Seewölfe - Piraten der Weltmeere 374. Roy Palmer
schob ihr eine Hand unters Kinn und nahm sie mit, indem er mit der freien Hand kräftig ruderte. Er handelte nicht aus Menschlichkeit, sondern weil er sich davon etwas versprach. So weit hatten sie Mariana nun schon mitgeschleppt – jetzt wollte er auch seinen Spaß mit ihr haben.
Das Riff, das sich vor der Nordküste der Insel Cruz erstreckte, nahm den Sturmbrechern etwas von ihrer Kraft und ihrem Ungestüm. Auf offener See wären Hector, Ubaldo und Saint-Laurent vermutlich ertrunken. Hier aber hatten sie eine Chance. Sie kämpften ums Überleben und arbeiteten sich nach Süden zum Ufer der Insel vor, das sie anfangs nur vermuten konnten.
Dann aber stellte sich heraus, daß Hectors Vermutung richtig war: Eine donnernde Brandung warf sie auf den Sandstrand. Hector und Ubaldo blieben keuchend liegen. Hector richtete sich als erster wieder auf, drehte sich um und hielt nach Saint-Laurent und der Frau Ausschau.
Wenn sie abgesoffen sind, brauchen wir das Silber nur noch unter uns beiden aufzuteilen, dachte Hector und warf Ubaldo einen raschen Blick zu. Oder aber auch du verreckst, Amigo. Wer weint dir schon eine Träne nach.
Ubaldos Gedanken verliefen in ähnlicher Richtung. Doch ihre Erwartungen bezüglich Saint-Laurents und Marianas Schicksal erfüllten sich nicht. Die nächste Brandungswoge spülte auch die beiden an, und Saint-Laurent erhob sich grinsend vor ihnen, nachdem er sich zweimal auf dem Sand überrollt hatte.
„Na, wie haben wir das wieder hingekriegt?“ fragte er im Rauschen des Wassers und im Heulen des Windes.
„Beschissen!“ rief Hector. „Wir müssen das Silber von dem verdammten Kahn abbergen! Aber wie?“
„Das findet sich noch!“ schrie Ubaldo und deutete auf die reglose Frau. „Aber was ist mit ihr? Ist sie tot?“
Saint-Laurent beugte sich über Mariana und drehte sie auf den Rücken. Er befreite sie von dem Seewasser, das sie geschluckt hatte. Es schienen einige Gallonen zu sein. Hector und Ubaldo sahen wie gebannt auf die Frau. Ihr ohnehin schon kurzes und enges, tief ausgeschnittenes Kleid klebte ihr durch die Nässe wie eine zweite Haut am Leib. Sie wirkte nackt, und ihre Brüste zeichneten sich wie Hügel gegen den Sand ab.
Sie kam zu sich und rieb sich mit den Fingerspitzen die Schläfe.
„Was ist geschehen?“ fragte sie verdattert.
Saint-Laurent grinste sie an. „Das erzähle ich dir später. Laß uns erst mal ein Stück laufen. Wie ich Hector kenne, hat er vor, die Insel gleich zu erforschen.“
In der Tat strebte Hector bereits dem Inseldschungel zu. Ubaldo folgte ihm. Saint-Laurent und Mariana schlossen sich ihnen an. Hector war der Führer des Trios – er war es von Anfang an gewesen. Seine Idee war es gewesen, Catalina und den Schlupfwinkel im Stich zu lassen. Er hatte seinen Getreuen bedenkenlos den Befehl gegeben, die Kumpane umzubringen, genauso skrupellos hatte er sich auch Gros Piton vom Hals geschafft. Seine Befehle wurden akzeptiert. Bislang hatte er, wie es schien, den richtigen Kurs eingeschlagen, und Ubaldo und Saint-Laurent sahen keinen Grund, sich gegen ihn aufzulehnen. Schließlich waren sie dank des Silbers zu steinreichen Männern geworden.
Aber die Silberbarren mußten von dem Riff geborgen werden, bevor sie mit dem Wrack für alle Zeiten versanken. Die Zeit drängte – sie brauchten ein Boot, um ihr Vorhaben durchzuführen. War die Insel bewohnt?
Hector bahnte sich einen Weg durchs Dickicht. Nach einigen Schritten blieb er stehen und drehte sich zu den Kumpanen um.
„Es muß hier wenigstens ein paar Fischer geben“, sagte er. „Ich bin früher nur mal kurz hier gelandet, aber ich glaube, damals lagen ein paar Boote am Südufer. Sehr breit kann die Insel nicht sein.“
„Dann weiter“, sagte Ubaldo. „Ehe es dunkel wird, müssen wir eine Nußschale gefunden haben, und wenn der Sturm ein wenig nachläßt, können wir das Silber ohne allzu große Schwierigkeiten holen.“
Es war der 19. März, kurz nach der Mittagswende.
2.
