Seewölfe - Piraten der Weltmeere 102. Kelly Kevin
Kiel, mit ausgebreiteten Armen. Erst nach Minuten hob er mühsam den Kopf, starrte zu der ranken Galeone herüber und bewegte die Hand in einer matten Geste, die vermutlich ein Winken darstellen sollte.
Im Großmars spähte Dan O’Flynn angestrengt durch das auseinandergezogene Spektiv.
„He!“ schrie er so schrill, als sei er wieder in den Stimmbruch zurückgefallen. „Der sieht ja wie der leibhaftige Tod aus!“
„Willst du ihn deshalb absaufen lassen?“ fragte Hasard trocken. „Setzt Großsegel und Fock! Pete, du übernimmst …“
„Klar Ruder!“ meldete Pete Ballie, der längst seinen Platz eingenommen hatte und über beide Ohren grinste.
„An die Brassen und Fallen! Anluven! Und hoch mit dem Besan, Himmeldonnerwetter noch mal!“
Segeltuch entfaltete sich, begann sich träge unter dem kaum wahrnehmbaren Windhauch zu füllen. Die „Isabella“ schwang schwerfällig herum und erinnerte in diesen Sekunden wahrlich mehr an eine altersschwache Ente denn an einen stolzen Schwan. Aber immerhin: sie bewegte sich und glitt dem kieloben treibenden Boot entgegen.
Minuten später konnte auch Hasard den Mann genauer sehen, der sich an das Wrack klammerte – eine ausgemergelte, sonnenverbrannte Gestalt in zerfetzten Lumpen.
Sein Schädel war völlig kahl. Ein schmaler, knochiger Schädel, über dem die gelbliche Haut zu spannen schien, große, düster brennende Augen, ein verzerrter Mund, dessen Oberlippe von einer Narbe nach oben gezogen wurde, als blecke er ständig die Zähne. Knapp über der linken Schläfe klaffte eine handspannenlange, bereits vernarbende Wunde, die schmale, scharf gebogene Nase sprang vor wie ein Geierschnabel.
Dan O’Flynn hatte recht: der Bursche sah wirklich wie der leibhaftige Tod aus.
Aber er war ein Mensch und brauchte Hilfe.
Hasard schüttelte mit einer ungeduldigen Bewegung das unbehagliche Gefühl ab, das ihn beim Anblick des Schiffbrüchigen zu beschleichen drohte.
Ein paar Minuten später wurde auf der „Isabella“ das Beiboot abgefiert, weil der Bursche mit dem Totenkopf-Gesicht offenbar nicht mehr in der Lage war, aus eigenen Kräften an der Jakobsleiter aufzuentern.
Ferris Tucker und Stenmark hievten den Mann ins Boot. Die kieloben treibende Nußschale nahm Matt Davies mit seiner Hakenprothese in Schlepp. Der Kahn war zwar nur noch ein Wrack, aber noch hatten die Seewölfe keine Gelegenheit gehabt, die restlichen Boote der „Isabella“ zu überprüfen, und falls die Wasserhose größere Schäden angerichtet hatte, konnte man die Reste des halb zerfetzten Fahrzeugs vielleicht noch für die notwendigen Reparaturen gebrauchen.
Ferris Tucker brauchte keine Hilfe, um die ausgemergelte, zerlumpte Gestalt an Bord zu schaffen.
Der Bursche war nicht bewußtlos, aber er war auch nicht bei klarem Verstand. Seine aufgerissenen, brennenden Augen starrten ins Leere und schienen nicht wahrzunehmen, was um ihn geschah. Eben noch, als er an seine gekenterte Nußschale geklammert auf die „Isabella“ zugetrieben war, hatte er sich wenigstens zu einem matten Winken aufgerafft. Jetzt schien ihn der letzte Funke von Kraft verlassen zu haben. Der Himmel mochte wissen, wie lange er schon in dem kleinen Boot getrieben war, bevor die Ausläufer des Sturms ihn erwischten.
Vorsichtig ließ Tucker den Mann auf die Planken der Kuhl gleiten und lehnte ihn mit dem Rücken gegen das Schanzkleid. Der hünenhafte Schiffszimmermann fuhr sich mit allen fünf Fingern durch das brandrote Haar und blickte auf das jämmerliche Bündel Mensch hinunter. Ed Carberry kratzte sein zernarbtes Rammkinn, schüttelte den Kopf und holte Luft, daß sich sein mächtiger Brustkasten dehnte.
„Kutscher!“ brüllte er, ehe Hasard etwas sagen konnte. „Komm her, du lausiger Quacksalber! Es gibt Arbeit!“
„Arbeit habe ich, auch ohne daß du großmäuliger Decksaffe …“ Der Kutscher verstummte abrupt.
