Seewölfe - Piraten der Weltmeere 449. Fred McMason
von den Inseln noch entfernt. Hasard hatte konsequent einen Abstand von der südamerikanischen Küste gehalten, der etwa fünfhundert Meilen betrug. Sie wollten jeder möglichen Begegnung mit spanischen Schiffen entgehen, denn inzwischen hatten die Dons längst begriffen, wer auf dieser Seite der Neuen Welt aufgetaucht war und sie zum Narren hielt. Kein anderer nämlich als El Lobo del Mar persönlich.
Der Kutscher hockte sich ebenfalls auf die Gräting und linste sehr aufmerksam und angestrengt durch das Spektiv, um die Aufmerksamkeit Carberrys zu erregen, die auch nicht lange auf sich warten ließ, denn den Profos plagte ebenfalls die Langeweile.
Zudem murmelte der Kutscher immer wieder leise: „Hm, sieh einer an! Donnerwetter! Ausgezeichnete Sicht heute, kein Wunder, daß man ihn so deutlich sieht!“
Der Profos stand jetzt neben dem Kutscher und äugte auf ihn hinunter, wobei er die Fäuste in die Seiten stemmte.
„Was gibt’s denn da zu glotzen?“ fragte er nach einer Weile. „Siehst du wieder Meermänner und Nixen, was, wie?“
„Wirklich erstaunlich“, murmelte der Kutscher wieder.
Mac Pellew stand daneben und grinste wie ein Ochsenfrosch, der unter der Maulsperre leidet.
„Was, zum Teufel, ist so erstaunlich?“ wollte Carberry wissen.
„Na, daß man an Steuerbord den Äquator sieht“, sagte der Kutscher, „zwar nur als feine Linie, aber immerhin, man sieht ihn, obwohl wir noch etliche Meilen entfernt sind.“
„Wirklich?“ fragte Carberry.
„Wenn ich es dir doch sage. Mac hat ihn auch gesehen. Man muß das Spektiv unter die Kimm halten, und zwar genau waagerecht, dann erkennt man die feine Linie. Willst du mal durchschauen?“
„Aber gern“, sagte Carberry bereitwillig und nahm den Kieker, den der Kutscher ihm zurechtfummelte. Dabei grinste er Mac Pellew verstohlen zu.
Als der Profos hindurchblickte, zuckte es in seinem narbigen Gesicht. Tatsächlich war da ein haarfeiner Strich auf der langrollenden Dünung zu erkennen. Carberry holte tief Luft.
„Das muß ich mir genauer ansehen“, murmelte er. „Stell dich mal hinter mich, Kutscher, und halte mir das Spektiv.“
Der Kutscher tat das mit einem fast diabolischen Grinsen, nahm hinter dem Profos Aufstellung und hielt das Spektiv fest, damit der Profos ausgiebig hindurchstieren konnte.
Gleich darauf schoß dem Kutscher allerdings das Wasser in die Augen, denn der Büffel von einem Profos trat einen Schritt zurück und stieg dem Kutscher mit seinem ganzen Gewicht auf die Stiefel, daß der glaubte, ihm würden jeden Augenblick die Socken platzen.
„Au, verdammt!“ entfuhr es dem Kutscher.
„Ja, bleib so stehen“, sagte Carberry begeistert, „jetzt sehe ich den Äquator ganz deutlich.“
„Du stehst auf meinen Latschen“, sagte der Kutscher unter Tränen.
Carberry drehte sich um, stieg dem Kutscher von den Latschen und gab ihm das Spektiv zurück. Dabei grinste er freundlich.
„Wenn du abgenagter Suppenknochen den alten Carberry verarschen willst“, sagte er, „dann mußt du dein Kombüsenfeuer morgens schon um vier entzünden, nicht erst um fünf. Aber die Idee war trotzdem nicht schlecht. Ich wette, du hast einfach ein Haar vor den Kieker geklebt, stimmt’s?“
„Stimmt“, sagte der Kutscher kläglich.
„Na, dann versuchen wir es mal bei Paddy“, sagte Ed. „Bis der das begriffen hat, sind wir längst über den Äquator weg.“
Paddy Rogers, immer etwas denkfaul, war für die Abwechslung dankbar und blickte durchs Spektiv.
„Heute ist ein ungewöhnlich klarer Tag“, sagte der Profos, „da kann man verdammt weit sehen. Du weißt ja, daß Nebel nie bei guter Sicht und klarem Wetter auftritt, oder?“
Paddy Rogers nickte und überlegte angestrengt.
