Seewölfe - Piraten der Weltmeere 257. Davis J.Harbord

Seewölfe - Piraten der Weltmeere 257 - Davis J.Harbord


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langen Hälsen und hungrigen Augen, genau wie seine eigenen Söhne damals, wenn sie auf den Gänsebraten ihrer Mutter spitzten.

      Wie damals!

      Old O’Flynn dachte, wo sind die anderen sechs Söhne geblieben? Er wußte es nicht. Einer nach dem anderen war aus dem Haus gegangen, das sie unten am Hafen von Falmouth bewohnt hatten. Zuletzt war Dan verschwunden. Nur Gwen war geblieben.

      Der Alte seufzte und strich sich über das silbergraue Haar.

      Hasard, vorn an der Schmuckbalustrade, drehte sich erstaunt zu ihm um.

      „Hast du Sorgen, Old Donegal?“ fragte er lächelnd. „Oder hat dein Magen geseufzt? Ich meine, wegen des Gänsebratens.“

      „Hab ein bißchen nachgedacht“, brummte Old O’Flynn.

      „Und über was?“

      Old O’Flynn schaute zu dem Riesen mit den eisblauen Augen hoch. Sein verwittertes, lederhäutiges Gesicht hatte einen seltsamen weichen Zug.

      „Damals in Falmouth, als noch alle O’Flynns am Tisch beisammen waren – zehn O’Flynns –, da gab’s auch mal Gänsebraten. Bernice, meine Frau, bereitete ihn zu …“

      Dan O’Flynn fuhr herum, lächelnd und mit blitzenden Augen. „Ja, genau – und mit Äpfeln gefüllt! Und später gab’s Schmalz! Mann, haben wir reingehauen, da blieben nur noch die Knochen übrig. Ich weiß noch, ich kriegte immer ein Beinchen – und Gwen kriegte das andere …“ Dan verstummte, ein Schatten huschte über sein braungebranntes scharfgeschnittenes Gesicht. Auch seine hellen Augen verdunkelten sich.

      „Ja, Gwen“, sagte Philip Hasard Killigrew leise und drehte sich wieder zur Schmuckbalustrade um, die das Achterdeck zur Kuhl abgrenzte. Auch seine Augen suchten die Söhne – die Söhne Gwens und von ihm. Mein Gott, wenn Gwen sie jetzt sehen könnte, die beiden Kerlchen!

      Und da war wieder der alte Schmerz um die verlorene Frau, die niemand ersetzen konnte – auch keine Siri-Tong. Nichts hatte die Zeit geheilt, gar nichts. Der Schmerz blieb, genau wie bei Old Donegal und Dan, die es eben wieder gezeigt hatten.

      Gewaltsam befreite sich Hasard von den Gedanken an die Vergangenheit. Seine Überlegungen kehrten zurück zu jenem Problem, über das er schon seit Stunden nachgegrübelt hatte. Aber etwas Gescheites war ihm nicht eingefallen.

      Fast schroff drehte er sich zu Dan O’Flynn um, der sich wieder mit der Nilkarte beschäftigte.

      „Dan!“

      „Ja?“ Dan schaute auf und blickte ihn an.

      „Sag mal, ist dir in der letzten Zeit überhaupt nichts aufgefallen?“

      „In welcher Beziehung?“ lautete Dans Gegenfrage.

      Fast scharf erwiderte Hasard: „Du hast doch Augen im Kopf, sogar die besten hier an Bord. Vor etwa einem Monat sind wir diese Strecke nilaufwärts gesegelt. Damals hatte ich mir mehr aus Zufall ein paar Quader betrachtet, die am Ufer von Luxor aus dem Wasser ragten und wahrscheinlich ganz früher einmal zu einer Art Pier gehörten. Heute früh sind wir an ihnen vorbeigetrieben. Und da ist mir etwas aufgefallen, was ich unbewußt eigentlich schon seit Tagen registriere. Weißt du jetzt, was ich meine?“

      „Bin ich Gedankenleser?“ fragte Dan etwas gereizt.

      „Nein, bist du nicht, aber aufpassen solltest du. Diese verdammten Quader haben für mich die Funktion eines Pegels …“

      „Ach so“, unterbrach ihn Dan, „das meinst du. Ja, es ist mir auch aufgefallen. Der Nil hat nahezu denselben Wasserstand wie vor einem Monat, nicht wahr?“

      Hasard seufzte. „Na also. Und was hat unser Freund, der Hafenbeamte in Kairo, Othman Mustafa Ashmun gesagt? Er hat gesagt, jetzt um diese Zeit begänne der Nil mehr Wasser zu führen. Diese Quader bei Luxor aber ragen immer noch etwa anderthalb Fuß aus dem Wasser, genau wie vor einem Monat. Da hat sich überhaupt nichts verändert. Begreifst du das?“

