Seewölfe - Piraten der Weltmeere 316. Frank Moorfield
Jolle.
Die drei Posten strahlten wie frisch geputzte Golddublonen, aber dieses Strahlen verging ihnen sehr schnell, als sie an Bord der Galeasse das finstere und zornige Gesicht Semion Marineskos erblickten. Dieser Gesichtsausdruck des Verbandsführers verhieß nichts Gutes, darüber waren sie sich im klaren.
Wenn sie geglaubt hatten, daß man sie um ihrer selbst willen von der Insel geholt hätte, dann begriffen sie spätestens jetzt, daß sie einer Selbsttäuschung zum Opfer gefallen waren.
„Bindet diesen pflichtvergessenen Schlafmützen die Hände zusammen!“ befahl Marinesko, während die Galeasse den Bug nach Osten richtete.
2.
Zusammen mit zwei schwerbewaffneten Soldaten eilte Alvar Renquist auf den weit ins Wasser der Nordbucht von Kotka hinausragenden Steg zu, an dem die „Isabella IX.“, die neue, 550 Tonnen große Galeone der Seewölfe, vertäut war.
Alvar Renquist war der Landeshauptmann des Läns Wiborg, zu dessen Verwaltungsbezirk die Insel Kotka gehörte, und somit auch Kommandant des schwedischen Landungskorps. Der blonde, hochgewachsene Mann bebte vor Zorn und Empörung.
Philip Hasard Killigrew, der Seewolf, der ihn vom Achterdeck aus nahen sah, konnte sich denken, was den Landeshauptmann so in Rage versetzt hatte. Auch ihm und seinen Männern war der von Süden heraufrollende Donner von Kanonen und Drehbassen nicht entgangen.
Renquist, den die Seewölfe wegen seiner Ehrlichkeit und Geradheit sehr schätzten, war durch das trübe Licht der Laternen, die seine Begleiter bei sich trugen, deutlich zu erkennen.
„Alvar Renquist bittet die Ankerwachen, an Bord kommen zu dürfen!“ rief er. „Ich muß Sir Hasard dringend sprechen!“
Der Seewolf, ein mehr als sechs Fuß großer Mann mit schwarzen Haaren und eisblauen Augen, trat ans Schanzkleid. Schon als die Schießerei begonnen hatte, war er, nichts Gutes ahnend, auf dem Achterdeck erschienen, um einen Blick durch sein Spektiv zu werfen. Das Krachen der Geschütze hatte jedoch ebenso schnell wieder aufgehört, wie es begonnen hatte. Es lag schon mehr als zwei Stunden zurück. Dennoch hatte Hasard, dem sein untrüglicher Instinkt sagte, daß der Ärger mit den Russen noch nicht ausgestanden war, darauf verzichtet, sich wieder in seine Kammer zurückzuziehen.
„Willkommen an Bord!“ rief er und winkte Renquist zu.
Die Ankerwachen, zu denen Roger Brighton, Jack Finnegan, Gary Andrews und Bill gehörten, nahmen dienstbeflissen die Leinen wahr und fierten die Jakobsleiter ab.
„Es tut mir leid“, sagte Renquist, als er die Kuhl der „Isabella“ betrat, „daß ich Sie zu dieser nächtlichen Stunde um den wohlverdienten Schlaf bringen muß, aber es ist ungeheuerlich, was an unserem Landungsplatz an der Südwestküste geschehen ist.“
Hasard lächelte.
„Sie wissen, daß Sie hier niemals stören, Renquist“, sagte er. „Und wir können es durchaus verkraften, auch mal zu später Stunde hochgepurrt zu werden. Sicherlich hat es neuen Ärger gegeben. Hat unser gemeinsamer Freund Marinesko versucht, seine Rachegelüste zu befriedigen?“
„Mit dieser Vermutung haben Sie genau ins Schwarze getroffen, Sir Hasard.“
Die beiden Männer waren von der Kuhl zum Quarterdeck aufgeentert und betraten nun die Kapitänskammer des Seewolfs. Zuvor hatte dieser Gary Andrews damit beauftragt, die Männer der Schiffsführung sowie Stenmark als Dolmetscher aus den Kojen zu holen. Durch Stenmark, der selber Schwede war, ließen sich alle Verständigungsschwierigkeiten aus dem Weg räumen.
Kaum hatte Hasard für jeden einen kräftigen Schluck von dem dänischen Akvavit in die Mucks gefüllt, da waren sie auch schon zur Stelle: Allen voran Edwin Carberry, der bullige Profos mit dem gewaltigen Rammkinn und dem Narbengesicht, dann erschienen Big Old Shane, Ferris Tucker, Ben Brighton und der alte O’Flynn. Dessen Sohn, Dan O’Flynn, der als Navigator ebenfalls zur Schiffsführung gehörte, war noch immer mit Batuti auf der Insel unterwegs.
