Seewölfe - Piraten der Weltmeere 172. Fred McMason
Das ferne Ufer war flach, großsteinig und kahl. Die nahende Polregion ließ sich bereits überdeutlich ahnen.
In den dunkelgrauen, schnell dahinjagenden Wolken erschienen ab und zu kleine Punkte, die vom Himmel fielen, weit entfernt von dem Rahsegler in die See klatschten, nach einem Fisch schnappten und wieder auftauchten.
„Die haben vielleicht einen sonnigen Humor“, meinte der Profos und wies auf die Seevögel, deren Namen sie nicht kannten. „Wenn ich fliegen könnte, würde ich mich in den Süden verziehen und nicht den Bauch ins kalte Wasser hängen. Die Viecher sind doch ausgesprochen dämlich.“
Dan O’Flynn, der jetzt am Ruder stand und Pete Ballie abgelöst hatte, lachte leise.
„Wie sollen die denn in den Süden finden, wenn sie keine Seekarten und keinen Kompaß haben, Ed? Vielleicht gefällt es ihnen hier im kalten Wasser besser.“
„Quatsch! Die wissen nur nicht, daß es überhaupt einen Süden gibt, sonst wären sie längst abgehauen“, sagte Ed bestimmt.
„Ja, so wie Arwenack und Sir John, die haben es ebenfalls vorgezogen, unter Deck zu bleiben.“
Der kälteempfindliche Papagei hockte schon seit einigen Tagen ziemlich lustlos und aufgeplustert herum. Deshalb hatte ihn der Profos in den von Ferris Tucker gezimmerten Vogelkäfig gesperrt und ihn in die achtere Kammer gebracht.
Der Schimpanse dagegen hielt sich ebenfalls unter Deck auf, nur wußte keiner, wo er sich gerade befand. Mal erschien er beim Kutscher in der Kombüse, mal im Vordeck, dann wieder achtern, und ab und zu verirrte er sich ins Ruderhaus, aber wenn ihn da die Männer nicht verscheuchten, trieb ihn die Kälte wieder unter Deck.
Der Ausguck wurde jede halbe Stunde abgelöst. Bei dem eisigen Wind hielt es keiner lange in der luftigen Höhe aus.
Immer weiter segelte die „Isabella“ durch die Hudsonstraße, bis sie Baffin-Land rundete und wieder Nordkurs steuerte.
Der Wind wurde böig und noch kälter. Mitunter fiel er so hart ein, daß der schlanke Rahsegler hart überkrängte. Dan O’Flynn nutzte die Böen aus, so gut es ging.
„Wir kriegen verdammt hartes Wetter“, sagte er zu Carberry, der sich ebenfalls im Ruderhaus aufhielt. „Und weißt du, was das bedeutet, Ed?“
„Glaubst du, ich renne mit geschlossenen Augen an Deck herum, was, wie? Klar weiß ich das. Aber das geht vorerst nicht.“
„Weißt du wirklich, was ich meine?“
„Klar!“ schrie Ed. „Wir hätten schon früher daran denken sollen. Du meinst die Schlechtwettersegel. Die brauchen wir hier oben, wenn wir nicht wollen, daß die anderen davonfliegen. Ich werde mit Hasard reden, vielleicht können wir eine Bucht anlaufen, vielleicht aber hält er die anderen Segel gar nicht für nötig.“
Er ging über das stürmische Deck zur Segellast, wo der alte Will Thorne, der Segelmacher und älteste Mann an Bord, ein relativ warmes Plätzchen hatte.
Beim Eintritt sah Ed den Alten inmitten der Segelleinen, Taue, Persenninge und Segelkleider hocken. Über seinem Kopf pendelte eine Öllampe und spendete milchig-warmes Licht.
Carberry wunderte sich immer wieder über den ruhigen, grauhaarigen und besonnenen Mann. Wenn andere mal faulenzten, fand Will Thorne das ganz natürlich, daß sie sich ausruhten, aber er selbst brachte es nicht fertig. Er war einer von denen, die immer beschäftigt sein mußten, sonst fühlte er sich nicht wohl.
Daher gab es auf der „Isabella“ in der Last auch keine stickigen, modrigen und dumpf riechenden Segel. Bei Will Thorne sah immer alles so aus, als wäre es frisch gewaschen.
Sie konnten froh sein, diesen Mann, dessen Existenz sich fast ausschließlich im Hintergrund abspielte, an Bord zu haben, denn der grauhaarige Mann verstand sich nicht nur aufs Segelmachen oder Schneidern, er war auch ein hervorragender Seemann.
