Seewölfe - Piraten der Weltmeere 177. Kelly Kevin
Gefahr mehr. Mitten im Heulen des Sturms waren sie im Augenblick geradezu paradiesisch sicher. Aber sie wußten nur zu gut, daß diese Sicherheit einen gewaltigen Pferdefuß hatte.
Ändern konnten sie es nicht.
Also bestand auch kein Grund, sich den heißen Rum nicht schmecken zu lassen. Die Zwillinge, die einträchtig in einer der Kojen kauerten, erhielten heißen Tee. Jedenfalls war heißer Tee in den Mucks gewesen, als der Seewolf begann, in pulvertrokkenem Tonfall die lange Liste der Schäden aufzuzählen.
Die Crew hörte gebannt zu.
Der Kutscher stellte seine halbvolle Muck ab, um mit der Kelle den ersten Nachschub aus dem Kessel zu schöpfen. Danach hatte der heiße Tee der Zwillinge schon ein wesentlich besseres Aroma. Und der Kutscher stellte fest, daß ihm der Schrecken wohl auf den Magen geschlagen sein mußte, da ihm der Rum plötzlich irgendwie labbrig schmeckte.
Da er immer wieder zur Kelle greifen mußte, wurde der heiße Tee der Zwillinge immer besser.
Vergnügt hörten sie ihrem Vater zu. Was der zu sagen hatte, bot zwar überhaupt keinen Anlaß zum Vergnügen, aber mit einem richtigen Männer-Tee im Magen sah die schnöde Welt gleich ganz anders aus.
„Das war’s“, schloß der Seewolf. „Mit Bordmitteln ist der Bruch nicht zu reparieren. Ohne Reparatur kommen wir hier nicht weg, selbst wenn es uns gelingt, das Riff zu sprengen. Was wir brauchen, ist entweder ein Wunder oder eine geniale Idee. Sonst bleibt uns nämlich nichts übrig, als hier eine königlich britische Kolonie zu gründen.“
Schweigen.
Niemand sah so aus, als ob er eine geniale Idee hätte. Ferris Tucker knirschte mit den Zähnen. Batuti, der hünenhafte Gambia-Neger, rollte die Augen. Ed Carberry stellte seine Muck ab, weil er beide Hände brauchte, um sich gleichzeitig das Haar zu raufen und das zernarbte Rammkinn zu kratzen. Und der heiße Tee der Zwillinge wurde wieder ein Stückchen besser.
Eine halbe Stunde später störten sie die Debatte durch unmelodische, aber beeindruckend laute Schnarchgeräusche.
Siri-Tong hörte es als erste und sah sich verblüfft um. Der Seewolf betrachtete mit gerunzelter Stirn die beiden Knirpse, die friedlich schlafend aneinanderlehnten. Hasard junior hielt noch die Muck in der Hand. Dem kleinen Philip mußte sie aus den Fingern geglitten sein. Es war der Profos, der den Becher aufhob. Er schnüffelte daran, furchte die Brauen, schnüffelte wieder und beugte sich dicht zu den beiden Schläfern hinunter.
Als er sich aufrichtete, zeigte sein Narbengesicht einen Ausdruck, als wisse er noch nicht so genau, ob er explodieren oder still in sich hineingrinsen solle.
„Sternhagelvoll“, stellte er fest.
Und dann starrte er überrascht den Gift und Galle spuckenden Kutscher an, dem plötzlich aufgegangen war, warum sein Rum so labbrig geschmeckt hatte.
2.
Gegen Morgen flaute der Sturm ab.
Immer noch knackte, knirschte und ächzte das Treibeis in der gefährlich hohen Dünung, doch der Himmel war blankgefegt und leuchtete in einem durchsichtigen Blaßblau. Eine dünne Eisschicht überzog Masten und Stagen der „Isabella“ und ließ sie in der Sonne wie ein Juwel glitzern. Soweit das Auge reichte, funkelte die Umgebung in einem fast schmerzhaften Glanz. Es war ein Bild von beeindruckender – und tödlicher Schönheit.
Der Seewolf setzte das Objektiv ab und reichte es an Ben Brighton weiter.
Auch der Bootsmann spähte durch das Fernglas zur zerklüfteten, tief verschneiten Küste hinüber. Der Schnee würde im Laufe des Tages schmelzen. Jetzt, während des kurzen Polarsommers, taute an Land sogar der Boden auf, wenn auch nur in den obersten Schichten. Ein Teil der Moose, Flechten und Kräuter, die hier wuchsen, waren eßbar. Sie beugten dem Skorbut vor, und sie halfen, die Vorräte an Zitronensaft zu strecken, den die „Isabella“ an Bord hatte.
