Im Reich der hungrigen Geister. Gabor Mate

Im Reich der hungrigen Geister - Gabor  Mate


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      „Das Problem ist, Sie sind kein verdammter Vollidiot, Sie sind süchtig. Und wie sollen wir damit umgehen?“

      Allan starb vier Monate später um Mitternacht, er lag kalt und blau auf dem Boden seines Zimmers in einem nahe gelegenen Hotel. Gerüchten zufolge hatte er sich verunreinigtes Methadon gespritzt, das er bei einem Einbruch in einer örtlichen Apotheke gestohlen und anschließend mit Crystal Meth oder wer weiß was gepanscht hatte. Nach Angaben der Gerichtsmedizin hat dieser kleine unabhängige Drogenhandel den Tod von mindestens acht Menschen verursacht.

      „Ich habe keine Angst vor dem Sterben“, sagte mir ein Klient. „Manchmal habe ich mehr Angst vor dem Leben.“

      Alvin ist in seinen Fünfzigern, ein fülliger, ehemaliger Fernfahrer mit kräftigen Armen. Er nimmt Methadon, um seine Heroinabhängigkeit unter Kontrolle zu halten, und hat in letzter Zeit vermehrt Crystal Meth konsumiert. „Die erste Hälfte des Tages habe ich das Gefühl, ich müsste kotzen“, sagt er, „aber dann, nach acht oder neun Zügen … Ja, wie fühle ich mich dann? Zuallererst wie ein Narr, aber ich weiß nicht, es ist wohl ein Ritual.“

      „Ich sage Ihnen, wie ich es sehe“, kontere ich. „Für das Privileg, sich elendig und wie ein Narr zu fühlen, geben Sie monatlich tausend Dollar aus. Ist es das, was Sie mir sagen wollen?“ Alvin lacht. „Aber ich kotze nur am Anfang. Dann habe ich eine Art Hochgefühl, das etwa drei bis fünf Minuten dauert, und danach frage ich mich: Warum habe ich das getan? Aber dann ist es zu spät. Irgendetwas treibt mich dazu, es wieder zu tun, und das ist die Sucht. Und ich weiß nicht, wie ich das in den Griff bekommen soll. Ich schwöre bei Gott, ich hasse den Scheiß, ehrlich, ich hasse den Scheiß.“ „Aber Sie haben trotzdem etwas davon.“ „Nun, ja, sonst würde ich es wahrscheinlich nicht tun – wie bei einem Orgasmus, schätze ich.“

      Abgesehen von der unmittelbaren orgasmischen Befreiung des Süchtigen aus der Gegenwart haben Drogen die Macht, das Schmerzliche erträglich und das Alltägliche lebenswert zu machen. „Es gibt eine so klare und perfekte Erinnerung, dass mein Gehirn an bestimmten Tagen auf nichts anderes hört“, schreibt Stephen Reid – Autor, inhaftierter Bankräuber und selbsternannter Junkie – über seinen ersten Drogenkonsum im Alter von elf Jahren. „Ich fühlte tiefe Ehrfurcht vor dem Alltäglichen – dem blassen Himmel, der blauen Fichte, dem rostigen Stacheldrahtzaun, den verwelkten gelben Blättern. Ich bin high. Ich bin elf Jahre alt und verbunden mit dieser Welt. Völlig naiv trete ich in das ‚Herz der Unwissenheit‘1 ein. In ähnlicher Weise hat Leonard Cohen über,das Versprechen, die Schönheit und die Erlösung durch Zigaretten‘ geschrieben …“

      Wie Muster in einem Wandteppich tauchen in meinen Interviews mit Süchtigen wiederkehrende Themen auf: die Droge als emotionales Betäubungsmittel, als Mittel gegen ein schreckliches Gefühl der Leere, als Tonikum gegen Müdigkeit, Langeweile, Entfremdung und ein Gefühl der persönlichen Unzulänglichkeit, als Stresslöser und sozialer Schmierstoff. Und die Droge kann, wie in Stephen Reids Beschreibung, – wenn auch nur für einen kurzen Augenblick – die Pforten zur spirituellen Transzendenz öffnen. Egal in welcher Gesellschaftsschicht, diese Themen zerstören überall das Leben der Hungergeister. Sie wirken mit tödlicher Gewalt auf die Kokain-, Heroin- und Chrystal-Meth-Süchtigen von Downtown Eastside. Wir werden im nächsten Kapitel darauf zurückkommen.

