Die Versuchung des Elias Holl. Axel Gora
sunt servanda12. Das gilt für mich und für Euch auch!«
»Ihr verzeiht mir, wenn ich jetzt gehe? Ich brenne, Euch meine Lösung zu präsentieren!«
»Geht, Holl, geht! Und präsentiert mir! Ich bin gespannt!«
Ich trat aus der Tür und eilte durch den Schnee über den leeren Obstmarkt direkt nach dem Neuen Bau. Dort meinen Zollstock und einen Bogen Pergament aus der Poliernische geholt, machte ich Hans’ neugierigen Fragen eine hoffnungsträchtige Andeutung, und strebte geradewegs zum Perlachturm.
Niemals zuvor war ich fiebernder die engen und niedrigen Stufen bis nach oben unter den Dachstuhl geeilt. Es lag auf der Hand, dass nur hier und nirgendwo anders der neue ehrenvolle Hort der Ratsglocke sein konnte. Nachdem ich die Maße der Höhen, Breiten und Tiefen, die Stärken von Wänden und Balken abgenommen hatte, fertigte ich noch oben im Dachstuhl bei eisigen Graden mit meinem Silberstift, den ich stets bei mir trug, eine Skizze an; sie würde mir neben alten Zeichnungen im Atelier für die neue Visierung dienen. Der Perlachturm barg bereits die Sturmglocke, für die Ratsglocke samt Schlagwerk war kein Platz. Beide Glocken waren aber vonnöten, so blieb mir nur, den Turm zu erhöhen. Ich musste ihm ein neues, zusätzliches Stockwerk aufmauern – eigens für die Ratsglocke! Mindestens zwanzig Schuh hoch musste es sein und würde mit einem gefälligen Kuppeldach abschließen. Das vertrug sich bestens mit Remboldts Wunsch nach mehr Erhabenheit Augsburgs; der Perlachturm würde mit einer erneuten Aufstockung über sich hinauswachsen und noch mehr Größe und Würde ausstrahlen. Die Wandstärke jedoch, die mir als Fundament für den Aufbau dienen musste, betrug nur fünfzehn Zoll13; wenig für ein massives und offenes Glockenhaus, dass das ›akustische Machtsymbol‹ für alle Zeit beherbergen sollte, doch es musste reichen.
Als ich den Perlachturm verließ, dämmerte es bereits. Ich ging geradewegs nach Hause, um mich an die Visierung zu machen. Am Eingang zum Atelier im Hinterhof unseres Hauses, die Klinke bereits in der Hand, blieb ich stehen. Sollte ich vorher noch hoch gehen und nach Rosina schauen? Ich rieb mir das Kinn. Die Zeit drängte. Adelgund war ja bei ihr. In Gedanken an Rosina bekreuzigte ich mich und trat ein.
Das Atelier war ausgekühlt. Im Ofen schwelte nur noch ein Rest Glut. Ich warf ein paar Späne ein, die sogleich entflammten, und legte neue Buchenscheite auf. Mit großen Decken verhängte ich die Fenster und legte eine zusammengerollt gegen den Türspalt; die Kälte kroch durch alle Ritzen.
Auf dem Zeichentisch entzündete ich sämtliche Kerzen – zwölf an der Zahl, in einem elliptischen Bogen von den Stirnseiten über die hintere Längsseite angeordnet – und zog alte Risse und Visierungen des Perlachturms aus dem Kartenregal. Diese als Vorlage hergenommen, zeichnete ich zwei Dutzend Entwürfe des neuen Glockenhauses. Das erste Dutzend verwarf ich komplett; nichts davon gefiel mir, noch zu sehr war ich der alten Form des Turms verhaftet. Ich musste Neues wagen, musste mich loslösen vom Althergebrachten; doch mir war auch bewusst, allzu kühn durfte mein Gestalten nicht sein, zu leicht wären konservative Räte vor die Stirn geschlagen und mir der Auftrag abgelehnt. Die ersten Entwürfe des zweiten Dutzends waren mir schon eingängiger, ich orientierte mich an Konstruktionen von Türmen, die ich bereits erbaut hatte, wie den der Sankt Anna Kirche oder den des Wertachbrucker Tors. Die letzten drei Entwürfe brachten dann die Ergebnisse hervor, die mein Gemüt erhellten und von denen ich überzeugt war, einer hiervon fände den einmütigen Anklang des Rates. Diese drei unterschieden sich nur noch in Details; ich legte mich fest auf einen achteckigen Grundriss mit dorischen Säulen.
Die zahlreichen Skizzen, einschließlich der Visierung, die den besten Entwurf zeichnerisch exakt darstellte, hatten mich Stunden gekostet. Die Uhr schlug bereits Mitternacht. Ich war müde, doch an Schlaf war jetzt nicht zu denken; mit der Visierung war es nicht getan. Sie war wohl recht hübsch anzusehen und würde die Ratsherren bestimmt überzeugen, mir aber noch nicht den Zuschlag für den Neubau garantieren. Das eigentliche Problem musste ich jetzt angehen: Wie löste ich es technisch, die Glocke von A nach B zu transportieren, sie vom alten Rathausturm abzunehmen und im neuen Obergeschoss des Perlachturms aufzuhängen? Wir hatten es bei der Glocke mit einem echten Koloss zu tun. Ich musste ein Gerüst für ein Zugwerk konstruieren, das dieser Aufgabe gerecht wurde. Ich zeichnete von neuem.