„Stimmt“, sagte er dann, „bei guter Sicht und klarem Wetter gibt’s keinen Nebel.“
„Wenn man diese Erkenntnis gewonnen hat, sieht man auch den Äquator. Nun sieh ihn dir mal an.“
Paddy blickte angestrengt hindurch, bis er den feinen Strich vor seinem Auge erkannte.
„Jetzt sehe ich ihn“, sagte er entzückt. „Er steht genau senkrecht über der Kimm.“
„Quatsch, er liegt immer waagerecht. Du mußt das Spektiv weiter herumdrehen, bis die Linie unter der Kimm liegt.“
Auch das tat Paddy, bis der Strich waagerecht zu erkennen war.
„Genau! Jetzt ist er ganz deutlich. So was habe ich noch nie gesehen.“
„Kriegst du auch so schnell nicht mehr zu sehen“, versicherte Carberry. „Das ist sozusagen einmalig.“
Als Paddy Rogers abzog, verklarte er das „Einmalige“ sogleich seinem Freund Jack Finnegan, und obwohl der Bedenken anmeldete, ließ sich Paddy nicht mehr davon abbringen, den Äquator gesehen zu haben.
„So verarscht man die Leute“, sagte der Profos trocken. „Diesmal ist es mir gleich bei zwei Kerlen gelungen, nämlich bei dir und Paddy. Laß dir übrigens mal was Neues einfallen, Kutscher.“
„Na, war wohl nichts“, murmelte der Kutscher. „Offenbar hat er heute seinen geistreichen Tag.“
Ziemlich mißmutig sah er dem Profos nach, der sich vergnügt die Pranken rieb. Mac Pellew hingegen blickte sehr grämlich drein. Er sah aus, als hätte er Zahnschmerzen.
„Eine halbe Stunde Luftschnappen für den ehrenwerten Don Gaspar de Rojas“, sagte Hasard etwas später zum Profos. „Bring den Kerl an Deck, Ed, damit er in der Piek nicht austrocknet.“
„Aye, Sir“, sagte Ed, „aber der trocknet bestimmt nicht aus, weil er immer noch die Hosen voll hat.“
Sie hatten einen Gefangenen an Bord, den Kommandanten der aufgelaufenen Kriegskaravelle „Esmeralda“, Capitán Don Gaspar de Rojas, der aus Feigheit ein Duell mit Hasard verweigert hatte. Dieser aufgeplusterte Gockel hatte einen anderen spanischen Capitán praktisch wegen nichts erschießen wollen, und dieser feige Mord wäre ihm auch gelungen, hätten Hasard und seine Männer nicht eingegriffen. Als Hasard de Rojas zum Duell forderte, hatte der Capitán feige gekniffen. Daraufhin hatten sie ihn auf die „Estrella“ verfrachtet.
Hasard beabsichtigte, den Kerl auf einer Insel auszusetzen.
Der Profos holte den Kerl aus der Vorpiek, damit er zweimal täglich eine halbe Stunde lang Bewegung hatte und sich frischen Wind um die Nase wehen lassen konnte.
Das war jetzt schon zur reinen Gewohnheit geworden. Obwohl de Rojas wußte, daß er sich ausgerechnet an Bord jenes Mannes befand, den er jagen wollte, schlotterten ihm regelmäßig die Knie, sobald er an Deck war. Dann lag Entsetzen in seinem Blick, und er fühlte sich klein und häßlich.
Carberrys fromme Sprüche und sein Aussehen taten ein übriges, um ihn restlos zu demoralisieren. Das war auch jetzt wieder der Fall.
Aus dem aufgeplusterten Gockel war ein gerupftes Hühnchen geworden. Sein nichtssagendes Gesicht war bleich, aber auf seinen Wangen erschienen hektische rote Flecken, sobald er den Seewolf sah. Er stand an Deck, starrte die Planken an und zuckte jedesmal heftig zusammen, sobald jemand an ihm vorbeiging.
„Nun hab’ dich mal nicht so, du kastilianischer Entenarsch“, sagte der Profos. „Hier reißt dir keiner die Ohren ab. El Lobo del Mar wartet lediglich darauf, daß du dich endlich dem Duell stellst. Er hat gerade seinen Degen frisch gewetzt. Willst du es dir nicht doch noch einmal überlegen? Du warst doch vorher so versessen darauf.“
„Nein, ich kämpfe nicht. Dann kann ich mich gleich selbst umbringen. Nein, nein, nein!“ keifte er. „Was geschieht mit mir?“
„Vielleicht rammen wir dich irgendwo ungespitzt in den Meeresgrund.