Seewölfe - Piraten der Weltmeere 457. Burt Frederick
auf der anderen Seite – mit seiner verkniffenen, finsteren Miene, die nichts Gutes verhieß. Noch hatte er die Macht, noch war er der Stärkere. Und doch mußte er begreifen: Nur ein winziger Zündfunke genügte, daß sich die Männer auf ihn und die Offiziere stürzten und ihnen den Hals umdrehten. Die Ungeheuerlichkeit, die sich de Moncayo erlaubt hatte, war mehr als genug für einen solchen schwerwiegenden Entschluß.
„Ich stelle meine Frage nicht zweimal“, sagte de Moncayo zornbebend. „Wenn ich nicht auf der Stelle eine Antwort erhalte, werden eben alle bestraft. Ausnahmesituationen sind kein Vorwand für Disziplinlosigkeit. Wohin soll es führen, wenn …“
Der Erste Offizier war es, der ihm behutsam ins Wort fiel und damit auch den Zündfunken zum Erlöschen brachte.
„Verzeihen Sie, Señor Capitán, aber ich möchte dringend empfehlen, diese Angelegenheit später an Land zu klären. Vielleicht wird es das beste sein, eine Untersuchung einzuleiten. Aber im Augenblick scheint mir vordringlich zu sein, daß wir das Ufer erreichen. Ich gebe zu bedenken, daß wir uns noch immer in Reichweite der verfluchten Piratenbande befinden.“
De Moncayo nickte verbissen. Der Erste hatte recht. Es war höchst überflüssig, den Kopf zu wenden und sich vom Stand der Dinge zu überzeugen. Don José wußte, daß er den Anblick nicht ertragen würde. Diese elenden Kerle auf der dreimastigen Karavelle und dem finster aussehenden Zweidecker verstanden ihr niederträchtiges Handwerk. Es war eine Schande, daß man zu schwach gewesen war, um sie mit Stumpf und Stiel zu vernichten.
Don José wandte sich dem Ersten Offizier zu, ohne ihn anzusehen.
„Lassen Sie weiterpullen. Aber ein bißchen plötzlich, wenn ich bitten darf.“
„Pullt, Männer!“ rief der Erste. Die Art seines Tonfalls und seine versöhnliche Miene zeigten, daß er nicht unbedingt mit dem Verhalten des Kapitäns einverstanden war, sich aber andererseits nicht gegen die geltenden Maßstäbe der Disziplin wenden konnte.
Die Männer fügten sich. Nur zu gut wußten sie, daß die hochwohlgeborenen Señores letzten Endes doch immer die Stärkeren blieben. In diesem Fall war es sogar vordergründig zu erkennen. Ihnen, den unbewaffneten Decksleuten, saßen vier Offiziere und der Capitán gegenüber – mit ihren kostbar ziselierten Pistolen in den Gurtfutteralen. Wenn man davon ausging, daß de Moncayos Pistole zwei Läufe hatte und die anderen vier jeweils einschüssige Waffen besaßen, dann würde es gleich zu Beginn einer Auseinandersetzung sechs weitere Tote geben. Außerdem hatten die Señores immer noch ihre Dolche.
Nein, es war absolut aussichtslos. Die Autorität der Schiffsführung war unbezwingbar, auch jetzt, da es das Schiff nicht mehr gab.
Don José de Moncayo hatte den Zwischenfall unterdessen schon fast wieder vergessen. An den Ertrunkenen, der seinem Wutausbruch zum Opfer gefallen war, verschwendete er keinen Gedanken mehr. Er tauchte in jene dumpfe geistige Abwesenheit, in die er seit dem Untergang der „San Jorge“ verfallen war. Es war ein Zustand tiefer Niedergeschlagenheit und Hoffnungslosigkeit, aus dem ihn der kalte Wasserguß so unsanft herausgerissen hatte.
Don José befand sich in einem Zwiespalt, aus dem er sich mit eigener seelischer Kraft nicht zu lösen vermochte. Und er glaubte nicht daran, daß es überhaupt jemanden gab, der ihm noch helfen konnte. Wenn er dies auch in einem Winkel seiner Gedanken als einen sicherlich nur vorübergehenden Trübsinn erkannte, so empfand er den Zwiespalt doch als unüberwindlich.
Da verfluchte er auf der einen Seite die Piraten, weil sie den Geleitzug von zehn Frachtgaleonen und die Kriegsgaleone „San Jorge“ überfallen hatten.
Doch auf der anderen Seite war er beinahe froh, daß die „San Jorge“ gesunken war. Letzteres galt allerdings nur begrenzt, denn wenn er sein Schicksal als Schiffbrüchiger überdachte, stieg ihm wieder die Galle hoch.