Als die Uhr fünf in der Früh schlug, hatte ich den letzten Zeichenstrich getan. Die Konstruktion des Gerüstes aus Eichenhölzern, verstärkt mit eingeblatteten Fuß- und Kopfbändern, würde die Aufgabe erfüllen. Ich hatte die Hölzer so großzügig dimensioniert, dass ich Gefahr ausschließen konnte – nicht auszudenken, wenn das Gerüst unter der Last der Glocke zusammenbräche und Umstehende erschlüge. Elias, dachte ich, denke nicht so etwas; schon Vater hatte mir, wenn ich Skepsis am Erfolg eines Vorhabens hegte, gesagt: »Der Zweifel vergiftet das Gemüt und sitzt dem Gelingen wie ein Alb im Nacken. Darum zweifle nicht!«
»Wenn es dennoch scheitert?«
»Dann hast du dich verschätzt, vertan, verrechnet, getäuscht. Das ist lediglich ein Zeichen, beim nächsten Mal besonnener zu sein und alles noch einmal zu prüfen, hörst du?«
»Aber ist es nicht der Zweifel, der mich alles wieder und wieder prüfen lässt, bis ich dem Vorhaben traue und ans Werk gehe?«
»Nein, es ist nicht der Zweifel. Es ist die Erfahrung!«
Auf weitere Diskussionen hatte Vater sich niemals eingelassen. Bis dato hatte ich seiner Meinung nie ganz zustimmen können. Obwohl ich weiß Gott über Erfahrung verfügte, ein schmaler Spalt Zweifel klaffte stets zwischen Hoffnung und Glauben.
Ich rollte Gerüst- und Glockenhausentwurf zusammen, steckte beide – mit ein paar verworfenen – in meinen Umhängeköcher, blies alle Kerzen aus, zog mir Winterrock und Mütze über und machte mich auf den Weg zu Remboldt. Es war halb sechs in der Früh und noch dunkel; zu Bett zu gehen lohnte sich nicht mehr, ich bekäme ohnehin vor Ungeduld kein Auge zu. Remboldt, so hoffte ich, würde wohl kein Langschläfer sein.
Wenig später klopfte ich an sein Tor. Mehrmals musste ich das tun und immer lauter, bis mir unter mäkelnden Worten Remboldts Haushilfe öffnete. Was um Himmels Willen in den Stadtwerkmeister gefahren sei, um diese Zeit Einlass zu erbitten? Es sei wichtig und dringend, gab ich ihr Bescheid und scheuchte sie, den Hausherren zu wecken: »Sag ihm, ich will ihm die Lösung präsentieren! Schick dich, dein Herr erwartet mich!«
Zwei Glockenschläge – eine geschlagene halbe Stunde – ließ Remboldt mich warten, bis er mich geschniegelt und parfümiert empfing. Angesäuert, dass er mich so lange hatte warten lassen, wo es mir doch glutheiß auf den Nägeln brannte, begrüßte ich ihn schnodderig: »Oh, im Talar, der Herr Stadtpfleger? Das hätte meinetwegen nicht Not getan.«
»Gemach, Holl. Euretwegen ist es nicht. Um acht ist Ratssitzung. Aber, was ist mit Euch? Wie seht Ihr aus? Ihr habt Ringe unter den Augen und Euer Haar steht wirr. Schickt sich das für den Stadtwerkmeister?«
Dass ich, die ganze Nacht durchgearbeitet, nichts gegessen, nichts getrunken, ihm wohl keinen erbaulichen Anblick, stattdessen einen starken Kontrast zu seinem herausgeputzten Ich in Amtstracht bot, spiegelte sich in seinem Gesicht. Als Zugeständnis fuhr ich mir zweimal durchs Haar, was nicht sehr ersprießlich sein mochte.
»Ich sehe aus, wie halt einer aussieht, den der Schlaf nicht holen kann, weil ihn der Erfindergeist umtreibt!«
Anders als er, der wohl in der Bettstatt selig geschnarcht und gefurzt hatte, hatte ich gearbeitet.
»Ihr könnt’s halt nicht lassen, Holl. Euch genügt’s nicht, von einer Idee eingenommen zu sein, sie beherrscht Euch geradezu, im wahrsten Sinne des Wortes, mit Haut und Haar.«
»So ist’s. Und ich bin nicht Gram darüber. Nur so lässt sich wahrhaft Großes leisten. Und dann schickt es sich auch für den Stadtwerkmeister, mal nicht wie aus dem Ei gepellt zu erscheinen.«
»Solange es Eure Arbeit ist und nicht Luzifer oder Weibervolk, die von Euch derart Besitz ergreifen, lass ich’s mir eingehen. Das nächste Mal dürft Ihr trotzdem ein wenig an Euch halten und mich wenigstens eine Stunde später aufsuchen.«
Remboldt