Im Reich der hungrigen Geister. Gabor Mate
gezogen hat, könnte er für zehn Jahre jünger durchgehen. „Sie haben in letzter Zeit eine Menge Kokain gespritzt“, bemerke ich eines Tages ihm gegenüber.
„Es ist schwer, davon loszukommen“, antwortet er mit seinem zahnlückenhaften Grinsen.
„Bei Ihnen klingt es, als wäre das Koks ein wildes Tier, das Ihnen nachstellt.
Und doch sind Sie derjenige, der es jagt. Was bringt es Ihnen?“
„Es nimmt dem Alltag die Härte, die Härte im Umgang mit allem.“
„Was ist alles?“
„Verpflichtungen. Ich schätze, man könnte es so nennen: Verpflichtungen. Solange ich Drogen nehme, sind mir Verpflichtungen egal … Wenn ich älter bin, kümmere ich mich um Rentenpläne und solche Sachen. Aber im Moment kümmere ich mich um nichts anderes als um meine alte Dame.“
„Ihre alte Dame …“
„Ja, ich betrachte Koks als meine alte Dame, meine Familie. Es ist meine Partnerin. Ich habe meine Familie seit einem Jahr nicht mehr gesehen, und es ist mir egal, weil ich meine Partnerin habe.“
„Also ist Koks Ihr Leben.“
„Ja, Koks ist mein Leben … Ich sorge mich mehr um den Stoff als um meine Lieben oder irgendetwas anderes. In den letzten fünfzehn Jahren … ist es jetzt ein Teil von mir geworden. Es ist ein Teil meines Alltags … Ich weiß nicht, wie ich ohne den Stoff leben könnte. Ich weiß nicht, wie ich den Alltag ohne Koks bewältigen soll. Wenn man es mir wegnimmt, weiß ich nicht, was ich tun soll … Wenn Sie mich ändern und mich zu einem geregelten Leben führen würden, wüsste ich nicht, wie ich es aufrechterhalten könnte. Ich war in meinem Leben einmal dort, aber es fühlt sich an, als wüsste ich nicht, wie ich zurückgehen könnte. Ich habe nicht die … Es liegt nicht am Willen; ich weiß nur nicht, wie.“
„Was ist mit Ihrem Wollen? Wollen Sie überhaupt dieses regelmäßige Leben?“
„Nein, eigentlich nicht“, sagt Jake leise und traurig.
Ich glaube nicht, dass das wahr ist. Ich denke, dass es tief in seinem Herzen den Wunsch nach einem Leben in Ganzheit und Integrität geben muss, der vielleicht zu schmerzhaft ist, um ihn anzuerkennen – schmerzhaft, weil er in seinen Augen unerreichbar ist. Jake hat sich so sehr mit seiner Sucht identifiziert, dass er es nicht wagt, sich vorzustellen, wie es wäre, wenn er clean wäre. „Es fühlt sich für mich wie Alltag an“, sagt er. „Es scheint sich nicht vom Leben eines anderen zu unterscheiden. Für mich ist es normal.“
„Das erinnert mich an den Frosch“, sage ich zu Jake. „Man sagt, wenn man einen Frosch in heißes Wasser wirft, springt er heraus. Aber wenn man denselben Frosch nimmt, ihn in Wasser mit Zimmertemperatur setzt und dann das Wasser langsam erhitzt, wird er zu Tode kochen, weil er sich allmählich, Grad für Grad, daran gewöhnt. Er empfindet es als normal.“
„Wenn Sie ein normales Leben hätten und jemand zu Ihnen sagen würde: ‚Hey, Sie könnten in Downtown Eastside leben, ständig unterwegs sein und drei- oder vierhundert Dollar pro Tag für Crack ausgeben‘, dann würden Sie sagen: ‚Was? Sind Sie verrückt? Das ist nichts für mich!‘ Aber weil Sie schon so lange so leben, ist es für Sie normal geworden.“
Jake zeigt mir dann seine Hände und Arme, bedeckt mit silbrig-weißen Schuppen auf entzündlich geröteten Hautpartien. Zu allem Überfluss ist seine Psoriasis auch noch ausgebrochen. „Meinen Sie, Sie könnten mich zu einem Hautspezialisten schicken?“, fragt er.
„Das könnte ich“, antworte ich, „aber das letzte Mal, als ich das tat, sind Sie nicht zum Termin erschienen. Wenn Sie diesen versäumen, werde ich Sie nicht mehr überweisen.“
„Ich werde gehen, Doc. Keine Sorge, ich werde gehen.“
Ich stelle die Rezepte für Methadon und die dermatologischen Cremes aus, die Jake braucht. Wir plaudern noch ein wenig, und dann geht er. Er ist mein letzter Patient an diesem Tag.
