle in East Hastings verkündet ein älterer Priester hinter seinem Rednerpult den Abschied der Welt von Sharon. „Wie ausgelassen und fröhlich sie war. ‚Hier bin ich, Sha-na-na!‘, rief sie immer, wenn sie in einen Raum platzte. Wer hat sich bei ihrem Anblick nicht gefreut, am Leben zu sein?“
Hinter der Familie verteilen sich die Trauernden in der spärlich gefüllten Kapelle. Eine Gruppe von Mitarbeitern aus dem Portland ist anwesend, zusammen mit fünf oder sechs Bewohnern und einigen wenigen Leuten, die ich nicht erkenne.
Die junge Sharon, so sagte man mir, war früher bildschön. Spuren dieser Schönheit waren noch vorhanden, als ich sie vor sechs Jahren kennenlernte, Spuren, die durch ihren zunehmend blasseren Teint, die eingefallenen Wangen und die verfaulenden Zähne allmählich verschwanden. In ihren letzten Jahren hatte Sharon oft Schmerzen. An ihrem linken Schienbein hatte sie durch injektionsbedingte bakterielle Infektionen zwei große offene Wunden. Wiederkehrende Infektionen führten dazu, dass sich mehrmalige Hauttransplantationen ablösten und das Fleisch ständig frei lag. Die entnervten plastischen Chirurgen im St. Paul’s Hospital hielten weitere Eingriffe für sinnlos. In ihrem chronisch geschwollenen linken Knie plagte sie ein Knochenabszess, der ab und zu aufflammte und dann wieder abklang. Diese Osteomyelitis wurde nie vollständig behandelt, weil Sharon nicht in der Lage war, die sechs bis acht Wochen Krankenhausaufenthalt durchzustehen, die erforderlich sind, um die intravenöse Antibiotika-Behandlung durchzuführen – auch dann nicht, als klar wurde, dass eine Amputation die einzige Alternative sein könnte. Da sie wegen ihres entzündeten Kniegelenks nicht belastbar war, wurde Sharon mit Anfang dreißig Gefangene eines Rollstuhls. Sie rollte ihn mit erstaunlicher Geschwindigkeit über den Gehweg von Hastings, wobei sie ihre starken Arme und ihr rechtes Bein einsetzte, um sich selbst vorwärts zu bringen.
Der Priester vermeidet es taktvoll, das Bild der schmerzgeplagten Sharon heraufzubeschwören, deren Drogensucht sie zurück nach Downtown Eastside trieb, ehrt aber ihr lebendiges Wesen.
„Vergib uns, Herr, denn wir wissen nicht, es wertzuschätzen … Das Leben ist ewig, die Liebe ist unsterblich … Für jede Freude, die vergeht, wird etwas Schönes geschaffen …“, intoniert der Priester. Zuerst höre ich nur eine Litanei von Begräbnisfloskeln und bin verärgert. Doch schon bald fühle ich mich getröstet. Angesichts des vorzeitigen Todes, so wird mir bewusst, gibt es keine Klischees. „Für immer Sharon, diese Stimme, dieses Wesen … ruhe in Frieden und in alle Ewigkeit …“
Das leise Schluchzen der Frauen tönt als Kontrapunkt zu den tröstenden Worten des Priesters. Als er das Buch am Rednerpult schließt, schaut er feierlich durch den Raum. Er verlässt das Podium und Musik ertönt: Andrea Bocelli singt eine gefühlvolle italienische Arie. Die Trauernden sind eingeladen, Sharon, die in einem offenen Sarg unterhalb des Rednerpultes liegt, die letzte Ehre zu erweisen. Einer nach dem anderen gehen sie hin, neigen den Kopf und kehren um, um der Familie ihr Beileid auszusprechen. Beverly nähert sich dem Sarg. Ihr Gesicht ist von den Kokain-Injektionen entstellt. Sie stützt Penny, die über ihre Gehhilfe gebeugt ist. Die beiden waren enge Freundinnen von Sharon. Tom, dessen heiseres, alkoholgeschwängertes abendliches Gebrüll normalerweise Hastings durchdröhnt, hat sich schick gemacht. Stocknüchtern und düster, mit weißem Hemd und Krawatte, verneigt er sich in stillem Gebet vor dem blumengeschmückten Sarg und bekreuzigt sich.
Sharons weiß geschminktes Gesicht trägt einen naiven, unsicheren Ausdruck, ihr rot geschminkter Mund ist geschlossen und leicht schief. Mir scheint, dass dieser leicht verwirrte, kindliche Ausdruck die Innenwelt der lebenden Sharon wahrscheinlich besser widerspiegelt als der raue Charakter, den sie oft in meiner Praxis zur Schau stellte.
An einem Morgen im April wurde Sharon tot in ihrem Bett gefunden. Sie lag auf der Seite, ruhig, als würde sie träumen, ihre Gesichtszüge frei von Schmerz oder Bedrängnis. Über die Todesursache konnten wir nur Vermutungen anstellen, aber eine Überdosis war am wahrscheinlichsten. Trotz ihrer langjährigen HIV-Infektion und ihrer geringen Immunität war sie nicht krank gewesen, aber wir wussten, dass sie, seit sie die Rehaklinik verlassen hatte, stark Heroin konsumierte. In ihrem Zimmer gab es keine Drogenutensilien. Anscheinend hatte sie sich das, was sie getötet hatte, in einer Nachbarwohnung gespritzt, bevor sie in ihre eigene zurückgekehrt war.