Seewölfe - Piraten der Weltmeere 483. Roy Palmer
sagte er. „Denen wollen wir’s mal zeigen.“
Die zehn Männer, die bei ihm waren, holten nun ununterbrochen Kisten, Truhen und Fässer aus den Schatzhöhlen. Die wurden auf die Rutsche geladen, und wenn eine Kiste oder Truhe mal ein bißchen bockte, versetzte Barba ihr einen Tritt. Eine nach der anderen glitten sie nach unten.
Immense Werte, in ihrer Höhe kaum zu schätzen, bewegten sich da zum Südufer von Kuba. Ein ergreifendes und faszinierendes Bild. Das Ziel, daß sich Hasard und seine Kameraden vom Bund der Korsaren gesetzt hatten, war erreicht, Sie hatten den Privatschatz des Don Antonio de Quintanilla gefunden und für sich gewonnen. Alonzo de Escobedo hatten sie dabei auflaufen lassen, wie sich das gehörte. Anders hatte der neue Gouverneur von Kuba es nicht verdient. Er war auf seine Art ein noch größerer Galgenstrick und Menschenschinder als der dicke Don Antonio.
Über den Bau der Rutsche war es später Nachmittag geworden. Es herrschte reger Betrieb, die Männer arbeiteten ohne Pause, Kiste um Kiste, Truhe um Truhe wurde aus dem Spalt der Höhle befördert, durch den die letzten acht Deserteure das Labyrinth verlassen hatten. Bis zuletzt hatten diese Kerle geglaubt, noch eine Chance zu haben. Aber dann waren sie von Hasards Mannen mattgesetzt worden. So war das – sie hatten sich gegenseitig zerfleischt. Das Gold, das Silber und die Diamanten hatten sie in gnadenlose Bestien verwandelt. Hinzu kam, daß es sich bei der Mannschaft des Diego Machado um eine Meute von Schlagetots und üblen Halsabschneidern gehandelt hatte, die nicht anders gewesen waren wie ihr Kapitän selbst.
Ganz anders war die Crew der Kriegsgaleone „San Sebastian“. Unter dem Kommando von Gaspar de Mello segelten disziplinierte, anständige Männer, die das Unternehmen in der Bucht bei Batabanó von Anfang an nicht gutgeheißen hatten. Sie hatten aber gehorchen müssen, denn sie unterstanden dem Kommando des sehr ehrenwerten Señor Gouverneur.
All das hatte sich geändert. De Escobedo hatte gestanden, daß er nicht den Schatz des Königs abbergen und nach Spanien befördern, sondern in die eigene Tasche hatte wirtschaften wollen. Das brach ihm das Genick. De Mello hatte ihn unter Arrest gestellt, der Rest würde sich in Havanna ergeben.
Unbehelligt und in aller Ruhe konnten die Männer des Bundes der Korsaren arbeiten. Die Kisten, Truhen und Fässer wurden in die Jollen verladen und zu den Schiffen gepullt. Hier hievte man sie an Bord und verstaute sie in den Laderäumen.
Die Toten, die man in den Schatzhöhlen gefunden hatte, waren bereits begraben worden. Die anderen Toten, die im Verlauf der Kämpfe aus den Höhlen abgestürzt waren, waren verschwunden. Der Fluß hatte sie entführt, und sie verschwanden auf Nimmerwiedersehen im Meer, wo auch der Fuhrunternehmer Cajega sein Grab gefunden hatte – der erste Tote in dem Wahnsinnsunternehmen des Alonzo de Escobedo.
Hasard, Siri-Tong und Edmond Bayeux setzten sich zu einer kurzen Absprache zusammen.
„Ich finde, Arne muß so schnell wie möglich über den glücklichen Ausgang des Unternehmens unterrichtet werden“, sagte der Seewolf. „Wenn ihr nichts dagegen habt, gehe ich selbst nach Havanna.“
„Allein?“ fragte die Rote Korsarin. „Du solltest wenigstens einen Mann mitnehmen, der sich im Inneren der Insel bereits auskennt.“
„Roger Lutz“, sagte Hasard und winkte den Franzosen zu sich heran.
Roger hatte vernommen, was gesprochen worden war.
„Klar“, bestätigte er grinsend. „Jean und ich sind den ganzen Weg von Havanna bis hierher ja schon gelaufen.“
„Also, wir brechen gemeinsam auf“, sagte der Seewolf.