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      Im Portland gibt es ein Foto, das Sharon zeigt, die in einem schwarzen Badeanzug auf einem sonnengesprenkelten Deck die Beine in das schimmernde, klare Wasser eines blau gefliesten Pools taucht. Entspannt und gelassen lächelt sie direkt in die Linse des Fotografen. Dies ist die junge Frau, voller Freude und Möglichkeiten, der der Priester mit diesem Foto ein Denkmal setzte. Es entstand einige Monate vor ihrem Tod, als Sharon im Haus ihres Zwölf-Schritte-Paten die Wärme eines Nachmittages im Spätherbst genoss.

      In den zwölf Jahren, die Sharon in Downtown Eastside verbrachte, konnte sie diese zwölf Schritte nicht vollenden. Sie war bis zu dem Tag, an dem sie als Bewohnerin im Portland aufgenommen wurde, so gestört und kokainaggressiv gewesen, dass sie nicht einmal zu Besuch ins Haus kommen durfte. „So läuft es“, sagte Kerstin Stuerzbecher, Direktorin der Portland Society, im Foyer der Kapelle nach Sharons Beerdigung. „Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder verursacht man zu viel Stress, um hier leben zu dürfen, oder man macht so viel Ärger, dass man nur hier leben kann.“

      „Und auch nur hier sterben kann“, fügte Kerstin hinzu, als wir in das Sonnenlicht hinaustraten.

      KAPITEL 3

      Die Schlüssel zum Paradies: Sucht als Flucht aus der Verzweiflung

      Sucht als „schlechte Angewohnheit“ oder „selbstzerstörerisches Verhalten“ abzutun, verbirgt leicht ihre Funktionalität im Leben des Süchtigen.1

      DR. VINCENT FELITTI, ARZT AND WISSENSCHAFTLER

      Es ist unmöglich, die Sucht zu verstehen, ohne zu erkunden, welche Erleichterung der Süchtige durch die Droge oder das Suchtverhalten findet bzw. zu finden hofft.

      Thomas De Quincey, ein Literat des frühen neunzehnten Jahrhunderts, war Opiumkonsument. „Die subtilen Kräfte, die in dieser mächtigen Droge stecken“, so schwärmte er, „beruhigen alle Irritationen des Nervensystems … halten die sonst schlaff werdenden animalischen Energien vierundzwanzig Stunden lang aufrecht. … Oh gerechtes, subtiles und alles eroberndes Opium … Du allein vermagst, dem Menschen diese Gaben zu geben und hast damit die Schlüssel zum Paradies.“ De Quinceys Worte fassen die Segnungen aller Drogen zusammen, wie sie der Süchtige erfährt – sie machen, wie wir später sehen werden, den Reiz aller süchtig machenden Obsessionen aus, unter Beteiligung von Drogen oder ohne.

      Der chronische Drogenkonsum ist weit mehr als die Suche nach Vergnügen, er ist der Versuch des Süchtigen, der Not zu entkommen. Aus medizinischer Sicht reagieren Süchtige mit selbstmedikamentösen Maßnahmen auf Depressionen, Angstzustände, posttraumatischen Stress oder sogar ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung).

      Die Schmerzbahnen beim Menschen funktionieren nicht anders. Dieselben Gehirnzentren, die körperliche Schmerzen realisieren und „fühlen“, werden auch bei der Erfahrung emotionaler Ablehnung aktiviert: Auf Gehirnscans „leuchten“ sie als Reaktion auf soziale Ächtung genauso auf wie auf körperlich schädliche Reize.3 Wenn Menschen davon sprechen, sich „verletzt“ zu fühlen oder emotionale „Schmerzen“ zu haben, sind das keine abstrakten oder poetischen Formulierungen, sondern wissenschaftlich recht präzise.

      Das


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