Im Reich der hungrigen Geister. Gabor Mate
mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass er mich nicht auch betrügen wird. Das geht direkt auf meinen sexuellen Missbrauch zurück.“
Celia erinnert sich, dass sie im Alter von fünf Jahren zum ersten Mal sexuell missbraucht wurde, und zwar von ihrem Stiefvater. „Das ging acht Jahre lang so. Seit Kurzem erlebe ich den Missbrauch in meinen Träumen wieder.“ In ihren Albträumen ist Celia mit dem Speichel ihres Stiefvaters getränkt. „Das war ein Ritual“, erklärt sie fast nüchtern. „Als ich ein kleines Mädchen war, stand er über meinem Bett und spuckte mich am ganzen Körper an.“
Ich erschaudere. Nach drei Jahrzehnten als Arzt glaube ich manchmal, dass ich jede Art von Verderbtheit gehört habe, die Erwachsene jungen und ungeschützten Menschen antun können. Aber in Downtown Eastside werden immer wieder neue Kindheitsschrecken enthüllt. Celia quittiert meinen Schock mit einem Flackern ihrer Augenlider und einem Nicken und fährt dann fort. „Mein Alter, Rick, war bei der Armee in Sarajevo, und er leidet nun unter posttraumatischem Stress. Da bin also ich, die wegen ihrer Albträume von sexuellem Missbrauch aufwacht, und ich habe ihn, der aufwacht und wegen der Waffen und dem Tod schreit …“
„Sie nehmen also Drogen, um von den Schmerzen wegzukommen“, sage ich nach einer Weile, „aber der Drogenkonsum verursacht mehr Schmerzen. Wir können Ihre Opiatabhängigkeit mit dem Methadon in den Griff bekommen, aber wenn Sie wollen, dass dieser Kreislauf aufhört, müssen Sie sich verpflichten, das Kokain aufzugeben.“
„Das tue ich. Ich will das mehr als alles andere.“ Im Wartebereich vor meinem Praxiszimmer werden die Patienten unruhig. Jemand schreit. Celia winkt abweisend mit der Hand.
Ich lächle sie an. „Sie klangen gestern gar nicht so anders.“
„Ich war viel schlimmer als das. Ich war völlig verrückt.“
Das Geschrei geht weiter, diesmal lauter. „Verpiss dich, du gottverdammtes Arschloch“, schreit Celia, ihr Tonfall plötzlich bösartig. „Ich spreche mit dem Arzt!“
August 2004
Ich mag es, wenn Musik aus der kleinen Musikanlage hinter meinem Schreibtisch tönt. Meine Patienten, von denen nur sehr wenige mit klassischer Musik vertraut sind, sagen oft, dass sie es als willkommene, beruhigende Überraschung empfinden. Heute ist es Kol Nidrei, Bruchs Vertonung des Gebetes der jüdischen Seele um Sühne, Vergebung und Einheit mit Gott. Celia schließt ihre Augen. „Das ist so schön“, seufzt sie.
Als die Musik zu Ende ist, erwacht sie aus ihrer Träumerei und erzählt mir, dass sie und ihr Freund Pläne für die Zukunft schmieden.
„Was ist mit Ihrer anhaltenden Sucht? Bedeutet das ein Problem für Sie oder für ihn?“
„Nun ja, schon, denn ich bin ja nicht mit meinem ganzen Ich präsent. Sie bekommen nicht das Beste von einem Menschen, wenn er süchtig ist, stimmt’s?“
„Richtig“, stimme ich zu. „Ich habe es selbst erlebt.“
Oktober 2004
Celia ist schwanger. Hier in Downtown Eastside ist das im besten Fall immer ein gemischter Segen. Man könnte meinen, dass der erste Gedanke eines Arztes bei einer frisch schwangeren, drogensüchtigen Patientin ist, zur Abtreibung zu raten. Aber die Aufgabe des Arztes – ob bei dieser oder einer anderen Bevölkerungsgruppe – besteht darin, die eigenen Präferenzen der Frau zu ermitteln und gegebenenfalls die Optionen zu erläutern, ohne Druck auszuüben, sich für diesen oder jenen Weg zu entscheiden.
Viele süchtige Frauen entscheiden sich für ihre Kinder, anstatt den Weg eines vorzeitigen Schwangerschaftsabbruchs zu gehen. Celia ist entschlossen, die Schwangerschaft durchzustehen und das Kind zu behalten. „Sie haben mir meine ersten beiden Kinder weggenommen; dieses Kind werden sie mir niemals nehmen“, schwört sie.
