Im Reich der hungrigen Geister. Gabor Mate
meiner Tante, was auch immer. Er hat mich sexuell belästigt und wenn ich etwas gesagt habe, schwor er, meine Tante zu schlagen.“
„Ich verstehe.“
„Maté, Sie glauben mir meine Lebensgeschichte wohl nicht! Alles, was ich Ihnen erzähle, ist wahr.“
„Sie denken, dass ich Ihnen nicht glaube?“
In der kurzen Stille, die folgt, erinnere ich mich daran, wie ich Serena seit diesem erfundenen Bericht über den Tod ihrer Großmutter vor zwei Jahren als Manipulatorin, als Drogensüchtige, nicht mehr ernst genommen habe. Ich bin anfällig für diese menschliche – aber inhumane – Schwäche, Menschen nach der eigenen Bewertung ihres Verhaltens zu definieren und zu kategorisieren. Unsere Vorstellungen und Gefühle gegenüber einer Person verfestigen sich aufgrund unserer begrenzten Erfahrung mit ihnen und auf der Grundlage unserer Beurteilung. Serena wurde von mir auf eine Süchtige reduziert, die mir Unannehmlichkeiten bereitete, weil sie mehr Drogen haben wollte. Ich nahm sie nicht als Mensch war, der unvorstellbare Schmerzen hatte und diese auf die einzige Art und Weise, die er kannte, dämpfen und lindern wollte.
Ich bin nicht immer in diesem blinden Modus gefangen. Mal bin ich drin, mal nicht, je nachdem, wie es mir in meinem eigenen Leben geht. Wenn ich müde oder gestresst bin und vor allem, wenn ich mich in irgendeiner Weise nicht integer verhalte, neige ich am ehesten zu gefühllosen Urteilen und Festlegungen, die meine Sicht auf mein Gegenüber einschränken. In solchen Momenten erleben meine süchtigen Klienten das Machtgefälle zwischen uns am stärksten.
„Ich war fünfzehn, als ich hierher nach Hastings kam“, fährt Serena fort. „Ich hatte fünfhundert Dollar in der Tasche, die ich für Lebensmittel für die Zeit gespart hatte, bis ich meine Mutter finden würde. Ich brauchte eine Woche. Ich hatte noch etwa vierhundert Dollar übrig. Als sie das herausfand, steckte sie mir eine Nadel in den Arm. Die vierhundert Dollar waren in vier Stunden weg.“
„Und das war Ihre erste Erfahrung mit Heroin?“
„Ja.“ Es folgt ein langes Schweigen, nur durchbrochen von den kehligen, weinenden Geräuschen, die Serena zu unterdrücken versucht.
„Und dann verkaufte sie mich an einen verdammten, fetten, riesigen Wichser, während ich schlief.“ Diese Worte äußert sie mit der hilflosen, klagenden Wut eines Kindes. „Sie ist meine Mutter. Ich liebe sie, aber wir stehen uns nicht nahe. Die, die ich Mama nenne, ist meine Großmutter. Und jetzt ist sie fort. Sie war die Einzige, der es etwas bedeutete, ob ich lebe oder sterbe. Wenn ich heute sterben würde, würde sich niemand darum scheren …“
„Ich muss sie gehen lassen. Ich halte sie zurück.“
Serena sieht an meinem Blick, dass ich ihr nicht folgen kann. „Ich lasse sie nicht gehen“, erklärt sie. „In unserer Tradition müssen wir die Geister gehen lassen. Wenn nicht, sind sie immer noch bei uns, stecken fest.“
Ich deute an, dass es für sie wahrscheinlich nahezu unmöglich sein wird, Befreiung zu finden, da sie das Gefühl hat, ihre Großmutter sei die Einzige, die sie je geliebt, akzeptiert und unterstützt habe. „Aber was wäre, wenn Sie jemand anderen finden würden, der Sie wirklich liebt und sich um Sie kümmert?“
„Es gibt keinen anderen. Es gibt niemanden.“
„Sind Sie sich da sicher?“
„Wer denn? Ich selbst? Gott?“
„Ich weiß es nicht. Vielleicht beide.“
Serenas Stimme bricht vor Kummer. „Wissen Sie, wie ich über Gott denke? Wer ist dieser Gott, der die schlechten Menschen leben lässt und die guten Menschen nimmt?“
„Was ist mit Ihnen selbst? Wie steht es mit Ihnen?“
„Wenn ich stark genug wäre, würde ich sie gehen lassen. Ich habe ein Drogenproblem und es fällt mir schwer, mich um mich selbst zu kümmern. Ich habe es schon so oft versucht, Maté. Versucht und versucht. Ich habe schon mal vier, fünf, sechs Monate oder ein Jahr aufgehört, aber am Ende komme ich immer wieder zurück. Dies ist der einzige Ort, den ich kenne, wo ich mich sicher fühle.“ Hier in Kanada, „unserem Zuhause und dem Land unserer Ahnen“, ist die Realität so, dass Downtown Eastside, das von Sucht, Krankheit, Gewalt, Armut und sexueller Ausbeutung heimgesucht ist, der einzige Ort ist, an dem Serena ein Gefühl der Sicherheit hat.