      „Nein.“ Dan schüttelte den Kopf. „Mir ist das nur an ein paar anderen Stellen aufgefallen, die ich mir beim Flußaufsegeln gemerkt hatte. Gewundert hab’ ich mich im stillen auch schon.“ Dan starrte nachdenklich zum Ostufer. „Wenn ich den Faden noch weiter spinne, dürfte es nahezu unmöglich sein, in der nächsten Zeit den legendären Kanal der Pharaonen zu befahren. Wenn der Nil kein Hochwasser führt, dann gilt das ebenso für diesen Kanal. Die nächste Frage lautet, ob das Rote Meer tatsächlich hinter der östlichen Wüste dort drüben liegt, oder ob das nur Phantastereien sind.“

      „Hm“, brummte Hasard, „zumindest das könnte man feststellen.“

      „Wie das?“ fragte Dan verblüfft.

      Hasard wich aus. „Mal sehen“, sagte er orakelhaft.

      Er sprach deswegen nicht weiter, weil Carberrys dröhnende Stimme verkündete, daß jetzt „Backen und Banken“ sei und die sehr ehrenwerten Gentlemen, die Faulenzer und Schnarchsäcke, die Rübenschweine und kalfaterten Kanalratten zu je vier Mann „eine gebratene Schnattertante“ an der Kombüse fassen könnten.

      „Nur nicht drängeln!“ röhrte er. „Und wer mir von euch Filzläusen das Deck mit Schnattertantenfett verunziert, dem blas ich den großen Dudelsackmarsch!“

      „Und wie geht der?“ fragte Blacky grinsend.

      „Der geht nicht“, sagte der Profos grollend, „der pfeift wie hundert Windsbräute. Und wenn die dich küssen, meinst du, die Trompeten von Jericho zu hören. Spätestens dann ist dein Hals um den Kopf gewickelt und mit einem Stopperknoten versehen. Ist das klar?“

      „Völlig“, murmelte Blacky beeindruckt und versuchte sich vorzustellen, wie das wohl ausschauen mochte, was der Profos soeben verkündet hatte. Und dann noch mit Stopperknoten!

      Jedenfalls war mal wieder Stimmung an Deck, teils wegen des „großen Dudelsackmarsches“, teils weil der Kutscher vom Kombüsenschott aus eine jeweils sauber tranchierte „Schnattertante“ an die Backschafter ausgab. Die Vögel ruhten auf länglichen Holzkummen, drapiert mit Fladenbrot – und gebratenen Äpfeln!

      Old O’Flynn stöhnte herzerweichend. Bratäpfel! Die hatte Bernice ebenfalls ihrem Gänsebraten beigegeben. Heiliger Patrick! Der Kutscher war eine richtige Bernice. Und da war zwar auch wieder der Schmerz der Erinnerung, aber es war wie damals, wenn die O’Flynns ans Vertilgen gingen. Nur fielen über diese Gans, die Philip junior aufs Achterdeck brachte, jetzt vier her: Old Donegal, Dan und die beiden Zwillinge. Und Dan kriegte sein „Beinchen“.

      Merkwürdig. Old Donegal Daniel O’Flynn rollten zwei Tränen über die lederhäutigen Wangen. Er wischte sie schnell weg, aber Hasard und Philip junior hatten sie dennoch bemerkt.

      „Du freust dich, daß wir bald heimkehren, nicht wahr?“ fragte Hasard junior leise.

      „So ist es“, sagte Old O’Flynn. Und er dachte dabei an Bernice, um deren Grab er sich kümmern mußte. Sicher war es völlig verwildert. Er würde es wieder in Ordnung bringen – und dann würde er ihr von dem Gänsebraten des Kutschers erzählen, den sie hier, irgendwo auf dem Nil, verspeist hatten – Dan, die beiden Enkel und er. Wie damals die zehn O’Flynns …

      2.

      Am Nachmittag dieses selben Tages schreckten sie alle hoch, als die Stimme ihres Kapitäns über die Decks schallte und befahl, den Anker zu werfen.

      Den fuhren sie, seit sie sich nilabwärts treiben ließen, achtern, und zwar aus Zweckmäßigkeitsgründen, und weil sie es bei den anderen Nilseglern abgeschaut hatten. Die ankerten nämlich bei der Talfahrt einfach über den Achtersteven. Dann lagen sie beim Ankeraufgehen gleich in Fahrtrichtung und ersparten sich ein Drehen im Strom. Außerdem konnte man bei der Talfahrt, falls vor einem ein unerwartetes Hindernis auftauchte, mit dem nach achtern ausgeworfenen Anker sofort die Fahrt stoppen, ohne erst weit herumschwojen zu müssen.

      Da sie die Ankertrosse nicht einrucken ließen, sondern über das vordere Spill


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