Ein paar Minuten später, als ich meinen AB abhören will, klopft es an der Tür. Ich öffne die Tür einen Spalt. Es ist Jake, der schon am Eingangstor des Portlands gewesen war, aber umgekehrt ist, um mir etwas zu sagen. „Sie hatten recht, wissen Sie“, sagt er und grinst wieder.
„Recht womit?“
„Dieser Frosch, von dem Sie gesprochen haben. Das bin ich.“
* Im allgemeinen Sprachgebrauch kann sich „Narkotikum“ auf jede illegale Droge beziehen. In diesem Buch, wie auch im medizinischen Sprachgebrauch, wird „Narkotikum“ nur als Bezeichnung für opioide Drogen verwendet, die entweder wie Heroin und Morphium vom asiatischen Mohn abgeleitet, oder wie Oxycodon synthetisch sind.
* Der Bericht eines Patienten, dass eine stimulierende Droge wie Kokain oder Crystal Meth eine beruhigende Wirkung auf ihn hat, ist quasi eine Bestätigung dafür, dass er oder sie an ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) leidet. Siehe Appendix II.
** Sofern nicht anders vermerkt, ist die Kursivschrift durchgehend von mir.
KAPITEL 4
Sie glauben mir meine Lebensgeschichte wohl nicht!
„Maté, Sie nehmen mir meine Lebensgeschichte wahrscheinlich nicht ab. Aber alles, was ich Ihnen sage, ist wahr.“
„Denken Sie, ich würde sie Ihnen nicht glauben?“
Serena wirft mir einen Blick zu, der resigniert und herausfordernd zugleich ist. Sie ist eine groß gewachsene Ureinwohnerin mit langen, schwarzen Haaren und hat einen leicht überdrüssigen Ausdruck auf ihrem schmalen Gesicht. Obwohl sie auch spontan fröhlich sein kann, behalten ihre Augen selbst beim Lachen ihre Traurigkeit. Serena ist knapp über dreißig Jahre alt und hat fast ihr halbes Leben hier in Downtown Eastside verbracht, gefangen in ihrer Drogenabhängigkeit.
Was willst du mir erzählen, so denke ich mir, was ich hier noch nicht gehört habe? Später, nachdem ich ihre Geschichte gehört habe, fühle ich mich beschämt.
Serena teilt nicht bereitwillig etwas über ihr Innenleben mit. Sie kommt regelmäßig zu Methadon-Terminen und versucht ab und zu unter dem Vorwand, Kopf- oder Rückenschmerzen zu haben, mich wegen eines anderen Betäubungsmittels übers Ohr zu hauen. Wenn ich mich weigere, ist sie nie streitsüchtig. „Okay“, sagt sie dann leise, zuckt mit den Schultern. Eines Tages, vor zwei Jahren, erschien sie in meiner Praxis und bat um Methadon zur „Mitnahme“ – das heißt, anstatt die Dosis jeden Morgen vor dem Apotheker trinken zu müssen, wollte sie sieben Tagesdosen im Voraus. „Meine Großmutter ist in Kelowna gestorben“, sagte sie in einem flachen, monotonen Ton. „Ich muss für die Beerdigung nach Hause.“
Die Süchtigen in Downtown Eastside fragen oft nach Methadon zur Mitnahme für illegale Zwecke, zum Beispiel um die Substanz zu verkaufen oder sie zu injizieren und dadurch einen stärkeren Rausch zu haben. Andere gehen in die Apotheke, aber anstatt ihre ganze Dosis zu schlucken, halten sie etwas davon im Mund und spucken es später in einen Pappbecher. Das ausgespuckte Methadon wird dann zur Ware. Trotz des Risikos einer übertragbaren Krankheit zögern die Käufer nicht, eine Droge gemischt mit dem Speichel eines anderen zu trinken. Von den Apothekern wird erwartet, dass sie die vollständige Einnahme des von ihnen verabreichten Methadons überwachen, aber diese Regel wird oft nicht eingehalten, sodass der „Saft“ immer wieder auf der Straße zum Verkauf angeboten wird.
„Das muss ich erst überprüfen, bevor ich Ihnen Methadon zur Mitnahme geben kann“, antwortete ich Serena. „Wer ist der Arzt Ihrer Großmutter?“ Nonchalant gab sie mir den Namen. Während sie in meiner Praxis saß und ruhig wartete, wählte ich die Nummer des Arztes in Kelowna. „Frau B. …“, sagte mein Kollege