Seewölfe Paket 10. Roy Palmer
los und melde es ihm!“
Brassens verzog sein grobes, gerötetes Gesicht zu einer Grimasse, wandte sich nun aber doch von dem Baum ab und verließ die kleine Lichtung. Er rannte durch den Busch in das große Dorf der Insulaner hinunter und erreichte es bereits nach kurzer Zeit, denn die Entfernung zwischen der Eingeborenensiedlung und dem Aussichtspunkt auf dem Hügel betrug kaum mehr als fünfhundert Yards.
„Louis!“ rief er. „Louis, es gibt Neuigkeiten!“
Louis war mit seinen sieben Begleitern erst vor kurzem eingetroffen, und sie hatten alle acht einen mehr als niedergeschlagenen Eindruck gemacht. Louis hatte unverzüglich einen Vergeltungsschlag gegen die Engländer führen wollen, aber seine Männer hatten ihm gesagt, daß die Arbeiten an der „Saint Croix“, die durch die Riesenwelle nicht unerheblich beschädigt worden war, noch nicht ganz abgeschlossen waren, und das hatte seine Wut und seinen Haß nur noch verstärkt.
Er brauchte das Schiff, um sich an dem Schwarzhaarigen und dessen Teufelscrew rächen zu können. Wie sollte er die Galeone denn sonst angreifen? Mit den Auslegerbooten der Eingeborenen etwa? Das wäre Selbstmord gewesen. Die Engländer hätten mit ihren Kanonen ein Zielschießen auf die Boote veranstaltet.
Aus mehr als dreißig geräumigen Hütten bestand das Dorf, und rundherum hatte Zegú im Laufe der vergangenen sechs Jahre vorsichtshalber eine Palisade errichten lassen – auf Anraten von Thomas Federmann hin, der die dumpfe Ahnung gehabt hatte, daß man früher oder später wohl doch mit weiteren Besuchern rechnen mußte, die sicherlich nicht so kameradschaftlich auftreten würden wie die Seewölfe, sondern eher das verbrecherische Format eines Ciro de Galantes haben würden. Vorsorge hatte deshalb not getan, aber Masot, Louis und die anderen Karibik-Piraten hatten dann doch keine großen Schwierigkeiten gehabt, die Eingeborenen zu überwältigen.
Die Palisade empfanden die Freibeuter ihrerseits nun sogar als große Hilfe, denn sie hatten die Gefangenen mühelos einsperren können und brauchten nur das große Tor an der Westseite zu bewachen. Hin und wieder patrouillierten sie auch an der Einfriedung entlang ganz um das Dorf herum, aber bislang hatte noch keiner der Insulaner versucht, aus dem eigenartigen Verlies zu fliehen.
Louis stand bei den anderen Piraten vor dem großen Tor und fuhr in diesem Moment zu Brassens herum. „Schrei nicht so herum, du Narr, fuhr er den dicken Piraten an.
Brassens lief auf die Gruppe von Kumpanen zu, blieb schwer atmend vor Louis stehen und erklärte: „Sie verziehen sich. Ja, sie segeln wirklich davon. Maurice meinte, das würde dich freuen und …“
„Davon?“ wiederholte Louis scharf. „Das glaubt ihr doch selbst nicht. Ihr seid ja verrückt.“
„Maurice hat es gesagt. Und Maurice ist der beste Ausguck, den wir haben“, verteidigte sich Brassens.
„Maurice, Maurice“, äffte Louis ihn nach. „Ich will das selbst sehen. Du bleibst hier, ich laufe den Hügel hinauf.“
Er wartete keine Bestätigung ab. Leicht geduckt hastete er den Pfad entlang, den sie hier bereits vorgefunden, in diesen zehn Tagen auf der Insel jedoch immer wieder vom wuchernden Unkraut hatten befreien müssen. Der Aussichtspunkt auf der kleinen Lichtung der Hügelkuppe war also schon von den Eingeborenen als solcher benutzt worden – und eigentlich gab es so nah beim Dorf auch keinen besseren Ort, von dem aus man einen so weitreichenden Ausblick hatte: bis zur Bucht und über deren gesamten Strand hinweg zwei, drei Meilen nach Norden und nach Süden, außerdem im Inneren der Insel bis zum gewaltigen, schneebedeckten Zwillingsgipfel hinauf. Es war erstaunlich, wie viele Details man von hier aus sah.
Louis langte bei dem knorrigen Baum an, auf dem Maurice nach wie vor in unveränderter Haltung thronte. Er sprach kein Wort, kletterte zu dem Kumpan hinauf, nahm ihm den Messingkieker ab und spähte selbst hindurch.
