Seewölfe - Piraten der Weltmeere 168. Kelly Kevin
Augenblick fauchte eine heftige Bö über das Wasser. Das Boot wurde ruckartig angehoben, Hasard junior verlor das Gleichgewicht, und einer der Riemen entglitt ihm, als er sich am Dollbord festhielt. Die Kokosnuß erlitt das gleiche Schicksal.
Das Boot drehte sich um sich selbst, wurde ein Stück abgetrieben und verschwand wieder im Nebel. Wind und Strömung versetzten es in ziemlich schnelle Bewegung, und die Männer, die eben noch über den Kinderstreich gelacht hatten, verstummten erschrocken.
„Hierher!“ schrie Hasard. „Pullt auf das Schiff zu! Schnell!“
Keine Antwort.
Der Seewolf biß sich auf die Lippen. Er wußte, wie schwer es war, in diesem Nebel irgend etwas wiederzufinden, wenn man erst einmal die Orientierung verloren hatte. Die anderen wußten es ebenfalls und begannen, mit voller Lungenkraft die Namen der Zwillinge zu rufen.
Vergeblich.
Genauso vergeblich wie der Klang der Schiffsglocke, die der Seewolf läuten ließ. Der Nebel verzerrte auch diese Geräusche. Ohne Kompaß war es nicht einmal möglich, die Himmelsrichtung zu bestimmen. Und ob die beiden Jungen bewußt wahrgenommen hatten, daß der Wind von der „Isabella“ aus gesehen achterlich einfiel und sie ihn demnach von Backbord bekommen mußten, wenn sie zurückpullen wollten, das war fraglich.
„Denen zieh ich die Haut vom Hintern!“ wütete Carberry.
„Vergiß es nicht“, sagte der Seewolf düster. „Bei Nebel mit einem Beiboot herzuschippen, das ist …“
„Da!“ schrie der alte O’Flynn im selben Augenblick.
Er stand dicht am Schanzkleid. Mit seiner Krücke wies er nach Steuerbord in den Nebel, dessen dichte Schwaden immer wieder vom auffrischenden Wind auseinandergetrieben wurden. Aber es war nicht das Boot mit den Zwillingen, das er gesichtet hatte.
Es war das Geisterschiff.
2.
Wie ein Spuk glitt es durch den Nebel.
Die schwarze Flagge flatterte. Fahl schimmerten die leicht geblähten Segel: gelbliche Fetzen, die der Galeone kaum Fahrt gaben, sie aber um so unheimlicher wirken ließen und vollends an ein Totenschiff erinnerten, dessen Besatzung längst dahingerafft war.
Bei der ersten Begegnung, erinnerte sich Hasard, war der Kahn besser besegelt gewesen. Da hatte er ja auch die „Isabella“ kapern wollen. Jetzt wollte er vermutlich nichts anders, als jedem, dem er begegnete, einen heiligen Schrecken einzujagen.
Hasard biß die Zähne zusammen.
Der Gedanke, daß seine Söhne irgendwo dort draußen mit dem Boot herumirrten, krampfte seine Magenmuskeln zusammen. Wenn es der verdammten Galeone einfiel, sie anzugreifen, war die Hölle los.
Nein, sie glitt vorbei.
Niemand ließ sich an Deck sehen, auch der Rudergänger war nicht zu erkennen. Schon schlossen sich die Nebelschwaden wieder. Die „Geister“ dieses Schiffs kämpften nur gegen Gegner, die vor Angst fast den Verstand verloren. Und an die „Isabella“ mußten sie sich erinnern: die Seewölfe hatten ihnen schon einmal gezeigt, daß sie bereit waren, auch ein Totenschiff mit einem Kugelhagel zu empfangen.
Aber wenn die Kerle auf ein Boot mit zwei Kindern stießen …
Hasard ballte die Hände. Von der Galeone mit der schwarzen Flagge war nichts mehr zu sehen. Immer noch hallte die Schiffsglocke: dumpfe, eigentümlich verzerrte Töne, die sich im Nebel verloren und sicher nicht besonders weit reichten.
„Fiert die Beiboote ab!“ knirschte Hasard. „Ed, nimm den Handkompaß mit. Wir bleiben auf Rufweite in Verbindung und bilden eine Kette.“
„Aye, aye, Sir. Abfieren, ihr müden Säcke! Habt ihr Bohnen in den Ohren, was, wie? Hopphopp, ihr Heringe, oder ich zieh euch die Haut ab!“
Das erste Boot klatschte bereits aufs Wasser.
