Seewölfe - Piraten der Weltmeere 177. Kelly Kevin
Impressum
© 1976/2016 Pabel-Moewig Verlag KG,
Pabel ebook, Rastatt.
ISBN: 978-3-95439-665-8
Internet: www.vpm.de und E-Mail: [email protected]
Inhalt
1.
Die Luft erzitterte wie vom Heulen verdammter Seelen. Schräg peitschten Schneeflocken über die Decks der „Isabella“: ein mörderischer, blendend weißer Wirbel, der die Umgebung verschlang und jede Sicht nahm. Vom Achterkastell aus war kaum die Kuhl zu erkennen.
Pete Ballie, der Rudergänger, hatte seine ankerklüsengroßen Fäuste in dikken Fellhandschuhen verborgen, da ihm sonst die Finger an den Speichen des Rades festgefroren wären. Spiegelndes Eis überzog die Planken, Eis ließ die ausgespannten Manntaue glitzern. Der Sturm tobte und orgelte, schrillte in Wanten und Pardunen und steigerte sich zum Brüllen, als sei die Hölle selber aufgebrochen.
Auf dem Achterkastell hatte sich Philip Hasard Killigrew mit einem Tampen an der Schmuckballustrade festgelascht.
„Fier weg die Blinde!“ brüllte er gegen den Wind. „Geit die verdammte Fock auf, bevor sie in Fetzen geht! Tempo!“
„Tempo, ihr verlausten Eisbären!“ dröhnte Ed Carberrys Stimme von der Kuhl. „Smoky, Stenmark – ich zieh euch die Haut in Streifen ab, wenn ihr eure müden Knochen nicht etwas schneller bewegt. Ihr glaubt wohl, heute sei Weihnachten, was, wie?“
„Aye, aye!“ tönte es zweistimmig durch das Toben der Elemente.
Der eiserne Carberry hängte gleich noch ein paar Flüche an, weil sich das „Aye, aye“ seiner Meinung nach auf die Sache mit dem Weihnachtsfest bezog und weil es sich, verdammt und zugenäht, einfach nicht gehörte, mitten in einem eisigen Polarsturm den Profos zu verulken.
Inzwischen hatten sich Stenmark und Smoky an den Manntauen entlanggeangelt und die kleine Sturmfock aufgegeit.
Die „Isabella“ trieb vor Topp und Takel, doch das wäre ohnehinpassiert, sobald das spröde, vereiste Segeltuch den Winddruck nicht mehr ausgehalten hätte. Wirbelnder Schnee und kochender Gischt hüllten das Schiff ein.
Ab und zu erzitterte der Rumpf vom Stoß der Eisschollen, die sich knirschend und ächzend an den Bordwänden entlangschoben. Der Sturm nahm noch zu, rüttelte an den Masten und ließ die „Isabella“ immer wieder so schwer nach Backbord krängen, daß sie einen Alptraum von Zeit brauchte, um sich wieder aufzurichten.
Dan O’Flynn hing wie ein Klammeraffe in den Luvwanten des Fockmastes und versuchte, in dem weißen, wirbelnden Chaos etwas zu erkennen.
Der Sturm zerrte an ihm, durchdrang schneidend die dicke Fellkleidung und peitschte sein Gesicht, dessen Haut sich völlig taub anfühlte.
Dan dachte an Ferris Tuckers kostbaren Silberbarren-Ofen in der Mannschaftsmesse, aber dort konnte sich im Augenblick ohnehin niemand wärmen. Feuer im Schiff war das letzte, was sie bei diesem Höllensturm gebrauchen konnten. Obwohl der junge O’Flynn im Augenblick in einer Stimmung war, in der ein schönes heißes Feuer keinen Schrecken für ihn hatte.
„Wahrschau! Die Rah!“ brüllte jemand.
Batutis Löwenstimme.
Dan warf erschrocken den Kopf herum. Schattenhaft sah er, wie der schwarze Mann aus Gambia eine kleinere, dick vermummte Gestalt am Schlafittchen packte und zur Seite riß – Sekunden, bevor die Großmars-Rah auf die Kuhl krachte.
Auf der dünnen Eisschicht schlidderte sie nach Backbord, krachte gegen das Schanzkleid und wurde hochgeschleudert.
„Rettet sie!“ tönte Ferris Tuckers Stimme von irgendwoher. Und dann tauchte der rothaarige Schiffszimmermann selbst auf, ließ das Strecktau fahren und warf sich der Länge nach auf die Planken, um das kostbare Holz nicht über Bord gehen zu lassen.
Daß er dabei beinahe selbst über Bord gegangen wäre, wurde ihm erst klar, als Matt Davies ihn gerade noch mit seiner Hakenprothese erwischte.
„Wohl übergeschnappt, du rothaariger Affe!“ brüllte der Profos.
„Selber übergeschnappt, du Enkel einer Seekuh!“ schrie Ferris Tucker zurück.
Über das Heulen und Brausen des Sturms hinweg schnauzten sie sich an, daß es eine Pracht war. So richtig herzerwärmend! Falls es in diesem verdammten Norden außer Feuer und Rum etwas gab, das einem das Herz oder gar die Füße und den Rest der Anatomie wärmen konnte.
Zwei Glasen später knickte der Besanmast weg.
Wie ein gebrochener Arm hing er nach Backbord. Nur noch ein Knäuel von halb zerfetzten Wanten und Stagen verband ihn mit dem zersplitterten Stumpf. Unter normalen Umständen hätten sich die Männer mit Äxten und Entermessern auf das Tauwerk gestürzt, um den Mast über Bord gehen zu lassen. Aber auf einem Schiff, dessen Holzvorräte bis zum letzten Zahnstocher verbraucht waren, konnte von normalen Umständen nicht mehr die Rede sein.
Hasard löste blitzartig den Slipknoten, mit dem er sich an der Balustrade gesichert hatte.
Ferris Tucker schrie auf wie ein verwundeter Löwe und war schneller auf dem Achterkastell, als das irgend jemand für möglich gehalten hätte.
„Haltet ihn!“ brüllte er. „Wenn das Ding auf Tiefe geht, sind wir im Eimer! Himmelarsch, beeilt euch!“
Genau das war der Augenblick, in dem Dan O’Flynn an Backbord einen dunklen Schatten im Schneegestöber zu erkennen glaubte.
„Wahrschau!“ schrie er mit voller Lungenkraft. „Riff querab Back …“
Die letzte Silbe blieb ihm in der Kehle stecken.
Ein Ruck erschütterte das Schiff. Dumpfes Krachen und Knirschen mischte sich mit dem Heulen des Sturms. Eine unsichtbare Gigantenfaust packte die „Isabella“, schüttelte sie einmal kurz – und dann rührte sie sich nicht mehr von der Stelle.
Smoky, Stenmark und Batuti zappelten an den Manntauen.
Ferris Tucker umarmte den abgeknickten Besanmast. Ed Carberry war ausgerutscht und hielt sich am Fuß des Schiffszimmermanns fest. Und Hasard, der quer über das Achterkastell geschliddert war, knallte mit dem Bauch gegen das Backbord-Schanzkleid und gewann eine erstklassige Aussicht nach unten.
Schwarze Umrisse im Schneegestöber.
Riffe!
Scharf und unheildrohend ragten die Felszacken empor, von kochendem Gischt umgeben, mit schimmerndem Eis überzogen. Irgendein Zufall ließ die ganze Bescherung für Sekunden deutlich hervortreten. Dann fegte eine neue Sturmbö darüber hinweg und verhüllte alles