Seewölfe - Piraten der Weltmeere 483. Roy Palmer
Schlangen. Er wußte, daß sie unberechenbar waren, auch die angeblich harmlosen Arten. Eben glitten sie noch scheinbar geruhsam über den Boden, im nächsten Moment konnte der geringste Anlaß einen Ausbruch in ihnen auslösen.
Luiz, ein großer, wuchtig gebauter Mann mit dichtem schwarzem Vollbart, stammte von der spanischen Insel Formentera. Dort war er aufgewachsen und kannte die Strände, die Wälder und Berge wie die Taschen seines Beinkleides. Auf Formentera gab es giftige Vipern, aber auch große, bunte Nattern, die wie ein Pfeil durchs Gras schnellen konnten.
Einmal im Jahr, im Frühling, war die Paarungszeit dieser Tiere. Dann waren auch die Nattern aggressiv. Als Junge hatte Luiz einmal mit einem Stein nach zwei Schlangen geworfen – nach einem Männchen und einem Weibchen. Er hatte nicht geahnt, daß sie sich im Liebesspiel wanden. Aber er hatte sie gestört. Da hatten sie ihn verfolgt und mit ihren langen Schwänzen wie mit Peitschen auf ihn eingehauen. Luiz hatte diese Erlebnis nie vergessen. Ein anderes Mal war er nur knapp dem Biß einer Berus-Viper entgangen, die an einer Quelle getrunken hatte.
Die Schlange machte es sich auf dem umgestürzten Baum bequem. Sie rollte sich zusammen und schien die Sonnenstrahlen zu genießen, die durch das dichte Blätterdach stachen.
Luiz zog sich zurück und stapfte wütend durch das Dickicht. Welche Richtung sollte er einschlagen? Er versuchte, die Herkunft der Laute an der Bucht präzise zu orten und wandte sich nach rechts, dann wieder ein Stück nach links. Mal lachte da ein Mann, mal wurde wieder kräftig gehämmert und gesägt.
Überhaupt, was hatte das zu bedeuten? Von seinem Aussichtsplatz hatte Luiz nicht genau erspähen können, was an der Bucht vor sich ging. Aber wie es schien, bauten die Korsaren irgendwelche Hilfsmittel, um die Truhen und Kisten bequemer und schneller von den Höhlen zum Wasser zu bringen.
Luiz steckte das Messer wieder weg und stieß leise Flüche aus, blickte mal hier- und mal dorthin, konnte sich aber nicht erinnern, auf seiner Flucht von der Bucht in diesem Bereich des Urwaldes gewesen zu sein.
Aber in dieser grünen Hölle sah alles gleich aus. Ein Mangrovenbaum war wie der andere, alle Büsche und Lianen glichen sich. Wer sollte sich da auskennen? Es gab keine Pfade und Markierungen, nichts. Nur heiß und feucht war es. Das Kreischen der Vögel und Affen und das Zirpen der Zikaden klang wie ein höhnisches Konzert in Luiz’ Ohren.
Immer wütender wurde Luiz. Dann schlug seine Wut in Panik um. Was nun, wenn er sich überhaupt nicht mehr zurechtfand? War das möglich? So weit konnte das Ufer doch nicht entfernt sein! Warum ließ er sich in die Irre führen? War es die Hitze, das Klima? Oder hatte er schon eine der gefährlichen, gefürchteten Krankheiten?
Wenn einen das Wechselfieber packte, sollte man anfangs ja auch nichts davon bemerken. Luiz hatte in Cartagena, wo er einige Zeit gewesen war, mal einen Kerl kennengelernt, der das Sumpf- oder Wechselfieber hatte. Dieser Kerl wirkte ganz normal. Nur hin und wieder kriegte er seine Anfälle. Dann kippte er um und wand sich wie unter Krämpfen. Das Fieber stieg rasend schnell, der kalte Schweiß brach ihm aus. Luiz war dabeigewesen, als der Kerl solch einen Anfall gehabt hatte. Der Anblick hatte ihm gereicht. Vor Krankheiten dieser Art hatte Luiz Angst wie vor Schlangen.
Ein Schwarm dicker Fliegen tanzte durch den Dschungel. Sie brummten auf Luiz zu und schwirrten um seinen Kopf herum. Fluchend schlug er nach ihnen. Eine Fliege klatschte ihm mitten gegen die Stirn. Luiz war irritiert. Er wankte nach links, trat mit dem Fuß gegen die Luftwurzel eines Mangrovenbaumes, strauchelte und fiel hin.
Er sprang wieder auf und tobte zornig durch das Gestrüpp. Dornen kratzten ihn, seine Arme waren voller blutiger Male. Er blieb stehen, atmete schwer und schaute sich nach allen Seiten um. Wo war er?
Plötzlich war wieder ein kaum wahrnehmbarer Laut hinter ihm. Dieses Mal reagierte Luiz jedoch zu langsam. Ein Schatten huschte von hinten auf ihn zu. Derbe Hände packten Luiz und warfen ihn zu Boden. Dann rammte sich eine Faust in seinen Rücken, und Luiz stöhnte entsetzt und unter Schmerzen auf.