Ben Brighton ließ das Spektiv sinken.
„Wir waren viel zu dicht unter Land“, sagte er in seiner ruhigen, manchmal etwas umständlichen Art.
„Darauf wäre ich nie gekommen“, knurrte Hasard erbittert. „Konnten wir das vielleicht sehen, he?“
„Nee“, sagte Ben Brighton. „In dem Schneesturm konnte man ja vom Achterkastell aus kaum das Vorschiff sehen.“
„Eben!“
Hasard preßte die Lippen zusammen und schnappte sich noch einmal das Spektiv. Das Bild blieb so trostlos wie vorher: eine weiße, völlig kahle Küste. An einer Stelle ragte ein länglicher Umriß aus der Schneedecke. Aber ein Baum war das nicht. Vor allem kein Baum, aus dem sich ein neues Ruderblatt oder gar ein Besanmast zimmern ließ.
Kunststück! Das einzige, was hier oben in begünstigten Lagen wuchs, waren Zwergbirken.
Auf Bäume würden sie erst wieder stoßen, wenn es ihnen endlich gelang, einen Weg nach Süden zu finden. Und wie sie den ohne Besanmast und mit zerschmetterter Ruderanlage finden sollten, stand noch in den Sternen.
Ferris Tucker war auf die Riffe abgeentert, um sich anzusehen, was von den Resten des Besanmastes vielleicht noch zu gebrauchen war.
Der Seewolf kaute an der Erkenntnis, daß ihnen als letzer Ausweg nur eine Expedition ins Landinnere bleiben würde. Sie mußten wissen, wo sie waren. Das Gebiet, das sie durchsegelt hatten, existierte weder auf englischen noch auf spanischen Seekarten. Aber vielleicht auf den alten chinesischen, die ihnen schon während ihrer Weltumseglung oft geholfen hatten.
Eine Viertelstunde später breitete Hasard vorsichtig das vergilbte, mit kunstvollen Linien, Schnörkeln und Schriftzeichen bedeckte Pergament auf dem Tisch in seiner Kammer aus.
Ben Brighton, Big Old Shane, Ed Carberry und die beiden O’Flynns sahen ihm zu. Siri-Tong beugte sich tief über die Karte und musterte aus schmalen Augen die verschlungenen Linien.
China.
Die Inselwelt des Pazifiks.
Nur grob und ungenau die Küsten der Neuen Welt – immer ungenauer, je weiter sich Siri-Tongs tastender Finger nach Norden bewegte. Hoch oben, am Rand der Karte, jenseits eines langgestreckten Inselbogens, stießen die Landmassen zweier Kontinente fast zusammen. Nur eine schmale Wasserstraße trennte sie. Die Linien endeten dort. Daß die Küsten nach Osten und Westen zurückwichen, ließ sich gerade noch erkennen. Und mit etwas Phantasie konnte man erahnen, daß sich nördlich der Passage eine weite Wasserfläche öffnete.
Hasard zog die Unterlippe zwischen die Zähne.
Einen Augenblick starrte er auf die Karte, dann zuckte er mit den Schultern. „Wenn die Küste so weiter verläuft, wie sie anfängt, müßten wir uns ungefähr hier befinden.“ Sein Finger tippte auf einen Punkt in der Maserung des Tisches. „Das heißt, daß wir den Durchbruch nach Süden binnen weniger Tage schaffen könnten.“
„Könnten“, betonte Dan O’Flynn.
„Nicht ohne Besan und Ruderblatt“, knurrte sein rauhbeiniger alter Vater und stampfte zur Bekräftigung mit dem Holzbein auf.
Ben Brighton kratzte sich am Kopf.
„Notfalls müssen wir eben mit den Segeln steuern“, meinte er trocken. „Oder ein paar Decksplanken opfern, um das Ruderblatt wenigstens notdürftig zu reparieren.“
„So werden wir auch gerade einen Sturm abreiten“, knurrte Old O’Flynn.
„Besser ein Risiko, als hier festzusitzen“, beharrte der Bootsmann. „Die andere Möglichkeit wäre, ins Landinnere zu marschieren, bis wir auf Bäume stoßen.“
„Und das kann ein verdammt langer Marsch werden“, ergänzte Hasard. „Aber in einen von den beiden sauren Äpfeln müssen wir beißen, da hilft nun mal nichts. Ich schlage vor, daß wir zunächst einmal die Küste erkunden und …“
Er brach ab.
Auf der Kuhl erklang