Pedro Murena war durch keinen Sturm aus der Ruhe zu bringen. Wenn das Boot am Steg so vertäut war, daß es sich nicht losreißen konnte, und auch die zum Trocknen aufgehängten Netze entsprechend gesichert waren, brauchte er um nichts mehr zu bangen.
Die Hütte am Südufer der Insel Cruz war ein sicherer Zufluchtsort, in hundert Wettern erprobt. Sie wirkte zerbrechlich, war es aber nicht. Pedro hatte lange Zeit darauf verwendet, sie nach eigenen Plänen zu errichten. Sie war nach einem simplen, aber gescheiten Konzept konstruiert. Die Wände und das Dach waren durch nach allen Seiten verspannte Taue zusätzlich gegen Einsturz gesichert – wie die Masten eines Schiffes.
Luis, Pedros Sohn, wußte ebenfalls genau, wie er sich zu verhalten hatte, wenn ein Sturm nahte, sowohl auf See als auch an Land. Er brauchte nicht zu fragen, was er zu tun hatte. Jeder Handgriff saß, alle Maßnahmen wurden praktisch im Handumdrehen getroffen. Luis war vierzehn Jahre alt, und sein Vater war sehr stolz auf ihn.
Portugiesen waren sie, seit zehn Jahren schon in der Karibik ansässig. Luis’ Mutter war bei der Überfahrt an Bord der Auswanderer-Galeone an der Ruhr gestorben. Auch Luis wäre fast ums Leben gekommen, doch die Ausdauer seines Vaters, der aufopfernd um ihn besorgt gewesen war, hatte sich ausgezahlt. Luis hatte der Krankheit getrotzt. Für Pedro war es ein Wunder des Himmels.
Einige Jahre lang hatte sich Pedro mehr schlecht als recht auf Kuba durchgeschlagen, dann hatte er das Geld zusammengekratzt, von dem er sein erstes bescheidenes Boot gekauft hatte. Ein paar glückliche Fänge hatten ihm zu einem größeren Boot verholfen, und Luis’ und seine Existenz als Fischer war gesichert gewesen.
Luis gefiel der Beruf. Pedro konnte ihn bereits allein mit dem Boot auslaufen lassen. Der Junge kannte alle Tricks seines Metiers und die Tücken der See, die er respektierte und stets richtig einschätzte.
Was Luis weitaus weniger schätzte, war, sich in Hafenkneipen herumzutreiben. Er verachtete Männer, die sich in Kaschemmen vollaufen ließen, spielten und herumhurten. Genauso zuwider war ihm, sich durch unredliche Machenschaften „nebenher etwas zu verdienen“, wie es viele Bewohner der Küste taten. Er hatte weder zum kleinen Schnapphahn noch zum Gauner das Zeug, er war eine durch und durch ehrliche Haut wie sein Vater. Und Pedro konnte wirklich sehr stolz auf ihn sein.
Schweigend saßen sie sich am Tisch gegenüber und lauschten dem Wüten des Sturmes. Ein Tonkrug stand auf dem Tisch. Hin und wieder füllte Pedro die Becher mit Wein. Es war ein leichter Wein, hell und klar wie Wasser. Luis trank schon mal zwei Becher davon, sein Vater zuweilen auch einen halben Krug.
„Der Wein tut dem Blut gut“, sagte Pedro. Das stimmte auch wirklich. Aber Vater und Sohn betranken sich nie. Ihr Handeln, ihr ganzes Leben wurde durch ihre ausgeprägten Instinkte bestimmt, die ihnen in jeder Situation eingaben, was richtig und falsch war. Und natürlich wußten sie auch genau, wo ihre Grenzen lagen.
Pedros Frau hatte ein ähnlich ausgeglichenes Gemüt gehabt, und sie drei hätten sehr gut zusammengepaßt. Das wußte Pedro, und wenn er gelegentlich darüber nachsann, fühlte er sich stark deprimiert. Dann versuchte er, die Erinnerung an Luis’ Mutter zu verdrängen. Er hatte sie sehr geliebt. Luis war damals noch zu klein gewesen, er konnte sich nur dunkel ihrer entsinnen.
„Morgen ist der Sturm vorbei“, sagte Pedro. „Dann fischen wir zwischen dem Riff und der Nordseite der Insel.“
Luis schaute auf. „Glaubst du, daß uns wieder so viele Zackenbarsche ins Netz gehen wie letztes Mal?“
„Sicher. Sie suchen Zuflucht südlich des Riffes. Aber wir werden auch Glück mit Umbern und Zahnfischen haben, denke ich.“
„Ja, und Makrelen und Sardinen fangen wir sowieso“, sagte Luis. „Die Hauptsache ist, daß uns nicht wieder ein paar Hummer ins Netz gehen, die mit ihren Scheren die Maschen zerschneiden.“ Plötzlich horchte er auf. „Hast du das gehört?“
„Nein. Was denn?“
„Stimmen.“ Luis stand auf. „Da sind Menschen. Ich sehe mal nach, was