Seewölfe - Piraten der Weltmeere 355. Roy Palmer
sie auch wirklich sauber waren. Es war offensichtlich, daß sie bei diesem Mädchen Eindruck erwecken wollten.
Kein Wunder, Maureen war ganze zwanzig Jahre alt und zudem noch sehr hübsch. Dunkelblonde Haare umrahmten ihr schmales Gesichtsoval mit den sanft geschwungenen Wangenknochen, ihre blauen Augen waren klar und ausdrucksstark und kündeten von Intelligenz. Ein sinnlicher, empfindsamer Zug spielte um ihren Mund, ihr engelhaftes Aussehen und ihre ausgeprägte Weiblichkeit verfehlten ihre Wirkung auf die Männer nicht – auch Hasard vermochte sich dem nicht zu entziehen.
„Auf welche Art von Abenteuer haben Sie sich denn eingelassen?“ fragte er.
„Das Studium fremder, geheimnisvoller Krankheiten hat mich schon immer interessiert“, entgegnete Doc Pearson. „In Bristol habe ich viele Seefahrer behandelt, die am Sumpffieber, an der Ruhr und der Cholera litten, und ich war geradezu versessen darauf, mehr über die Ursache dieser Leiden in Erfahrung zu bringen. Ich habe spät geheiratet. Meine Frau starb an einer tückischen Krankheit, als Michael und Maureen noch kleine Kinder waren. In den darauffolgenden Jahren reifte in mir der Entschluß heran, in die Neue Welt zu reisen und meine Forschungen zu betreiben. Ich hatte keine Verwandten, deren Obhut ich meine Kinder überlassen konnte, deshalb wartete ich, bis sie groß genug waren. Eines Tages schifften wir uns an Bord einer dreimastigen Galeone ein, die von Bristol aus mit dem Ziel Karibik in See ging.“
Er legte eine kurze Pause ein und strich sich mit der Hand über das zerfurchte Gesicht. „Viel zu spät stellten wir fest, daß es sich um einen richtigen Seelenverkäufer handelte. Galgenstricke, Glücksritter und Abenteurer befanden sich an Bord. Während der Überquerung des Atlantiks gab es einen Versuch der Meuterei, und der Kapitän ließ fünf Männer kurzerhand hängen. Zwei andere starben in einem Handgemenge, das in dem überfüllten Unterdeck ausbrach, weitere drei erlagen dem Skorbut und dem Gelbfieber. Ich war machtlos.“
„Maureen war ständig irgendwelchen Belästigungen ausgesetzt“, fügte Michael Pearson hinzu. „Ein ganz übler Kerl wollte sie eines Nachts überrumpeln und sich an ihr vergehen. Ich griff ein und schlug ihn nieder, aber seine Kumpane wollten mich töten. Zum Glück erschien der Kapitän und hinderte sie daran.“
„Wir erreichten die Karibik mehr tot als lebendig“, sagte Doc Pearson. „Dann gerieten wir in einen Sturm, und das Schiff sank mit Mann und Maus. Wir gehörten zu den wenigen Überlebenden und klammerten uns an Schiffstrümmern fest, die in der See trieben. Dann folgte die Bedrohung durch die Haie. Wir glaubten, wir seien verloren.“
„Ja, wir können froh sein, daß wir überhaupt noch am Leben sind“, sagte seine Tochter. „Es war wie ein Wunder: Wir sahen die Dreiecksflossen der Haie, sie hatten uns schon eingekreist. Doch dann tauchten kleine Segelboote auf – Eingeborene. Sie retteten uns buchstäblich im letzten Augenblick.“
„Sie fischten uns auf und brachten uns nach Kuba“, fuhr ihr Vater fort. „Erst jetzt begriffen wir, daß wir nur wenige Meilen von der Küste der Insel entfernt Schiffbruch erlitten hatten.“
Hasard stellte rasch eine Zwischenfrage: „Wann war das?“
„Vor knapp einem Jahr“, erwiderte Doc Pearson. „Die Eingeborenen nahmen uns in ihrem Dorf auf, ihre Gastfreundschaft kannte keine Grenzen. Es handelte sich um einen winzigen Stamm, der vorher – so unglaublich es klingt – noch keine Berührung mit Weißen gehabt hatte.“
Ben Brighton nickte und sagte: „Doch, so was gibt es. Folglich waren diese Indios auch noch nicht voreingenommen.“
„Kritisch wurde es erst, als die beiden Kerle, die sich mit uns hatten retten können, frech und aufsässig wurden“, erklärte der Arzt. „Sie versuchten, ein Eingeborenenmädchen aus dem Dorf zu verschleppen, wurden aber gestellt. Es gab ein Handgemenge, bei dem der eine von unseren Begleitern getötet wurde. Dem anderen gelang die Flucht in den Dschungel, aber später fanden die Indios auch ihn – ebenfalls tot.“