Serena hat in ihrem Leben zwei Orte erlebt, an denen sie sich zu Hause fühlte: das Haus ihrer Großmutter in Kelowna und das eine oder andere baufällige Hotel in East Hastings. „Ich bin in Kelowna nicht sicher“, sagt sie. „Ich wurde von meinem Onkel und meinem Großvater missbraucht, und die Drogen halten mich davon ab, darüber nachzudenken, was passiert ist. Mein Großvater hat meiner Großmutter gesagt, sie solle mir sagen, ich solle zurückkommen und ihm vergeben und alles vergessen. ‚Wenn du nach Kelowna zurückkommst und vor der ganzen Familie darüber reden willst, dann kannst du das tun.‘ Worüber reden, verdammt? Über was? Es ist bereits alles vorbei und erledigt. Es gibt kein Zurück mehr. Er kann es nicht vergessen und ändern, was er mir angetan hat. Auch mein Onkel kann nichts an dem ändern, was er mir angetan hat.“
Der sexuelle Missbrauch begann, als Serena sieben Jahre alt war, und dauerte an, bis sie im Alter von fünfzehn Jahren ihr Kind zur Welt brachte. Während der ganzen Zeit kümmerte sie sich um ihre jüngeren Geschwister.
„Ich musste auch meinen Bruder und meine Schwester beschützen. Ich versteckte sie im Keller mit vier oder fünf Flaschen Babynahrung. Sie trugen noch Windeln. Als ich elf Jahre alt war, versuchte ich meinen Großvater abzuweisen, aber er sagte, wenn ich nicht genau das tun würde, was er will, würde er es auch mit Caleb tun. Caleb war damals erst acht Jahre alt.“
„Oh, Gott“, kommt es aus meinem Mund. Ich denke, es ist ein Segen, dass ich nach all den Jahren, die ich in Downtown Eastside arbeite, immer noch fähig bin, schockiert zu sein.
„Und Ihre Großmutter hat Sie nicht beschützt.“
„Das konnte sie nicht. Sie hat so viel getrunken … Jeden Morgen begann sie schon zu trinken. Sie hat getrunken, bis meine Tochter geboren wurde.“
Jahre später wurde Caleb getötet – von drei Cousins nach einem Saufgelage erschlagen und ertränkt. „Es fällt mir immer noch schwer zu glauben, dass mein Bruder auch tot ist“, sagt Serena. „Wir standen uns so nahe, als wir Kinder waren.“
Dies war also das perfekte Zuhause, in dem Serena aufgewachsen war, unter der Obhut einer Großmutter, die ihre Enkelin zweifellos liebte, aber völlig unfähig war, sie vor den männlichen Missbrauchstätern in ihrem Haushalt oder vor ihrem eigenen Alkoholismus zu schützen. Und diese Großmutter, die jetzt gestorben ist, war Serenas einzige Verbindung, um tröstende Liebe in dieser Welt zu erhalten.
„Haben Sie jemals mit jemandem darüber gesprochen?“ In Downtown Eastside ist dies fast immer eine rhetorische Frage.
„Nein. Man kann niemandem trauen … Ich kann nicht mit meiner Mutter reden. Wir haben kein Mutter-Tochter-Verhältnis. Wir wohnen im selben Gebäude, wir treffen uns nicht mal. Sie geht direkt an mir vorbei. Das tut mir sehr weh.“
„Ich habe alles versucht. Es hat keinen Sinn. Ich habe so viele Jahre versucht herauszufinden, ob meine Mutter mir nahe sein kann. Und die einzige Zeit, in der sie mir nahe kommt, ist, wenn ich etwas Dope oder Geld in der Tasche habe. Das ist das einzige Mal, dass sie sagt: ‚Tochter, ich liebe dich.‘„
Ich zucke zusammen.
„Das einzige Mal, Maté. Das einzige Mal.“
Ich habe keinen Zweifel, dass, wenn Serenas Mutter über ihr eigenes Leben sprechen würde, eine ebenso schmerzhafte Erzählung herauskommen würde. Das Leiden ist hier generationenübergreifend. Die größte Qual, die fast alle meine Patienten, ob männlich oder weiblich, mir gestehen, ist nicht die Misshandlung, die sie erlitten haben, sondern das eigene Verlassen ihrer Kinder. Das können sie sich niemals verzeihen. Schon die bloße Erwähnung bringt bittere Tränen hervor, und ein Großteil ihres fortgesetzten Drogenkonsums soll die Wirkung solcher Erinnerungen dämpfen. Serena, die hier als das verletzte Kind spricht, schweigt ebenfalls