Aus, dachte er nur noch, die Hunde haben Wachtposten aufgestellt! Jetzt haben sie dich erwischt!
Ferris Tucker, der rothaarige Schiffszimmermann der „Isabella IX.“, richtete sich grinsend auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
„Na, wie haben wir das gemacht?“ fragte er seine Helfer.
„Großartig“, erwiderte Big Old Shane trocken und ohne eine Miene zu Verziehen. „Eine geniale Erfindung. Seit dem Stapellauf unserer ‚Isa‘ ist es das Beste, was ich gesehen habe.“
„Hör auf, mich zu verulken“, sagte Ferris. „Ich gebe zu, es ist eine simple Sache. Aber sie funktioniert.“
Das stimmte. Als die Männer beraten hatten, wie die Reichtümer, die in den Höhlen lagerten, am schnellsten und mühelosesten zum Ufer der Bucht transportiert werden konnten, war der rothaarige Riese auf die glorreiche Idee gekommen, Rutschen zu bauen. Diese Idee war inzwischen in die Tat umgesetzt worden.
Das Gelände vom Wasserfall bis zum Strand der Bucht war permanent abschüssig. So lag es fast auf der Hand, daß man die Kisten und Truhen am besten ins Gleiten oder Rollen brachte, um sie nicht schleppen zu müssen. Mac Pellew hatte vorgeschlagen, Rundhölzer unter die Behältnisse zu legen, die beim Rollen jeweils hinten weggenommen und vorn wieder untergelegt werden mußten. Doch Ferris’ Einfall war besser gewesen: Aus Balken und Planken fertigten die Männer der „Isabella“, der „Caribian Queen“ und der „Le Griffon“ einen hölzernen Pfad, der bis zu den bereitliegenden Jollen führte. Das hatte ein paar Stunden gedauert, aber die Mühe lohnte sich. Es zeigte sich jetzt, wie groß die Zeitersparnis war, die die Freunde auf diese Weise gewannen.
Der letzte Nagel, der die durch Planken verbundenen Balken zusammenhielt, saß. Ferris Tucker legte seinen Hammer beiseite und gab Hasard ein Zeichen. Der Seewolf, der am Rand des Uferdickichts stand, bedeutete seinerseits Siri-Tong mit einer Gebärde, daß es losgehen könne. Die Rote Korsarin stieß einen Pfiff aus.
Barba, ihr bulliger Steuermann, stand oben zwischen den Felsen und blickte zu Siri-Tong hinunter. Er winkte ihr lachend zu, dann wandte er sich George Baxter und Montbars zu. Sie hatten die erste Schatzkiste auf den obersten Balken der Rutsche gehievt und hielten sie an Tauen, die mit ihren Enden an den Griffen der Kiste belegt waren, fest.
„Es kann losgehen“, sagte Barba. „Laßt die Kuh fliegen, Leute!“
Baxter und Montbars setzten sich in Bewegung. Sie ließen die Kiste abwärts gleiten und folgten ihr. Dabei behielten sie die Taue in den Fäusten. Man wollte bei diesem ersten Versuch nicht riskieren, daß die Kiste von der Rutsche kippte und aufsprang. Den Schmuck, der dann herausfiel, mußte man erst wieder einsammeln. Auch das war eine zeitraubende Angelegenheit.
Aber alles verlief genauso, wie Ferris Tucker sich das vorgestellt hatte. Die Kiste rutschte um ein paar leichte Kurven und glitt, immer noch von Baxter und Montbars geführt, bis ans Ufer. Hier standen Blacky, Matt Davies, Stenmark, Higgy und ein paar andere Männer bereit. Sie übernahmen die Kiste und wuchteten sie in eine der Jollen.
„Na bitte!“ rief Ferris. „So einfach ist das! So, ich glaube, die Kisten können jetzt auch allein rutschen!“
So starteten sie den zweiten Versuch. Barba und Pedro Ortiz holten aus der Höhle eine gewichtige, mit eisernen Beschlägen versehene Truhe und hievten sie auf die Rutsche. Dann ließen sie sie einfach los. Die Truhe machte sich selbständig und sauste zu Tal. Sie huschte auf die am anderen Ende der Bahn Wartenden zu, verringerte leicht ihre Fahrt und stoppte dann, wie von Geisterhand gelenkt, genau am richtigen Punkt.
Albert klatschte begeistert in die Hände. „Wunderbar! Besser geht’s nicht!“
Jeff Bowie sah ihn von der Seite an und tippte sich an die Stirn. „Dir fehlen wohl ein paar Becher im Schapp, was? Führ dich doch nicht so albern auf.“
„Ich führe mich nicht albern auf“, erwiderte Albert giftig. „Ich freue mich nur, daß alles so schön klappt.“
„Na, dann freu dich man weiter“, brummte Jeff.
Carberrys Donnerstimme tönte über den Strand. „Haut rein! Keine Maulaffen