Eine Durchsicht von Celias Krankengeschichte der letzten vier Jahre offenbart nichts Ermutigendes. Mehrere Selbstmorddrohungen. Unfreiwillige Einweisung in die Psychiatrie, weil sie während eines Brandes im Washingtoner Hotel nicht von der Feuertreppe runterkommen wollte. Zahlreiche körperliche Verletzungen – Knochenbrüche, Prellungen, blaue Augen, Abszesse, die mittels einer chirurgischen Drainage behandelt wurden, Zahninfektionen, Lungenentzündungen, die einen Krankenhausaufenthalt erforderlich machten, Ausbruch einer Gürtelrose, wiederkehrender Pilzbefall im Mund, eine seltene Blutinfektion – Manifestationen eines Immunsystems, das von HIV geschwächt und durch häufige Drogeninjektionen bis an die Grenze seiner Belastbarkeit gefordert wird. Celia hielt sich lange Zeit nicht an die vorgeschriebenen antiviralen Behandlungen. Ihre Leber ist durch Hepatitis C geschädigt. Der einzige hoffnungsvolle Aspekt ist, dass sie seit ihrer Zeit mit Rick, ihrem derzeitigen „Alten“, ihre HIV-Medikamente regelmäßig einnimmt und ihre Immunwerte wieder in den sicheren Bereich geklettert sind. Wenn sie die Behandlung fortsetzt, wird sich ihr Baby nicht infizieren.
Heute ist sie hier mit Rick. Die beiden kuscheln sich aneinander und werfen sich zärtliche Blicke zu. Es ist der erste vorgeburtliche Termin, und Celia berichtet über ihre bisherigen Schwangerschaften.
„Ich habe meinen ersten Sohn neun Monate lang großgezogen. Sein Vater verließ uns schließlich … er war ein guter Vater … Ich habe gespritzt. Es war äußerst unverantwortlich von mir.“
„Sie verstehen also, warum Ihnen auch dieses Baby weggenommen werden könnte, wenn Sie weiter Drogen nehmen.“
Celia erwidert mit Nachdruck: „Oh, ja, auf jeden Fall. Ich würde nie ein Kind in die Lage versetzen, an meiner Sucht zu leiden. Ich meine, das ist leichter gesagt als getan, aber …“
Ich sehe Rick und Celia an und spüre, wie glühend sie sich dieses Kind wünschen. Vielleicht sehen sie ihr Baby als ihren Retter, als die Kraft, die ihnen die Stärke gibt, ihr Leben zusammenzuhalten. Meine Sorge ist, dass sie vom magischen Denken besetzt sind, wie Kinder, die glauben, dass der Wunsch reicht, um Wirklichkeit zu werden. Celia ist tief in ihren Süchten verstrickt. Weder sie noch Rick sind kurz davor, die Traumata und psychischen Belastungen, die ihre Beziehung zerstören, zu lösen. Ich glaube nicht, dass dieses neue Leben, das sich in Celias Schoß regt, für diese Eltern das bewirken wird, was sie für sich selbst nicht erreichen konnten. Freiheit gewinnt man nicht so leicht.
Trotz meiner Zweifel und Bedenken wünsche ich ihnen von ganzem Herzen, dass sie Erfolg haben. Die Schwangerschaft hat einigen Süchtigen geholfen, aus ihrer Abhängigkeit auszubrechen, und Celia wäre nicht die erste, die es schaffen würde. Carol, die junge Frau, die von Crystal Meth und Opiaten abhängig war, von der ich in Kapitel 3 erzählt habe, hat ein gesundes Kind zur Welt gebracht, ihre Sucht aufgegeben und ist ins Landesinnere von British Columbia gezogen, um bei ihren Großeltern zu leben. Und es hat im Laufe der Jahre noch einige andere Erfolgsgeschichten unter meinen Patientinnen gegeben.
„Ich werde Ihnen helfen, wo immer ich kann“, sage ich. „Es ist eine Chance für ein neues Leben, nicht nur für das Baby, sondern auch für jeden von Ihnen – und für Sie beide zusammen. Aber Sie wissen, dass Sie noch einige Hindernisse überwinden müssen.“
Der erste Punkt, den ich zur Sprache bringe, ist Celias Sucht. Ihre Opiatabhängigkeit kann durch das Methadon behoben werden. Im Gegensatz zu dem, was Celia erwartet, werden wir sie nicht nur auf diesem Medikament belassen, sondern wahrscheinlich die Dosis mit fortschreitender Schwangerschaft erhöhen. Ein Fötus, der in der Gebärmutter unter Opiatentzug leidet, kann neurologische Schäden erleiden, sodass es für das Baby besser ist, mit einer Opiatabhängigkeit auf die Welt zu kommen und es nach der Geburt sanft davon zu entwöhnen. Kokain ist eine andere Sache. Wenn man bedenkt, wie wahnsinnig gestört Celia unter dem Einfluss dieser Droge ist, ist es unvorstellbar, dass sie in der Lage sein könnte, sich der geburtsvorbereitenden Betreuung zu unterziehen oder später das Sorgerecht für ihr Kind zu behalten, falls sie das Kokain nicht aufgibt. Ich fordere sie dringend auf, in eine Rehaklinik zu gehen, weit weg von Downtown Eastside.
„Ich kann nicht von Rick getrennt sein“, antwortet Celia.
„Es geht nicht um mich“, sagt Rick. „Es geht darum, dass du die Genesung und