„Keine Einwände“, entgegnete Siri-Tong. „Ihr müßt euch nur beeilen. Es dauert nicht mehr lange, dann ist es dunkel.“
„Bei Nacht marschiert es sich auch nicht schlecht“, sagte Hasard lächelnd. „Richtig, Roger?“
„Richtig. Und bei Nacht sind alle Katzen grau.“
„Das ist auch wichtig“, pflichtete der Seewolf ihm bei. „Damit wir in Havanna nicht auffallen.“
„Ich kenne die Schleichwege bereits“, sagte Roger Lutz. „Jussuf hat uns in alles eingeweiht.“
„Somit kann nichts schiefgehen“, sagte Bayeux. „Wir halten in der Zwischenzeit hier die Stellung.“
„In Ordnung“, sagte Hasard. „Dann nichts wie los.“
Wenig später brachen Roger Lutz und der Seewolf nach Havanna auf. Für Arne von Manteuffels „Kriegskasse“ nahmen sie jeder zwei Lederbeutel mit Perlen mit. Sie tauchten im Dickicht unter und entzogen sich den Blicken ihrer Kameraden. Roger übernahm die Führung. Er konnte sich noch genau an alle Details erinnern und vermochte sich ausgezeichnet zu orientieren.
In jener Nacht, in der de Escobedo Cajega mittels der Folter zum Sprechen gezwungen hatte, waren Ribault und Lutz dem Gouverneur bis zu dem Schatzversteck gefolgt. Cajega hatte de Escobedo hinführen müssen. Als Lohn hatte er eine Pistolenkugel erhalten. Das Verfolgungsunternehmen der beiden Franzosen hatte sich ausgezahlt. Dies war der größte Schatz, den der Bund der Korsaren derart schnell und mühelos bislang gehoben hatte.
Während sie hintereinander voranschritten, sagte Hasard: „Ich habe auch noch einen anderen Grund, warum ich sofort nach Havanna will.“
„Die ‚San Sebastian‘?“ fragte Roger.
„Ja. Ich will beobachten, was sich tut.“
Roger Lutz lachte leise. „Es tut sich gewiß einiges, wenn der Capitán de Mello mit seiner Galeone und dem gefangenen Gouverneur dort einläuft.“
„Eben das will ich nicht versäumen“, erwiderte der Seewolf. Dann schwiegen sie beide und marschierten im einsetzenden rötlichen Licht der Dämmerung nach Norden.
Luiz, der Mann von Formentera, war sicher: Entweder steckte ihm der andere ein Messer zwischen die Rippen, oder aber er erwürgte ihn. Luiz versuchte, sich zur Wehr zu setzen, doch der andere hatte ihn zu fest im Griff. Nur eins konnte Luiz noch tun – kräftig fluchen. Er verdammte Gott, die Welt, die Seefahrt und seine eigene Mutter, weil sie ihn geboren hatte. Was war das für ein Leben, wenn man so elendig krepierte?
Plötzlich ließ der andere Luiz jedoch los und stieß selbst eine saftige Verwünschung aus. Luiz fuhr herum – und erstarrte vor Überraschung.
„Mann!“ zischte er. „Du bist das?“
Der andere Kerl versuchte zu grinsen. Es mißlang. Es wurde nur eine schiefe Grimasse daraus:
„Ich und kein anderer“, erwiderte er. „Hölle, so ein Dreck.“
„Pablo“, sagte Luiz haßerfüllt. „Du blöder Hund hättest mich um ein Haar abgestochen.“ Er blickte auf das Messer in Pablos Hand.
Langsam ließ Pablo das Messer sinken. „Ich hab’ dich nicht erkannt. Pest noch mal, ich krieche schon ’ne ganze Weile in diesem elenden Dschungel herum. Ich dachte, du seist einer von denen.“
Luiz hätte sich am liebsten auf den Kerl gestürzt und ihn umgebracht.
Doch seine Wut und sein Haß verrauchten wieder. Er besann sich und gelangte zur Vernunft. Pablo war einer seiner Kumpane von der „Trinidad“. Zu zweit konnten sie sich vielleicht doch besser durchschlagen.
Luiz brummte etwas Unverständliches und rieb sich mit beiden Händen das Genick. Jetzt ließen die Schmerzen etwas nach.
„Was treibst du hier eigentlich?“ fragte er den anderen. „Was hast du vor?“
„Das weiß ich selber nicht“, entgegnete Pablo. Er war ein hagerer, dunkelblonder Kerl mit krummer Nase, kleinen Augen und schadhaften Zähnen. Cabral, der Decksälteste, hatte ihn immer als die häßlichste Ratte an Bord bezeichnet. Das stimmte. Pablo war nicht nur häßlich, er hatte auch etwas Rattenhaftes an sich. Er wirkte schwach, hatte aber erstaunliche Kräfte, wie er auch dieses Mal wieder bewiesen hatte.
„So“, sagte Luiz hämisch. „Das ist ja ’ne ganze Menge.“