Die Galeone der Engländer lag nicht mehr in der Bucht vor Anker! Es stimmte also! Louis mußte erst nach ihr suchen. Er entdeckte sie im Süden der Bucht wieder. Sie segelte auf Steuerbordbug liegend mit Backbordhalsen dahin und schien gute Fahrt zu machen. Ihr Bug teilte die See wie eine Pflugschar, die sich energisch durch schwere, fettige Marscherde grub.
„Gleich verschwindet sie hinter der Landzunge“, sagte Maurice. „Na schön, wir haben den Hurensöhnen keins mehr überbraten können, aber vielleicht ist es besser so. Was meinst du, Louis?“
„Schweig.“
„Hör mal, du …“
„Du sollst still sein“, herrschte der Blauäugige ihn an. „Merkst du denn nicht, daß es ein elender Trick von den Hunden ist? Sie führen uns an der Nase herum. Will dir das nicht in den Kopf?“
„Willst du damit sagen, sie runden die Insel, gehen woanders an Land und fallen uns so in den Rücken? Unmöglich – die Insel ist zu groß dafür. Sie würden sich hoffnungslos im Bergland verirren.“
„Halt doch endlich den Mund“, zischte Louis. „Ich kann dein dämliches Gerede nicht mehr ertragen. Der Schwarzhaarige ist schlau wie ein Luchs. Der hat sich schon was Brauchbares ausgedacht, um uns noch einmal überfallen zu können.“
„Aber was?“
„Was, was! Wenn ich das wüßte! Da, jetzt schiebt sich die verfluchte Landzunge zwischen uns und das Schiff. Der Teufel soll sie holen! Was jetzt?“
Maurice hielt sich mit der linken Hand an einem steil aufragenden Ast fest und musterte seinen Anführer aus schmalen Augen. „Wir können nur einen Späher ’runterschicken, der bis zur Landzunge läuft. Eine andere Wahl haben wir nicht, wenn wir die Galeone noch weiter beobachten wollen.“ Er rechnete damit, daß Louis ihn wieder anschreien würde, aber diesmal reagierte der andere erstaunlich ruhig.
„Ja. Du hast recht. Doch warten wir noch eine Weile. Ich hab da so einen Verdacht.“
Maurice fragte nicht danach, um was für einen Verdacht es sich handelte. Er schwieg, harrte neben seinem Kapitän aus und behielt die See nahe der Landzunge im Auge.
Kurze Zeit später erblickte Louis die Dreimast-Galeone von neuem. Er stieß einen Fluch aus, drehte an dem Messingkieker herum und reichte ihn dann Maurice. Maurice blickte ebenfalls durch die Optik und sah in dem schwarzgerahmten Kreis die Umrisse des Schiffes.
„Hol’s der Henker“, wetterte er los. „Jetzt läuft sie platt vor dem Wind nach Westen ab. Was, in aller Welt, hat denn das jetzt zu bedeuten? Erst nach Süden, dann nach Westen – das ergibt doch keinen Sinn.“
„Er will uns irreführen, der schwarzhaarige Bastard.“
„Das schafft er nicht.“
„Er überschätzt sich diesmal selbst“, sagte Louis mit heiserer Stimme. „Er kann mich nicht überlisten. Ich habe es gelernt, ihn zu beurteilen. Er ist ein kaltblütiger, hinterhältiger Dreckskerl, aber was ihm einmal gelungen ist, das gelingt ihm nicht wieder. Ich schwör’s dir, Maurice. Lieber sterbe ich, als daß ich so eine Schmach noch einmal ertrage.“
„Ja! Da, der Hund luvt an!“
„Was? Welchen Kurs nimmt er?“
„Norden …“
„Gib mir den Kieker.“ Louis griff schon nach dem Rohr, entriß es seinem Landsmann, hob es ans Auge und starrte mit einer bitteren Verwünschung auf den Lippen hindurch. „Satan“, murmelte er dann. „Verrecken sollst du. Ist denn das zu fassen? Er segelt immer weiter nach Norden ’rauf, aber ich habe den Eindruck, er geht höher und höher an den Wind, um sich wieder der Küste zu nähern.“
Ja, noch war die Galeone ein bräunlicher Fleck vor der blaß schimmernden Kimm, aber allmählich vergrößerten sich ihre Konturen wieder. Tollkühn war dieses Manöver, das mußte selbst Louis dem Engländer lassen, denn höher hätte sich auch der beste Kapitän mit einem Rahsegler wie diesem nicht an den Ostwind gewagt. Jeden Augenblick konnten die Segel zu killen beginnen und der Besatzung um die Ohren knallen, aber das schien dem Schwarzhaarigen egal zu sein.
„Mon Dieu“, stammelte Louis plötzlich.
„Was