„War er von einer Schlange gebissen worden?“ fragte Hasard. Doc Pearson bestätigte es, und Hasard sagte: „Wir haben auch einige Urwald-Erfahrung. Änderte sich das Verhältnis zwischen den Eingeborenen und Ihnen nach diesem Zwischenfall?“
„Einige jüngere Männer verlangten, wir sollten das Dorf unverzüglich verlassen“, erwiderte Doc Pearson. „Aber der Häuptling setzte sich durch. Er hatte Freundschaft mit uns geschlossen und begriff, daß wir mit den Machenschaften der beiden Galgenstricke nichts zu tun gehabt hatten. Wir durften also bleiben und wurden auch weiterhin mehr als zuvorkommend behandelt. Es gelang mir, den Sohn des Häuptlings von einer gefährlichen Krankheit zu heilen, und fortan war die Verbundenheit dieser einfachen Menschen größer als zuvor. Aber ich will mich kürzer fassen, die vielen Details langweilen Sie sicherlich nur.“
Die Seewölfe horchten jedoch auf. „Um welche Art von Krankheit handelte es sich denn?“ fragte Ferris Tucker. „Etwa um das Sumpffieber?“
„Nein“, erwiderte Doc Pearson. „Es war – um es simpel auszudrücken – eine schlimme Entzündung. Nichts Ansteckendes, aber die Ursache war den Indios nicht bekannt. Ich hatte mich inzwischen aber eingehend mit dem Studium der Dschungelpflanzen befaßt und vermochte einen Kräuterextrakt zuzubereiten, der das hohe Fieber des armen Teufels innerhalb einer Woche linderte. Dann trat die endgültige Genesung ein.“
Hasard erhob sich. „Gregory – Sie haben vorhin zu mir gesagt, Sie wüßten nicht, wie Sie sich für unsere Hilfe revanchieren könnten. Ich erwarte keinerlei Gegenleistung von Ihnen, das entspricht nicht meinen Prinzipien. Aber es gibt Menschen, denen Sie vielleicht helfen können – einen ganzen Stamm von Indianern.“
„Die Indianer, die sich an Bord befinden?“ fragte Doc Pearson.
„Nein, aber es sind ebenfalls Timucua-Indianer. Sie warten auf einer Galeone in einem Versteck am Mississippi-Delta auf uns. Ihretwegen sind wir dorthin unterwegs.“
Pearson blickte zu Ferris Tucker. „Sie haben eben das Sumpffieber erwähnt. Sind die Timucuas etwa daran erkrankt?“
„Ja“, sagte der rothaarige Riese.
„Bis heute kennt die Wissenschaft kein wirksames Mittel gegen das Sumpf- oder Wechselfieber“, sagte der Arzt. „Aber ich könnte ein Experiment vornehmen, falls die Indianer einverstanden sind. Durch Zufall bin ich auf Kuba in den Besitz einer seltenen, kaum bekannten Rinde gelangt, aus der man einen Sud bereiten kann, der möglicherweise die Rettung bringt. Ich habe jedoch noch keine Gelegenheit gefunden, etwas Derartiges auszuprobieren.“
„Wo befindet sich diese Rinde?“ fragte der Seewolf mit wachsender Spannung.
„Ich trage sie bei mir“, erwiderte Doc Pearson. „Hier, in meiner Jacke, eingenäht im Futter. Die Spanier haben uns durchsucht, aber auf mein Geheimversteck sind sie nicht gestoßen.“ Er begann, an seiner Jacke herumzunesteln. „Es ist die Chinarinde, sie wird auch Cinchona genannt.“
Zur selben Stunde segelte gut hundert Seemeilen östlich der Position, auf der sich die „Isabella IX.“ befand, ein weitaus kleineres Schiff ebenfalls auf nördlichem Kurs zur Mündung des Mississippi. Aber die Beweggründe, die die fast dreißigköpfige Besatzung zu ihrem Ziel trieben, waren ganz anderer Art als die des Seewolfes. Sie beruhten nicht auf Hilfsbereitschaft und Edelmut, sondern auf Haß, Rachsucht und der Gier nach viel Gold.
Mardengo stand neben Duvalier auf dem Achterdeck der lateinergetakelten Zweimastkaravelle. Sein Blick glitt immer wieder über die Decks und über das Rigg. Insgeheim fühlte er sich bereits als der Eigner und Kapitän, obwohl es Duvalier war, der mit seinen Kerlen das Schiff gekapert hatte.
Duvalier indessen fieberte dem Augenblick entgegen, in dem er Mardengo und Oka Mama die Schatztruhe entreißen würde, die diese von der Insel Pirates’ Cove mitgenommen hatten. Als Oka Mama einmal kurz den Deckel angehoben hatte, war es Duvalier gelungen, rasch einen Blick hineinzuwerfen.
Gold!
Die Truhe war bis zu ihrem Rand damit gefüllt. Keiner hatte diesen sorgsam versteckten Schatz auf der Insel gefunden, weder die Seewölfe noch die Spanier. Okachobee, Mardengos Mutter, die von allen nur Oka Mama genannt wurde, hütete