Hasard wollte sich gerade über das Schanzkleid schwingen und abentern, als Dan O’Flynn, der die schärfsten Augen der Crew hatte, einen triumphierenden Schrei ausstieß.
„Das Boot! Da sind sie!“
Wie ein Schemen tauchten die Umrisse des Fahrzeugs aus dem Nebel.
Hasard junior tauchte den verbliebenen Riemen abwechselnd an Backbord und Steuerbord ein. Philip hielt die Hand hoch und befeuchtete ab und zu seinen Finger mit der Zunge. Der Wind hatte sich mit den wenigen kräftigen Böen schon wieder erschöpft und war nur noch ein schwaches Säuseln. Aber er war immerhin spürbar, und die Zwillinge hatten ihn als einzige Orientierungshilfe in dem weißen Gewoge benutzt.
Sie waren beide ziemlich blaß um die Nasenspitzen.
„Das Geisterschiff!“ rief Philip von unten. „Die Galeone der Toten! Wir haben sie gesehen!“
„Wir auch, ihr grünen Heringe!“ schnauzte Carberry. „Stenmark! Blacky! Hievt doch endlich das verdammte Boot wieder hoch, zum Henker!“
Die Taljen knirschten.
„Wahrnehmen!“ brüllte der Profos, als das erste Beiboot an seinem Platz lag und die Trossen wieder abgefiert wurden. „Aufentern, ihr abgebrochenen Riesen, oder habt ihr vielleicht weiche Knie, was, wie?“
Die Zwillinge hatten sichtlich keine Lust, je im Leben wieder aufzuentern, vor allem nicht, solange der Profos da oben stand wie das leibhaftige Unheil. Aber daß sie weiche Knie hatten, wollten sie sich nun auch nicht nachsagen lassen. Also enterten sie auf. Gar nicht eilig. Und die Art, wie sie über das Schanzkleid kletterten, sah auch danach aus, als klebten ihnen Klötze an den Füßen.
„Das Geisterschiff …“, begann Hasard junior.
„Wir haben es gesehen“, sagte Hasard senior sanft.
Diese besondere Art von Sanftheit kannten sie, die war gefährlich. Kunststück! Sie hatten einen Riemen der See geopfert, waren beinahe im Nebel verlorengegangen und hatten das ganze Schiff in Aufruhr versetzt, ganz zu schweigen von dem Streich, den sie jetzt gar nicht mehr so lustig fanden wie vorher. Das Segeltuch, das dem „Nebeldämon“ als Kutte gedient hatte, war auch beim Teufel, fiel dem kleinen Hasard ein. Und sein Bruder dachte daran, daß die Kokosnuß geklaut gewesen war und der Kutscher das unter Umständen glatt als Mundraub auslegen konnte.
„Verdammt“, murmelte Smoky. „Diesmal sah der Kahn aber wirklich wie ein Totenschiff aus mit all den zerfetzten Segeln.“
„Jedenfalls schaffen sie es damit nicht weit“, brummte Will Thorne, der weißhaarige Segelmacher. „Da können sie genausogut Bettsäcke setzen.“
„Klar!“ Stenmark nickte. „Wir könnten sie mit Leichtigkeit einholen und …“
„Und sie im Nebel rammen?“ fragte der Seewolf. „Oder auf ein Riff laufen? Ganz abgesehen davon, daß der Wind schon wieder einschläft, falls dir das entgangen sein sollte?“
Die Zwillinge wechselten einen vorsichtigen Blick.
Verblüfft stellten sie fest, daß wenigstens im Augenblick nicht von ihrer Untat die Rede war. Auch der Kutscher mischte sich ein: Wenn sie noch lange bekalmt hier herumlägen, erklärte er, werde es mit Wasser und Vorräten zu Ende gehen, so daß sie erst einmal die nächste Küste anlaufen müßten. Hasard zuckte nur mit den Schultern. Die Küste mit ihren Riffen war auf jeden Fall nicht ungefährlich und außerdem ziemlich öde, das wußten sie alle.
Die Zwillinge wechselten noch einen Blick.
Philip flüsterte seinem Bruder etwas zu. Der seufzte und nickte.
„Verdammich“, sagte er laut und deutlich. „Wann gibt’s denn nun endlich Dresche?“
Der Seewolf hob die Brauen. „Ihr seid wohl wild drauf, was?“
„Nee. Aber je früher wir’s hinter uns haben, desto besser.“
Auch ein Standpunkt, dachte Hasard und