Mit einer riesigen gußeisernen Pfanne in der Faust stand er im Kombüsenschott und riß die Augen auf. In seinem Allerheiligsten sah es aus, als hätte eine Horde Gorillas mit einem Elefanten gekämpft, daher war ihm im Eifer des Gefechts entgangen, was sich inzwischen abgespielt hatte. Jetzt starrte er verblüfft auf die Szene, wollte sich am Kopf kratzen und schlug sich dabei fast selbst die Bratpfanne um die Ohren.
„Klapp den Mund zu, bevor du dir den Gehirnkasten erkältest“, knurrte Carberry. „Der Kerl hier hat den Sturm in ’ner Nußschale abgeritten. Sieh nach, was die Wasserhose von ihm übriggelassen hat, aber ein bißchen plötzlich.“
Normalerweise war der Kutscher nicht auf den Mund gefallen, auch wenn er sich gelegentlich etwas gewählter ausdrückte als die anderen. Dem Arzt Sir Freemont aus Plymouth, bei dem er Kutscher gewesen war, bevor ihn eine Preßgang auf Francis Drakes „Marygold“ verschleppte, hatte er nicht nur einiges über die Wundbehandlung, sondern auch feine Manieren abgeschaut, die er dann allerdings rasch vergaß, weil sie nicht recht für salzgewässerte Schiffsplanken taugten. Jetzt besann er sich sichtlich auf seine Würde als höchste medizinische Instanz an Bord. Wo es darum ging, Blessuren zusammenzuflicken und Halbtote wieder auf die Beine zu bringen, da hatte er das Sagen – und da mußte notfalls sogar der eiserne Profos den Mund halten.
Der Kutscher besah sich die reglose, ins Leere starrende Elendsgestalt am Schanzkleid und gab nicht zu erkennen, daß auch ihm die Totenkopf-Physiognomie des Burschen unheimlich war.
„Hol mal die Rumflasche und den kleinen braunen Lederbeutel aus der Kombüse, Ed“, sagte er sanft. „Und bring auch gleich eine Muck mit, ja?“
„Du hast wohl einen Furz im Hirn, du …“
„Ed!“ sagte Hasard nur.
Der Profos schnaufte erbittert. Immerhin sah er ein, daß der Umgang mit der Rumbuddel aus den Geheimvorräten des Kutschers eine verantwortungsvolle Aufgabe war, die durchaus der moralischen Standfestigkeit des Zuchtmeisters bedurfte. Mindestens ein halbes Dutzend Männer hatten sich schon gestrafft, um sich freiwillig zu melden, Garantiert in der edelmütigen Absicht, die Qualität des Rums zu prüfen, bevor man den bedauernswerten Schiffbrüchigen damit traktierte.
Ed Carberry hielt das ebenfalls für eine ausgezeichnete Idee. Allerdings konnte er sie jetzt nicht mehr reinen Gewissens in die Tat umsetzen, da er sich sozusagen selbst durchschaut hatte. Fluchend und brummend verschwand er in der Kombüse, während der Kutscher neben dem Schiffbrüchigen niederkniete und ihn leicht an der Schulter rüttelte.
Der Mann reagierte nicht.
Seine dunklen, brennenden Augen waren weit aufgerissen, der seltsam starre Blick schien durch alles hindurchzugehen. Dicht vor diesen unheimlichen Augen schnippte der Kutscher mit den Fingern und nickte nachdenklich, als sich die Pupillen sekundenlang verengten.
„Blind ist er nicht“, stellte er fest, „aber halb verdurstet. Wahrscheinlich hat ihn die Sonne verrückt gemacht.“
„Du meinst, er hat den Verstand verloren?“
Der Kutscher nickte zögernd. Hasard starrte in das ausgemergelte Gesicht, dessen verbrannte Haut sich wie dunkles, brüchiges Pergament über den Knochen spannte. Der Mann starrte ins Leere. Und da die tiefe rote Narbe seine Oberlippe nach oben zog und die Zähne freilegte, sah es aus, als liege auf seinen Zügen ein ständiges teuflisches Grinsen, das der völlige Mangel an Ausdruck um so unheimlicher wirken ließ.
„Ein Jonas!“ flüsterte Blacky schauernd.
Hasard fuhr herum. Er sah gerade noch, wie sich Smoky, Decksältester und abergläubischster Mann der Crew, verstohlen bekreuzigte. Old Donegal Daniel O’Flynn spuckte über die Schulter und scharrte angelegentlich mit seinem Holzbein, als er den Blick des Seewolfs spürte. In Hasard war schlagartig wieder die Erinnerung an den Ärger mit dem unheimlichen „Jonas“ in der Karibik wachgeworden, und der Gedanke, daß ihnen etwas Ähnliches bevorstehen könne, ließ seine eisblauen Augen gefährlich glitzern.
„Blacky, Smoky“, sagte er scharf. „Wenn ich noch einmal das Wort Jonas höre, wird der Bursche tatsächlich Unglück bringen. Nämlich demjenigen, der sein