Seewölfe - Piraten der Weltmeere 151. Roy Palmer
um einen entscheidenden Angriff zu unternehmen. Ausgeschlossen. Er hatte sich einen Trick einfallen lassen müssen. So einfach dieser Trick war, er schien den vier Verschwörern doch von allen Erwägungen, die sie getroffen hatten, das Beste zu sein.
Konnte man Gijsbert vertrauen?
Hendrik zweifelte nicht daran. Am Nachmittag hatten sie alle vier ganz kurz die Gelegenheit gefunden, unten im Vordeck miteinander zu sprechen. Sie hatten die Köpfe zusammengesteckt und hastig geflüstert, und die ganze Zeit über hatte ihnen die unsichtbare Faust im Nacken gesessen, Samkalden oder sonst jemand könnte sie entdecken.
Hendrik hatte Gijsberts Augen in dem Halbdunkel des Vordecks recht gut sehen können. Er hatte ihn fixiert, aber Gijsbert war diesem bohrenden Blick der harten grauen Augen nicht ausgewichen. Kein Mann war fähig, einen solchen Blick ohne das geringste Flackern, ohne Zucken der Lider zu erwidern, wenn er es nicht von Grund auf ehrlich meinte. Hendrik war von seiner gefühlsmäßigen Menschenkenntnis überzeugt. Ja, er schenkte Gijsbert jetzt wirklich sein volles Vertrauen.
Gijsbert gehörte zu den Piraten, die die „Sparrow“ in Neufundland gekapert hatten. Seinem Herzen nach war er eigentlich kein schlechter Kerl – oder, anders ausgedrückt, der am wenigsten durchtriebene und hinterhältige Mann dieser Meute. Er hatte dieses Dasein satt und reichlich genug von den Schikanen Samkaldens. Er wollte nicht länger außerhalb jeder Legalität leben, sondern Ordnung in sein Leben bringen. Er hatte sich geschworen, neu anzufangen, indem er den Gefangenen der Piraten half, das Schiff durch einen kühnen Zug in ihre Hand zu kriegen.
„Heute nacht erobern wir die ‚Sparrow‘ zurück“, hatte Hendrik Laas im Vordeck seinen Kameraden zugezischt.
„Es ist ein Wahnsinnsunternehmen“, hatte Bert Anderson gedämpft zurückgegeben. „Aber gerade das Aussichtslose ist oft der einzige Weg, den man beschreiten kann.“
„Wir haben keine andere Wahl“, hatte Sheldon Gee gesagt.
Hendrik hatte erwidert: „Wir können auch nicht länger warten. Unsere Berechnungen stimmen, wir befinden uns nahe der Küste von Cornwall. Hier können wir landen und finden Unterstützung – nicht aber in den Sieben Provinzen, wo man die Kerle vielleicht noch wie die Helden feiern wird. Sind wir dort erst angelangt, bringt van Dyck uns um, weil er uns nicht mehr braucht.“
„Uns“, hatte Anderson geflüstert. „Dich würden sie doch noch brauchen, denn sie wollen mit verstärkter Mannschaft und besserer Ausrüstung wieder den Atlantik überqueren und dorthin fahren, wo …“
„Ich könnte das Märchen doch nicht aufrechterhalten. Wenn sie euch töten würden, würde ich ihnen ins Gesicht schreien, daß ich ihnen etwas vorgeschwindelt habe.“
Gijsbert hatte Hendrik unverwandt angeschaut. „Es gibt also kein Gold in Thule?“
„Nein. Man kann dort nicht graben, weil der Boden hart gefroren ist, aber selbst wenn man graben würde, würde man nichts entdecken. Nichts – außer vielleicht ein paar Knochen.“
„Aber es gibt dort Pelze.“
„Die Pelze liegen nicht auf dem Eis herum. Man muß sie sich mühsam erjagen. Man muß sich auskennen und bittere Kälte und enorme Entbehrungen ertragen können.“
„Ich glaube, ich würde nie bis dort hinaufsegeln“, hatte Gijsbert leise entgegnet. „Wenn alles klappt, heure ich auf einem Schiff an, das nach Westindien segelt. Wenn alles klappt – aber es darf nicht schiefgehen.“
Ein Ruf erklang von achtern und riß Hendrik abrupt in die Gegenwart zurück. Ligthart, der den Kolderstock bediente, ließ etwas über den Wind verlauten, und Hendrik stellte ebenfalls fest, daß der Wind schralte.
Er korrigierte die Stellung von Fock, Vormarssegel und Blinde, denn der Wind hatte von Westen auf Südwesten gedreht und fiel also nicht mehr achterlich, sondern raumschots ein. Hendrik belegte die Brassen und Schoten neu, während auch die anderen Männer der Deckswache die Segel nach Steuerbord braßten und Rudergänger Ligthart den Kolderstock ein wenig weiter nach Steuerbord drückte.