„Was gibt es, Sir?“ fragte Carberry. „Sollen wir den Russen mal wieder was auf die Eierköpfe geben?“
„Mister Renquist wird uns berichten, was geschehen ist“, antwortete Hasard. „Dann können wir beraten, was zu tun ist.“
Alvar Renquist nickte und nahm einen kräftigen Schluck von dem Akvavit. Das scharfe Zeug tat gut in dieser eisigen Märznacht.
„Unsere sechs Galeeren wurden zerstört und versenkt“, berichtete er. Sein Gesicht war gerötet vor Zorn, seine Hände hatten sich zu Fäusten geballt. „Ich könnte mich im nachhinein selber dafür ohrfeigen, daß ich auf jedem Schiff nur zwei Mann als Ankerwache zurückgelassen habe. Aber bei den Kämpfen hier oben in der Nordbucht wurde jeder Mann gebraucht. Außerdem hat niemand damit gerechnet, daß die geflohene russische Galeasse unseren Landungsplatz finden würde.“
„Dieser Generalkapitän ist unberechenbar“, sagte Hasard. „Er weiß genau, daß seine Mission endgültig gescheitert ist, dennoch scheint er vom Racheteufel besessen zu sein.“
„Das kann man wohl sagen“, fuhr Renquist fort. „Als die Schießerei begann, habe ich sofort einen Trupp nach Süden geschickt. Doch die Nachrichten, die man mir überbrachte, waren, wie ich schon erwähnte, niederschmetternd. Wir haben alle Galeeren verloren. Von den zwölf Ankerwachen haben nur fünf Mann überlebt und konnten sich an Land retten. Sie haben das Flaggschiff der Russen sofort wiedererkannt. Hinzu kommt noch, daß die drei gefangenen Russen, die als Posten an der Küste eingesetzt waren, verschwunden sind. Ihre Jolle übrigens ist ebenfalls weg.“
Der Seewolf sah, daß sich die trüben Ahnungen, die ihm bei der Flucht des russischen Flaggschiffs durch den Kopf gegangen waren, sehr schnell erfüllt hatten. Nur – mit diesem heimtückischen Schachzug Marineskos hatte auch er nicht gerechnet. Er hatte vielmehr die Möglichkeit eingeräumt, daß man auf dem Weg nach Wiborg nochmals mit der Galeasse zusammentreffen würde, denn der Generalkapitän wußte, daß dieser Hafen zu den Reisezielen der englischen Galeone gehörte.
Die Seewölfe sahen sich aufgrund des Berichtes, den der Landeshauptmann gegeben hatte, betroffen an. So bedauerlich der Tod der sieben Schweden durch den russischen Überfall war, so sehr ärgerten sie sich andererseits über den Verlust ihrer Jolle. Dabei allerdings ging es ihnen weniger um die Jolle an sich als ums Prinzip. Sie ließen sich nun einmal nicht gern bestehlen, schon gar nicht auf eine so billige Tour.
Außerdem war es nicht das erste Mal, daß man ihnen eine Jolle stahl. Der Ärger mit den finnischen Schnapphähnen, als sie sich mühsam durch die flachen Gewässer zwischen den zahlreichen Inseln vor Abo vorangelotst hatten, war ihnen noch gut in Erinnerung. Sie hatten ihre Jolle zurückgeholt und den beutegierigen Kerlen kräftig auf die Finger geklopft, als diese ihr Glück mit einem Brander-Angriff versuchten.
„Verdammt!“ stieß Old O’Flynn hervor. „Diesmal können wir die Jolle wohl abschreiben. Es sei denn, wir begegnen dieser Galeasse noch einmal.“
Der Seewolf vollführte eine bedauernde Geste.
„Zunächst müssen wir uns einmal damit abfinden“, sagte er. „Mister Renquist wird uns sicherlich bestätigen, daß sich im Moment andere Probleme auftun, die weit schwerwiegender sind als der Verlust einer Jolle. Ich denke zum Beispiel an die rund dreihundert Schweden und die gefangenen russischen Soldaten, die sich hier auf Kotka befinden und nun nicht mehr wissen, wie sie ohne Schiffe die Insel verlassen sollen.“
„Ach du heiliger Strohsack!“ entfuhr es dem rothaarigen Schiffszimmermann Ferris Tucker. „Daran habe ich noch gar nicht gedacht.“
„Ich, ehrlich gesagt, auch nicht“, sagte Ed Carberry und genehmigte sich zur Aufwärmung seines Innenlebens einen kräftigen Schluck Akvavit.
„Die ‚Isabella‘ ist demnach das einzige Fahrzeug, das im Augenblick zur Verfügung steht, um diese Masse von Menschen zurück zum Festland zu schaffen“, fuhr Hasard fort. „Mit den Booten der Inselbewohner können wir nicht rechnen, denn die Russen haben sie bei ihrer