Sicher war es nur von Vorteil, wenn der Gefangene im Kabelgatt der Galeone auf Nimmerwiedersehen in der Tiefe der See verschwunden war. Dadurch erledigten sich eine Menge Probleme von selbst. Ein Piratenüberfall war in diesen bewegten Zeiten glaubhaft, und ebenso einleuchtend war daher, daß Don Juan de Alcazar durch tragische Umstände den Tod gefunden hatte. Man würde geeignete Möglichkeiten finden, die Nachricht dergestalt nach Spanien zu übermitteln, daß dort bei Hofe nur jene Wahrheit laut wurde, die für königliche Ohren geeignet war.
Don José grinste bei dieser Überlegung. Natürlich funktionierten seine Verbindungen bestens. In der Beziehung waren keinerlei Schwierigkeiten zu erwarten. Ebenjene Verbindungen hatten schließlich überhaupt dazu geführt, den Hundesohn de Alcazar kaltzustellen.
Andererseits gab es einen Wermutstropfen, dessen bitterer Geschmack nicht aus Don Josés Kehle weichen wollte.
Don Antonio de Quintanilla wußte von nichts.
Das war der jetzige Stand der Dinge. Der Gouverneur von Kuba hatte nicht die leiseste Ahnung, daß dieser de Alcazar mit einem Sonderbefehl des Königs in Marsch gesetzt worden war, um ihn, Don Antonio, des Amtes zu entheben, zu verhaften und nach Spanien zu bringen. Welches traurige Schicksal dem Lebensgenießer Don Antonio dort blühen würde, brauchte man nicht erst auszumalen. Der König war nicht zimperlich in der Behandlung jener, die bei ihm in Ungnade fielen.
Da Don Antonio von der ihm drohenden Gefahr nichts wußte, wäre es eine gelungene Überraschung gewesen, ihm den Sonderbeauftragten Seiner Majestät gewissermaßen auf einem Silbertablett zu servieren.
Kuba war fremdartig und unergründlich. Ein Mensch konnte dort für immer verschwinden, ohne daß jemals etwas bekannt wurde. Zweifellos hätte es Don Antonio geschickt verstanden, sich des Widersachers de Alcazar ein für allemal zu entledigen. Und niemals wäre etwas darüber nach Madrid durchgedrungen. In der Neuen Welt waren solche Fälle nichts Ungewöhnliches. Oft genug passierte es, daß im Mutterland Namen auf die Vermißtenliste gesetzt wurden.
Neben der Überraschung für Don Antonio gab es einen weiteren wichtigen Punkt, der den bitteren Nachgeschmack für Don José verstärkte.
Zwischen ihm und dem Gouverneur bestanden sehr gute persönliche und geschäftliche Beziehungen – zu beiderseitigem Nutzen. Don José war sich darüber im klaren, daß er den Erwerb seiner Besitztümer in Spanien nicht zuletzt auch der hervorragenden Zusammenarbeit mit Don Antonio de Quintanilla zu verdanken hatte. So wäre dieses gute Verhältnis durch die Übergabe de Alcazars nur noch verbessert worden. Don Antonio wäre ihm sozusagen zu ewiger Dankbarkeit verpflichtet gewesen.
De Moncayo rieb sich den Kinnbart mit der linken Hand. Sicher, er hätte dann für sich in Anspruch nehmen können, dem Gouverneur von Kuba das Verbleiben im Amt und damit das zukünftige Wohlergehen gesichert zu haben.
Nun war zwar die Gefahr für Don Antonio gebannt.
Aber wie sollte man ihm darlegen, daß diese Gefahr überhaupt bestanden hatte?
Sicherlich wußte er nur zu gut über die Schnüffeleien de Alcazars Bescheid. Daß der Mann aber den bewußten Spezialauftrag vom König erhalten hatte, war von Kuba aus nicht nachprüfbar. Also war dies nur eine Behauptung, die sich nicht einmal beweisen ließ.
Don José de Moncayo konnte sich der Ahnung nicht entziehen, daß Don Antonio ihn für einen Aufschneider und Wichtigtuer halten würde – für einen, der um seine Gunst warb und sich dazu sogar des Mittels ersonnener Geschichten bediente.
Don José sah seine Offiziere unauffällig aus den Augenwinkeln heraus an. Sollte er einen von ihnen als Zeugen benennen, damit er dem Gouverneur gegenüber lediglich das Vorhandensein des Gefangenen im Kabelgatt bestätigte? Zweifellos würde sich Don Antonio davon beeindrucken lassen und keinen Anlaß haben, ihm, Don José, keinen Glauben zu schenken.
Es half alles nichts: Auf der einen Seite war es in höchstem Maße bedauerlich, de Alcazar in Havanna nicht vorführen zu können.
Auf der anderen Seite konnte man nur froh sein, daß der Hundesohn nicht mehr am Leben war.
Don José de Moncayo wußte beim besten Willen noch nicht, wie er mit seiner inneren Zerrissenheit fertig werden sollte. Ganz abgesehen davon, daß er sich auch noch als Schiffbrüchiger auf dem Landweg durchschlagen