Hendrik Laas blickte voraus in die Nacht. Er konnte nichts dagegen tun, daß seine Gedanken wieder abschweiften. Im Geist sah er nicht die von Sterntupfern durchwirkte samtene Finsternis, sondern das Weiß jener unvergleichlichen uralten Landschaft, in der er Jahre verbracht hatte, Jahre, ohne nennenswerten Kontakt mit Menschen gehabt zu haben. Eine unvergessene Zeit, die ihm mehr Verbundenheit mit dem weißen, kalten Land geschenkt hatte, als er je für möglich gehalten hatte und hatte eingestehen wollen.
Nanoq, der Eisbär, lebte in jenen Zonen und die Robben und die Narwale und die Walrosse, die er, Hendrik Laas, unter dem fahlen Glanz der Mitternachtssonne gejagt hatte.
Er blickte an sich herab. Die weißen Eisbärhosen, die er sich selbst nach der Art der Ureinwohner des Landes gefertigt hatte, schienen hier fehl am Platze zu sein. Wehmut ergriff Hendrik, wenn er an Thule dachte. Er wünschte sich dorthin zurück, in die einsamen Breiten, in denen es Haß und Habgier nicht gab.
Hendrik Laas lauschte in die Nacht. Das Rauschen des Seewassers an den Bordwänden, das Knarren der Blöcke und Rahen waren vertraute Geräusche. Unter ihm im Vordeck schien alles still zu sein. Hendrik überdachte noch einmal alles, und nicht sehr viel später ertönte das vertraute Signal. Ligthart hatte das Stundenglas zum zweitenmal nach Mitternacht umgedreht und gegen die kleine Bronzeglocke geschlagen. Es war ein Uhr morgens.
Hendrik trat ans Backbordschanzkleid und warf einen scheinbar prüfenden Blick nach außenbords. Dies war das Zeichen für Gijsbert. Gijsbert sah es, wandte sich zu Anderson um und blickte diesen einfach nur kurz an.
Bert Anderson hatte verstanden.
Er griff mit der einen Hand ans Herz, gab einen röchelnden Laut von sich und brach plötzlich dicht vor der Querwand des Achterkastells zusammen.
Eric Winlow blieb plötzlich stehen. Er wirkte sehr fett, seine Glatze schimmerte ein wenig in dem schalen Mondlicht über Cornwall. Wer ihn nicht kannte, wußte nicht, welche Muskeln sich unter seinen Körpermassen verbargen. Immerhin, er hätte allein seiner Statur nach wie eine Festung im auflandig aus Südwesten über die Küste streichenden Wind stehen sollen – aber er tat es nicht. Er wankte und drohte aus der Balance zu geraten. Die Schuld daran trug nicht der Wind, sondern das süffige dunkle Bier, das er in der Spelunke getrunken hatte, an deren Namen er sich schon nicht mehr erinnern konnte.
Roger Lutz verharrte neben Winlow. Der Wind zerzauste seine schwarzen Haare. Winlow behauptete immer, Lutz trüge so viele Haare auf dem Kopf, daß sie für ihn mit ausgereicht hätten.
Roger war sonst immer mit Grand Couteau, seinem guten Freund, zusammen, aber an diesem Abend hatte er sich von dem französischen Landsmann getrennt und sich mit Eric, dem Koch der „Vengeur“, auf den Zug durch die Landschaft begeben. Es war einfach so eine Idee gewesen, die der Bemerkung Winlows entsprungen war, er kenne da eine Kaschemme außerhalb von Plymouth, deren Namen er zwar nicht wisse, in der es aber ein ganz ausgezeichnetes Bier gebe, wenn sich nichts geändert hätte.
Grand Couteau hatte nicht mitgehen wollen, aber Roger und Eric hatten es bislang noch nicht bereut, zumal sie in dieser Nacht voll und ganz auf ihre Kosten kommen sollten – wie es den Anschein hatte.
„Was ist?“ sagte Roger Lutz. Es fiel ihm nicht mehr besonders leicht, die Zunge zu bewegen, sie schien sehr schwer geworden zu sein.
Winlow streckte die Hand aus und vollführte eine wedelnde Gebärde zu dem dritten Mann im Bunde hin. Der aber bemerkte die Geste nicht. Er marschierte einfach weiter durch das grasbewachsene Küstenland – ein schlanker Mann mit breiten Schultern und einer Mütze auf dem Kopf. Sein Name lautete Hadley Allen.
„He“, sagte Eric rauh. „Bleib mal stehen, Harvey.“
Allen verhielt seinen Schritt, wandte sich zu ihnen um und setzte ein joviales Grinsen auf. „Hadley, wenn ich bitten darf. Ist aber nicht so wichtig. Wo drückt denn der Schuh? Könnt ihr nicht mehr laufen?“
Eric stieß einen schnaufenden Laut aus. „Nicht mehr laufen? Daß ich nicht lache. Aber, wenn’s recht ist, beschreibe