Bei seinem Eintritt blickte Will hoch.
Der Profos kratzte sich sein unrasiertes Kinn. Es hörte sich wieder einmal so an, als schliche ein ganzer Hügel Ameisen knisternd davon.
„Will“, sagte er, „ich glaube, wir werden die Schwerwettersegel brauchen. Wie sieht es damit aus? Je höher wir nach Norden segeln, um so steifer und härter werden die anderen Segel. Es wird ja auch immer kälter.“
„Daran habe ich längst gedacht. Sie sind alle in den großen Segelsäcken verstaut, ich habe sie heute morgen kontrolliert. Wir haben sie seit langer Zeit nicht mehr gebraucht. Nur ab und zu haben wir sie zum Auslüften an Deck gebracht.“
„Ja, gut“, sagte Ed lahm. Er druckste herum, überlegte, kratzte sich wieder das Kinn und rang sich schließlich zu einem Entschluß durch.
„Du hast doch mal für Hasards Söhne Hosen und Jacken geschnitzt, äh, geschneidert oder genäht, meine ich. Weißt du noch?“
„Klar, auch für die anderen schon. Brauchen sie Kleidung?“
Carberry dachte daran, daß sie sich schon bald alle die Knochen in den Polarzonen abfrieren würden, und er dachte dabei mehr an die anderen als an sich selbst.
„Ich habe doch das Eisbärenfell, weißt du! Ich hatte es fast vergessen, aber ich erinnere mich jetzt wieder, daß ich es versprochen hatte, als wir die Flaschenpost fanden. Unter uns gesagt, Will: Es ist ein schweres, dikkes Fell und ganz weiß, aber ich glaube nicht, daß es von einem Eisbären stammt. Ich kann mir nicht vorstellen, daß es so große weiße Bären überhaupt gibt. Schon gar nicht hier, wo es so lausig kalt ist.“
„Hendrik Laas, der Däne, hat es aber gesagt, als er es dir damals schenkte.“
„Ja, schon, aber vielleicht hat er ein bißchen gemogelt mit den Eisbären. Egal, ob es nun welche gibt oder nicht, ich selbst zweifle ja daran, aber ich möchte dich um etwas bitten.“
„Ich weiß schon, was du willst, Profos.“
„Komisch, alle wissen immer schon, was ich will, und ich erfahre es meist als letzter“, sagte Ed. „Kannst du aus dem Fell für die beiden Rübenschweinchen nicht ein paar Klamotten nähen? Damit die Lausebengels nicht frieren, wenn sie mal an Deck gehen. Ich lasse es dir dann bringen, Will.“
„Natürlich kann ich das. Das Fell ist riesengroß, daraus lassen sich leicht zwei feine Kleidungsstücke nähen. Hosen und Jacken, und dann bleibt noch immer etwas übrig. Vielleicht eine Pelzmütze für Siri-Tong?“
„Das wäre sehr gut, Will. Ich bring dir dafür auch eine Flasche guten Karibik-Rum.“
„Darum geht es mir nicht, Profos. Aber wolltest du dir nicht selbst eine Hose aus dem Fell schneidern lassen? Für dich?“
„Mein Achtersteven hält Kälte aus“, versicherte Ed. „Der friert so schnell nicht an. Ja, dann hätte ich noch etwas. Du hast doch sicher alte Persenninge oder altes Segelleinen, das nicht unbedingt gebraucht wird, oder?“
„Ja, für alle möglichen Zwecke. Was willst du damit?“
„Damit könnten wir das Ruderhaus von innen auskleiden, damit der Wind nicht so durch die Ritzen pfeift und die Rudergänger es wärmer haben. Es wird noch so oder so lausig kalt.“
„Eine gute Idee“, sagte Will und stand auf. „Womit beginnen wir zuerst?“
„Mit dem Bärenfell.“
„Gut, mit dem Fell also. Und dann mit dem Ruderhaus.“
Der Profos grinste Will Thorne an, hieb ihm auf die Schulter und ging zurück. Etwas später brachte Bill das flauschige weiche Riesenfell zu Thorne, blieb gleich da und half ihm.
Unterdessen hatte der Profos wieder das Achterkastell geentert, wo Hasard stand und die See mit dem Kieker absuchte. Diesmal trug der Seewolf sein Hemd nicht mehr offen, denn hier oben pfiff und heulte der Wind noch stärker als unten an Deck. Über dem Hemd trug Hasard sein Lederwams und darüber eine schwere Jacke.
„Ein ödes, trostloses Land“, sagte er